Seasons von Kunoichi (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 5: [Winter] Eingeschneit (Slice of Life) ------------------------------------------------ Wir sahen einander an. Es mussten schon geschlagene zehn Minuten vergangen sein, seit ich in die Küche gekommen war und trotzdem hatte meine Mutter kein einziges Wort gesagt. Sie kannte mich und sie wusste, dass ich explodieren würde, wenn sie jetzt wagte nachzuhaken. Keine Ahnung, ob sie das an meinem Blick sah, aber sie kannte mich eben. Die Teekanne pfiff in lauten, schrillen Tönen und gab erst Ruhe, als meine Mutter aufstand, sie vom Herd nahm und ihren Inhalt in zwei ungleiche Becher goss. Dann kehrte die Frau zum Küchentisch zurück und nahm wieder ihren Platz mir gegenüber ein. Schweigend reichte sie mir eines der Gefäße und nippte anschließend an dem anderen, während sie mich über den Becherrand abschätzend beäugte. Ihre Iris hatte das gleiche Grün wie meine. „Sie ist nicht hier gewesen, oder?“, brach ich endlich die Stille und schloss meine, noch immer verfrorenen Hände um den heißen Tee. „Wer denn?“ Die Frage meiner Mutter kam einer Provokation gleich, denn sie wusste genau, wen ich meinte. Einen Moment zögerte ich und wollte überhaupt nicht antworten. „Ino“, entgegnete ich dennoch, unterdrückte die Wut und verkniff mir, ein forsches „natürlich“ hinterher zu werfen. Es wunderte mich nicht, als meine Mutter daraufhin den Kopf schüttelte. „Wart ihr verabredet?“ Verabredet? Ja, zumindest ich hatte das bis vor einer Stunde noch geglaubt. Es wäre unser erstes Treffen seit mehreren Wochen gewesen, doch meine beste Freundin war nicht erschienen und ich hätte es eigentlich ahnen müssen. Vielleicht war das einer der Gründe, warum der Zorn in meinem Bauch so brodelte. An Inos Zuspätkommen hatte ich mich gewöhnt und auch daran, dass sie mir kurz vorher absagte, weil ihr etwas dazwischen gekommen war. Das passierte in letzter Zeit nämlich sehr häufig. Da war es doch schon vorhersehbar gewesen, dass sie mich irgendwann versetzte, ohne sich zu melden. Ich war eine Idiotin! „Sie ist nicht gekommen“, erklärte ich mit gezwungener Ruhe. Meine Mutter öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn dann aber im nächsten Moment wieder und widmete sich erneut ihrem Früchtetee. Richtig so, denn schlechten Trost konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Wir hatten die letzten Wochen unzählige Gespräche geführt und ich hatte mich oft genug beschwert, aufgeregt und immer wieder bei ihr ausgeheult. Mittlerweile war ich sicher, dass sie das leidige Thema nicht mehr hören konnte und ihr auch kein neuer Ratschlag mehr dazu einfiel. Es sei eine Phase und das würde sich wieder geben, bekam ich genauso zu Ohren wie, ich solle mich nicht so anstellen oder endlich mal Klartext reden. Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Mutter würde mich und meine Sorgen verstehen und dann schaffte sie es kurz darauf immer wieder, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ihre Ratschläge waren vielleicht gut gemeint, aber… Wortlos erhob ich mich und verließ mit meinem vollen Becher die Küche. War meine Mutter froh, dass ich ging, ohne mich vorher über Ino auszulassen? Hielt sie mich nicht auf, weil sie kein Salz in die Wunde streuen wollte? Ich wusste es nicht, doch zumindest sah sie mir nicht nach, bis ich die Tür leise hinter mir zugleiten ließ. Im Flur war es stockfinster und wirkte wie tiefste Nacht, obwohl die grünen Leuchtziffern auf dem Schränkchen neben der Haustür mir erst fünf Uhr nachmittags anzeigten. Dem gegenüber hing mein Mantel an der Garderobe und erweckte den Eindruck einer unförmigen, über dem Boden schwebenden Gestalt, die glänzte und tropfte. Meine nassen Winterstiefel standen darunter. So warm sie auch sein mochten, hatte ich doch jedes Mal, wenn ich sie trug, kalte Füße. Vorhin war es nicht anders gewesen. Seufzend wandte ich mich ab und folgte dem dunklen Flur. Ich kannte jeden Winkel dieses Hauses, indem ich schon seit meiner Geburt lebte, und stieg die steile Treppe empor, ohne das Licht einschalten zu müssen. Erst in meinem Zimmer ließ ich mich von der Deckenlampe blenden. Der Raum war nicht groß, recht schlicht gehalten und mit weniger Verzierungen und Dekorationen ausgestattet, als andere Mädchen hatten. Er war aber dennoch durch warme, rote Töne harmonisch, gemütlich und stets aufgeräumt. Mir reichte der Platz. Langsam ging ich auf mein Bett zu, ließ mich darauf sinken und stellte den Tee auf dem niedrigen Nachtschrank ab. Dabei fiel mir ein aufgeschlagenes Buch über medizinische Formeln auf, das mich an meine Pflicht zu lernen erinnerte. Tsunade war eine strenge Meisterin und sie würde sofort merken, wenn ich nachlässig geworden war. Allerdings war mir im Moment nicht danach zumute, auch nur eine Zeile zu lesen, geschweige denn, sie mir zu merken. Mein Blick wanderte zum Fenster und für eine Weile beobachtete ich die vielen kleinen weißen Flocken, die aus dem Himmel zu mir hinabtrudelten und vor der Scheibe tanzten. Den ganzen Tag lang hatte es immer mal wieder gerieselt, doch durch zwischenzeitlichen Regen war bisher nichts außer Matsch auf den Straßen liegen geblieben. Ich bedauerte das, denn Schnee hatte für mich etwas Beruhigendes und Sanftes; etwas Heiliges. So weich und lautlos legte er sich nieder, verdichtete die Stille und tauchte die düstere Jahreszeit in ein helles Licht. Gerade jetzt, wo es auf das Weihnachtsfest zuging, das in fünf Tagen stattfand, hatte ich mir vom Wetter wesentlich mehr erhofft. Aber eventuell konnte das ja noch werden. Ich stand wieder auf, zog die schweren Vorhänge zu und hielt sie plötzlich fest, als würden sie von allein wieder aufgehen, wenn ich losließe. Weihnachten, was war das überhaupt? Für viele Menschen bedeutete dieser Begriff, einander zu lieben, in Gesellschaft zu sein, sich nicht zu streiten und zurückzublicken auf schöne Erinnerungen. Ganz genauso sollte es für jeden sein; so war es richtig. Warum fühlte ich selbst dann nichts außer Einsamkeit und Trauer? Ich nahm die Hände von der Gardine und begann zu horchen. Im Haus war es immer noch angenehm ruhig und keine Stimmen drangen von unten zu mir vor. Das konnte nur bedeuten, dass mein Vater noch nicht von der Arbeit heim gekommen war. Um Weihnachten machte er oft Überstunden und das Geld, das er mit ihnen verdiente, kam mir, als seiner einzigen Tochter, natürlich auch zugute. Nein, ich war wirklich niemand, der sich über seine Eltern beschweren sollte. Nicht genug, dass sie mir fast jeden Wunsch von den Lippen ablasen, waren sie auch noch von der Sorte, die sich etwas zu sehr um einen kümmerte. Trotz aller Differenzen hatte ich eine tolle Kindheit verbracht und dass ich das endlich wertschätzte, war wohl den beiden Jungen zu verdanken, denen in ihrer Vergangenheit nicht so viel Glück gewunken und mit denen ich über ein Jahr lang Team Sieben gebildet hatte. Es war eine schöne Zeit gewesen, die wir genossen, die uns drei zu Freunden gemacht, die sich geändert und die schließlich uns geändert hatte. Nun fehlte von dem Abtrünnigen Sasuke jede Spur und Naruto war für eine Trainingsreise fort gegangen. Ich allein war im Dorf geblieben, studierte unter der Hokage die Kunst der Medizin und schien seit den letzten zwei Jahren eine Leere in mir zu haben, die sich einfach nicht füllen wollte. Zur Überraschung aller war es damals Ino gewesen, die mir Halt gab und die jetzt nicht mehr für mich da war… Ein Teil von mir wollte laut fluchend aufschreien, ein anderer benahm sich mit einem Mal so trotzig wie ein kleines Kind. Wenn Ino es nicht für nötig hielt, sich bei mir zu melden, würde ich ihr nicht mehr hinterher laufen. Wenn sie mich nicht mehr brauchte, würde ich lernen, ohne sie zurechtzukommen. Wenn ihr unsere Freundschaft so wenig bedeutete, würde sie mir ebenso wenig wert sein. Und dennoch wusste ich tief in meinem Inneren, hinter der sich vordrängenden Enttäuschung und Empörung, dass all diese Vorsätze nichtig sein würden, sobald Ino wieder vor mir stand. Ich wusste das genau und ich hasste mich selbst dafür. Wie ferngesteuert entfernte ich mich vom Fenster und kehrte zu meinem Becher Früchtetee zurück. Mittlerweile dampfte er nicht mehr. Mir war zum Heulen zumute und ich fragte mich ernsthaft, was das eigentlich für einen Sinn hatte, mir über diese eine Person so den Kopf zu zerbrechen! Sie war immerhin nicht meine einzige Freundin und von ihr abhängig war ich auch nicht. Weshalb also machte ich mir so viel aus ihr? Weshalb ging mir diese ganze Lage so unglaublich nah? Weshalb konnte, verdammt noch mal, nicht alles wieder so sein wie früher? Ich schloss die Augen und atmete bewusst ein und aus. Für diesen Abend wollte ich keine belastenden Gedanken mehr und wenigstens so tun, als sei mir alles gleichgültig. Ich wollte mich einfach gemütlich in mein Bett kuscheln; wollte meinen Tee genießen, ein paar Adventskerzen anzünden, schöne Musik hören und etwas lesen, das rein gar nichts mit Medizin am Hut hatte. Wahrlich, ein guter Plan. Nur durchführen konnte ich ihn nicht. Tsunade blickte abwechselnd von dem beschriebenen Blatt Papier in ihren Händen prüfend zu mir auf und wieder zurück. Ich konnte die Anspannung kaum noch ertragen und kaute nervös auf meiner Unterlippe. Ein Blick auf die Wanduhr verriet mir, dass ich noch eine halbe Stunde Unterricht auszusitzen hatte. Wie viele fachliche Fragen konnten meiner Lehrerin in dieser Zeit wohl noch einfallen? „Du hast geraten“, sagte sie schlicht und der Knoten in meiner Brust zog sich enger zusammen. Ich schwieg und senkte den Kopf, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Tsunade interpretierte die Geste goldrichtig. „Aber du hast logisch gedacht“, führte sie fort, „denn die Formel ist korrekt.“ „Bitte?“, tat ich meine eigene Verwunderung kund und versäumte so die Chance, mich doch noch aus der Misere zu befreien. Nun hatte sie mich endgültig ertappt. „Damit hast du wohl nicht gerechnet?“, lachte sie und mir wurde leichter ums Herz, als ich hörte, dass sie nicht ernst wurde, „Dein schlechtes Gewissen stand dir ins Gesicht geschrieben und du warst den ganzen Vormittag unkonzentriert. Sakura, was ist los mit dir? Du bist sonst so eine vorbildliche Schülerin.“ Ich hatte geahnt, dass ihr meine Verfassung nicht entgehen würde, aber ich war nicht bereit, ihr zu erzählen, was mich bedrückte. „Es ist nichts, Meisterin“, murmelte ich und merkte selbst, dass ich nicht überzeugend klang. Tsunade musterte mich besorgt und erinnerte dabei ganz an meine Mutter, war im Nachfragen aber scheinbar nicht halb so hartnäckig wie diese. „Nun gut“, gab sie sich rasch zufrieden, „wir beenden den Unterricht heute früher und dafür erwarte ich von dir, dass du fleißiger lernst und die komplette Lektion morgen sitzt.“ Ich nickte eifrig und begann, meine Bücher und Schriftrollen zusammen zu suchen. Seit Stunden hatte ich darauf gebrannt, diesen Raum verlassen zu dürfen, obwohl ich mich normalerweise auf Tsunades Lehren freute, jede von ihnen begierig aufsog und es kaum erwarten konnte, mehr Wissen zu erlangen. Doch heute war einfach nicht mein Tag und die Hokage schien es mir nachzusehen. Sie kehrte mir den Rücken zu, ging an ihren Schreibtisch und sortierte oberflächlich die Unterlagen, die Shizune vor einiger Zeit gebracht hatte. Mir kam es vor, als würde sie erwarten, dass ich sie ansprach, nur hatte ich nicht das kleinste Bedürfnis zu reden und stand bloß bewegungslos da, bis sie mir sagte, ich könne jetzt gehen. Ich verabschiedete mich, wie es sich gehörte, mit einer leichten Verbeugung und verließ – eiliger als gewollt – Arbeitszimmer und anschließend Gebäude. Deshalb hatte ich den Reißverschluss meines Mantels noch nicht richtig hochgezogen, als ich durch den Haupteingang ins Freie trat. Ich rückte meine Mütze zurecht, zog den Schal enger um meinen Hals, raffte die Schultern und stapfte los. Dabei versanken meine Stiefel einige Zentimeter im Neuschnee, wo die Wege des Dorfes noch nicht frei geräumt und die weißen Berge zur Seite geschafft worden waren. Der Winter hatte über Nacht Einzug gehalten und Konoha unter einer dichten Puderschicht begraben. Meine Bitte zum Fest musste jemand erhört haben. Bis vorhin hatte es unaufhörlich geschneit und nun erstreckten sich vor mir Landschaft und Himmel in farblichem Einklang; wirkten wie das gräulich-weiße Spiegelbild des jeweils anderen. Mir fielen verschiedene Spuren von Schuhsohlen, Reifenabdrücken und Tierpfoten am Boden auf und ich machte mir einen Spaß daraus, manche von ihnen nach zu treten, solange sie auf meinem Heimweg lagen. Einige Häuser hatten bunte Lichterketten und Weihnachtssterne in den Fenstern hängen und in den Gärten spielten Kinder, in viele Schichten Kleidung eingepackt und mit hochroten Gesichtern, zwischen geschmückten Tannen. Der Duft von frischem Gebäck stieg mir ebenso in die Nase wie die eisige Kälte, die bei jedem Atemzug ein Stechen in der Lunge verursachte. Ich hatte meine Handschuhe vergessen und wärmte mir die Finger in den Manteltaschen. Das brachte weniger als erwartet und ich war froh, als endlich mein Elternhaus in Sicht kam. Überraschenderweise passte mich meine Mutter schon im Flur ab. „Du hast Besuch“, sagte sie, während ich mich aus Mantel und Schuhen schälte, „oben in deinem Zimmer.“ „Wer ist es?“, fragte ich beiläufig und hing meinen Schal an einen freien Haken. „Deine beste Freundin“, bekam ich zur Antwort und bemerkte in ihrer Stimme die Unsicherheit, ob dies eine gute oder eine schlechte Nachricht war. Zugegeben, ich wusste es auch nicht. Die Heizungsluft im Haus wirkte im Kontrast zu draußen unerwartet stickig auf mich, sodass ich meinte, nicht mehr atmen zu können. Mit einem mulmigen Gefühl und ohne ein weiteres Wort ließ ich meine Mutter stehen, erklomm die Treppe und hielt einen Moment am Absatz inne, bevor ich mich zögernd der Zimmertür näherte. Ino saß am Fußende meines Bettes; der Seite, auf der sie immer saß, wenn sie bei mir war. Ihre langen, blonden Haare hatte der Wind, durch den sie hergekommen war, wild durcheinander gewirbelt und sie strähnig und zerzaust an ihr herab hängen lassen. Glänzende blaue Augen stachen aus ihrem fleckigen Gesicht hervor und waren gerötet und verquollen. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass Ino geweint haben musste und bei dem Anblick, den sie mir bot, wäre ich vermutlich in jeder anderen Situation tröstend auf sie zugegangen. Doch ich riss mich mit Mühe zusammen und blieb distanziert; fragte mich, ob ich der Grund für ihre Tränen war und ob sie das Verhalten bereute, das sie mir gegenüber an den Tag gelegt hatte. Einerseits hoffte ich das und andererseits auch nicht, denn wenn sie sich sofort für alles entschuldigte, würde ich ihr nicht mehr böse sein können. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie spüren zu lassen, wie es mir ging. Um nicht schwach zu werden, setzte ich mich nicht zu ihr, sondern blieb unschlüssig im Raum stehen. „Ich brauche deine Hilfe“, kam Ino ohne Umschweife zur Sache und schaute mich flehend an, „Ich hab Ärger zuhause.“ Mein Mund war plötzlich sehr trocken und mehr als ein kühles: „Ach ja?“ schien ich nicht hinaus zu bekommen. Weder mein Unterton noch mein Benehmen weckte Inos Misstrauen. Ihre Aussage und die Bitte, die dahinter stand, waren eindeutig, auch ohne sie richtig auszuformulieren. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie bei mir übernachten wollte, weil sie bis zum nächsten Morgen Abstand zu ihren Eltern brauchte. Bisher hatte ich ihr diesen Gefallen immer getan und sie gewähren lassen, doch diesmal hatte ich es satt, dass sie nur zu mir kam, wenn sie mich gerade brauchte. Zum Ausnutzen konnte sie sich jemand anderen suchen! Wie naiv war ich, auch noch Reue von ihr erwartet zu haben? Ich ärgerte mich über mich selbst und reagierte heftiger als geplant. „Warum schläfst du nicht bei Shikamaru?“, keifte ich mit bebender Stimme und die Botschaft hinter der deutlichen Ablehnung schien nun auch Ino zu erreichen. „Er ist nicht im Dorf“, entgegnete sie in ebenso scharfem Ton, „Außerdem warst du es ja, die erst neulich gesagt hat, ich würde zu sehr an ihm kleben.“ Damit hatte sie Recht, das konnte ich nicht bestreiten. Shikamaru war schon ein halbes Jahr mit Ino zusammen und trotzdem hatte ich mich bisher nicht vollkommen an diese Beziehung gewöhnen können. Zu Beginn war sogar eine gewisse Abneigung gegen ihn da gewesen und ich hatte mit meiner Eifersucht kämpfen müssen, um mir klar zu machen, dass er mir Ino nicht wegnehmen wollte und es auch gar nicht konnte. Mittlerweile verstand ich, dass man seiner besten Freundin ihr Glück gönnte, zumal Shikamaru vielleicht einer der Gründe, aber bei weitem nicht der einzige war, warum wir uns nicht mehr so häufig sahen. Ino und ich waren unterschiedliche Wege gegangen mit unterschiedlichen Freunden, Missionen und Ausbildungen, die uns Zeit raubten. Dennoch hatte ich immer die Möglichkeit gesehen, unsere Vergangenheit zu erhalten und mich wie früher mit ihr zu treffen. Viel zu oft war dieses Interesse nur von mir ausgegangen… „Schon, aber ich habe nie behauptet, sein Lückenbüßer sein zu wollen“, verteidigte ich mich, „Außerdem kannst du nicht hier bleiben. Ich muss noch viel lernen.“ „Ich störe dich nicht, versprochen!“ Unwillig verschränkte ich die Arme vor der Brust und wandte mich ab; spürte das Blut in meinen Ohren pulsieren, als wäre ich einen Marathon gerannt, und versuchte mich krampfhaft unter Kontrolle zu halten. „Es geht nun mal nicht.“ Ino blieb an mir dran und ich hatte damit gerechnet, denn ich kannte ihre penetrante Art nicht aufzugeben, wenn sie etwas erreichen wollte. „Was ist denn heute los mit dir? Bitte, lass mich nicht hängen! Ich dachte, wir sind befreundet.“ Auf einen solchen Satz hatte ich nur gelauert. Blitzschnell wirbelte ich wieder zu ihr herum und meine Wut drohte überzukochen. „Ja, das dachte ich auch mal!“, blaffte ich, „Was war mit gestern?“ „Gestern?“ „Wir waren verabredet, erinnerst du dich? Wir wollten mal wieder was zusammen unternehmen; die letzten Weihnachtsgeschenke kaufen! Ich habe zwei Stunden in der Kälte gewartet und dann bei dir zuhause nachgefragt – umsonst!“ Ino blickte mich erschrocken an. „Das hab ich ganz vergessen“, gab sie kleinlaut zu. „Vergessen? So wichtig bin ich dir, ja?“ „Sakura…“ „Weißt du, es ist ja nicht so, dass du mir über alles und jedes Rechenschaft ablegen müsstest. Das würde ich nie verlangen! Aber ist es denn wirklich so schwer, an mich zu denken und mir abzusagen? Oder mal von allein auf die Idee zu kommen, mir bescheid zu sagen, dass es dich noch gibt? Wenigstens einmal in der Woche?“ Die Flut meiner Worte verschlug Ino die Sprache und als sie im nächsten Augenblick doch zum Sprechen ansetzte, fuhr ich ihr dazwischen. „Du machst nie Vorschläge, wenn es um unsere Treffen geht! Langsam glaube ich, du hast überhaupt keine Lust mehr, mich zu sehen!“, schrie ich und all der Zorn, der sich die ganzen Wochen über angestaut hatte, schien sich mit einem Mal zu entladen. „Glaubst du das wirklich?“, fragte Ino so ruhig, dass es unheimlich wirkte. „Ja, genau das!“, bestätigte ich aufgebracht, „Ich glaube, unsere Freundschaft ist dir einen Dreck wert! Wenn du Probleme hast, kommst du zu mir, aber für mich hast du keine Zeit! Alles dreht sich immer bloß um dich! Dein Egoismus kotzt mich an!“ Ino stand vom Bett auf und ich realisierte, dass ich ihren wunden Punkt getroffen hatte. „Ich muss mir das nicht länger anhören“, zischte sie, „Deine Kränkungen und Vorwürfe kannst du dir sonst-wohin stecken! Überleg erstmal, ob die auch in eine Freundschaft gehören!“ Mit wehendem Haar stürmte sie an mir vorbei, aus dem Zimmer und knallte die Tür mit solcher Gewalt hinter sich zu, dass diese fast aus den Angeln sprang. „Ja, geh nur! Hau ab, wir sind sowieso fertig miteinander!“, rief ich Ino nach und hörte sie die Treppe hinabpoltern. Dann wurde es still um mich und ich stand zitternd und weinend auf der Stelle; unfähig mich zu bewegen. Sollte Ino künftig tun, was sie wollte und bleiben, wo sie war. Sich aufzuregen lohnte nicht und auf eine Freundin wie sie, konnte ich gut und gerne verzichten. Wenn sie zu verbohrt war, um zu verstehen, dass eine Freundschaft auf Gegenseitigkeit und nicht auf Einseitigkeit beruhte, musste sie sich eben einen anderen Dummen suchen. Ich hatte lange genug alles hinunter geschluckt und meine Auseinandersetzung mit ihr kam mir vor wie ein Befreiungsschlag, der so gut tat, als wäre eine riesige Last von meinen Schultern gefallen. Trotzdem fühlte ich mich schlecht; so schlecht, wie bisher selten in meinem Leben. Das letzte Mal, dass Ino und ich uns in dem Ausmaß gestritten hatten, lag Jahre zurück. Damals waren wir Rivalinnen gewesen; hatten um das Herz desselben Jungen gekämpft und darum, wer von uns beiden in den Künsten der Ninja die Bessere war, um der anderen in nichts nachzustehen. Diese Tage waren vorüber, seit Sasuke weder Ino noch mich gewählt, das Dorf verlassen und somit die Mauer aufgelöst hatte, die vielleicht auf Ewig zwischen uns gestanden hätte. Mit Shikamarus Eintritt in Inos Leben, war der Name unseres früheren Schwarms nie wieder gefallen, denn keine wollte alte Wunden aufreißen. Obwohl wir uns über die vergangenen Konflikte nicht richtig ausgesprochen hatten, konnten wir uns irgendwie zusammenraufen und begannen unmerklich, viele Stunden und Tage miteinander zu verbringen und zu reden. Wir verstanden und vertrauten einander und waren für den anderen da. Ich stand immer noch wie festgewachsen an einem Fleck und spürte den Groll gegen Ino verebben; sah den Schnee gemächlich am Fenster vorbei fallen und hörte den Wind an Glas und Rahmen rütteln. Das Ticken des Weckers passte zum Takt meines Herzens. Schwerfällig setzte ich mich in Bewegung und ließ mich auf der Bettkante nieder. Meine Aufmerksamkeit wurde zu dem Medizinbuch auf meinem Nachtschrank gelenkt und ich nahm es hoch, klappte es zu und wog den schweren Wälzer in den Händen. Lernen hatte keinen Sinn, ich verstand nicht mal den Titel auf dem Einband. So sehr ich auch versuchte, mir einzureden, nichts falsch gemacht zu haben, wurde ich doch das Gefühl nicht los, mich selbst zu belügen. Ich ließ das Buch in meinen Schoß fallen, kippte rücklings aufs Bett und zog die Beine nach. Am liebsten hätte ich die Augen zugemacht und den ganzen Tag – besser, den ganzen Winter – verschlafen, bis sich alles wieder von selbst in die richtigen Bahnen geschoben haben würde. Irgendwann käme Ino schon zu mir zurück, wenn ich nur so geduldig wartete wie gestern am Treffpunkt. Dann würde sie mir Recht geben, ihre Fehler überdenken und wir würden uns wieder versöhnen. Ich durfte einfach nur nicht die erste sein, die den Streit nicht länger aushielt. Aber reichte das auch, damit alles war wie früher? Und was tat ich, wenn Ino gar nicht kam; wenn ich ihr nicht mehr wichtig war? Hatte ich sie durch meine Worte womöglich verloren? War ich zu weit gegangen? Ohne jegliches Zeitgefühl lag ich regungslos da und starrte gegen die Zimmerdecke; beobachtete die Dunkelheit in den Raum kriechen und die Wände schwarz färben. Aus dem unteren Stockwerk nahm ich die gedämpften, unverständlichen Stimmen meiner Eltern wahr und lauschte dem Glucksen und Surren der Heizung. Hätte ich Ino von Anfang an vernünftig gesagt, was mich störte und nicht gleich geschrieen, hätte sie dann anders reagiert und etwas geändert? Wäre sie dann noch hier und würde die Sache mit mir klären? War ich wirklich so wenig erwachsen geworden, dass ich mich benehmen musste wie in der kindischen Feindschaft, die einst zwischen Ino und mir herrschte? Vielleicht hatte ich mehr kaputt gemacht als sie. Ich verfluchte mein voreiliges und unüberlegtes Temperament, da es niemals meine Absicht gewesen war, die vorige Diskussion soweit eskalieren zu lassen. Mein Entschluss stand fest: Es führte kein Weg daran vorbei, nochmals mit Ino zu sprechen. Ich setzte mich auf und hatte keine Ahnung, ob Minuten oder Stunden an mir vorbeigezogen waren. Das Lehrbuch rutschte mir von den Knien und fiel geräuschvoll zu Boden. Mir war es egal, ob Tsunade ihre Predigt morgen verschärfen würde, weil meine Leistung weiterhin nachließ und ich ihre Erwartungen nicht erfüllte. Unter Umständen war das der Preis, den ich für den Erhalt einer Freundschaft zu zahlen hatte. Der Wind war schneidend kalt, als ich wenig später in dicker Winterbekleidung aus der Haustür trat. Starker Schneefall trübte die Sicht und ich legte meinen Schal über Mund und Nase, um mich vor der Witterung zu schützen. Mit gesenktem Haupt schlug ich mir eine Schneise durch die zugeschneiten Straßen, auf denen nur sehr selten ein anderer Mensch an mir vorbei eilte. Der Weg zum Blumenladen, den Inos Familie betrieb und über dem deren Wohnung lag, war nicht weit und doch lang genug, damit abertausende Flocken, die an mir kleben blieben, das Rot meines Mantels überdecken konnten. Das Licht von überzogen kitschigen Weihnachtsdekorationen und Straßenlaternen reflektierte die weiße Umgebung und ließ sie trotz voranschreitender Dämmerung erstrahlen. Ich erkannte in der Ferne die schemenhaften Schriftzüge der Tafel, die am Geschäft der Floristen angebracht war und beschleunigte meine Schritte, um in den überdachten Eingang an der Hinterseite des Hauses zu gelangen. Nach dem Klingeln dauerte es nur ein paar Sekunden, bis mir Inos Vater die Tür öffnete. Wir begrüßten uns höflich und er wirkte etwas überrascht, mich zu sehen. „Du möchtest sicher zu Ino“, riet er und lächelte so sorglos, dass ich nie auf einen Konflikt zwischen ihm und seiner Tochter getippt hätte, wüsste ich es nicht bereits besser, „Aber du musst leider warten, denn sie ist noch nicht zurück. Ich hab gedacht, sie wäre bei dir.“ Er bat mich mit einer freundlichen Geste einzutreten, doch ich lehnte dankend ab und tat so, als habe mein Anliegen auch bis morgen Zeit. Natürlich wussten wir beide, dass Ino diese Nacht nicht heimkommen würde und jemand anderen gefunden haben musste, bei dem sie bleiben konnte. Die langjährige Erfahrung mit diesem Mädchen hatte uns das gelehrt. Ich wollte ein Gespräch mit ihr aber nicht auf die lange Bank schieben und die Angelegenheit möglichst schnell aus der Welt schaffen. Deshalb wünschte ich ihrem Vater einen schönen Abend und marschierte weiter durch die unberührte Schneewüste, in die sich Konoha verwandelt hatte. Meine Suche führte mich zum Anwesen des Akimichi-Clans, wo Inos früheres Teammitglied Choji wohnte. Schon ein Blick von außen genügte, um an den verdunkelten Fenstern zu erkennen, dass ich kein Glück haben würde. Als ich dennoch die Klingel betätigte, rührte sich wie erwartet gar nichts. Wenn Ino also weder zuhause noch bei mir oder Choji war und auch bei Shikamaru nicht sein konnte, hatte ich einen Grund mir Sorgen zu machen. Mir fiel niemand sonst ein, zu dem sie in solch einem Fall gehen würde. Ich versuchte die aufsteigende Panik zu verdrängen und stattdessen angestrengt zu überlegen, wo meine beste Freundin sein konnte; wohin ich gehen würde, um allein zu sein. Mir kamen so einige Plätze in den Sinn und ich machte mich schwermütig an die Arbeit, sie einen nach dem anderen abzuklappern. Es dauerte nicht besonders lange, bis meine Kleidung mir ihren Dienst zu versagen schien, meine Ohren und Füße taub wurden und ich glaubte, der Schnee würde mir bis auf die Haut dringen. Je länger ich draußen herumlief, umso größer wurde mein Wunsch, nach Hause umzukehren und ins Warme zu kommen. Ich war kurz davor aufzugeben, als ich eine Silhouette zwischen den Bäumen am Rande des Weges wahrnahm und stockte. Auf einer Parkbank, einige Meter vor der schimmernden Eisfläche eines zugefrorenen Sees, erkannte ich Inos blaue Mütze. Mit leise knirschenden Schritten näherte ich mich der starren Gestalt des Mädchens. Sie saß mit dem Rücken zu mir und erweckte durch den Schnee, der sich auf ihren Schultern und ihrem Kopf gesammelt hatte, den Eindruck, als habe sie sich eine Ewigkeit nicht bewegt und wäre eins mit der Landschaft um sich herum geworden. Einen Moment betrachtete ich die Szenerie wie ein gemaltes Bild. Nun wusste ich es wieder. Nun konnte ich mich erinnern, was es war, das mich mit ihr verband; erinnern, weshalb mich unsere derzeitige Krise so mitnahm und weshalb ich unsere Freundschaft nicht aufgeben konnte, wie meine Mutter es vorgeschlagen hatte. Nie wieder würde ich einen Menschen wie Ino finden, denn sie war etwas Besonderes und durch niemanden zu ersetzen. Keiner außer ihr kannte all meine Eigenschaften, Macken, Wünsche, Träume und Ziele. Keiner verstand meine Gefühle und deutete mein Schweigen so gut wie sie. Wirklich keiner hatte mir in schweren Zeiten so bedingungslos beigestanden. Da waren das viele gemeinsame Reden, Lachen und Herumalbern und die vielen Seiten an ihr, die ich kannte wie kein anderer, nicht mochte, aber trotzdem akzeptierte. Da waren so unglaublich tolle Momente, die wir zusammen erlebt und geteilt hatten, dass sie sehr viel mehr wogen als eine verpasste Verabredung. Wir hatten füreinander eingestanden, einander in Schutz genommen und kein schlechtes Wort auf den anderen kommen lassen. Dass ich unseren Bund unter keinen Umständen brechen konnte, begriff ich vermutlich jetzt erst richtig. Der Wind wirbelte die feinen Flocken auf, als ich meine Hand auf Inos Schulter sinken ließ und sacht den Schnee fortwischte. „Du wirst dich erkälten“, murmelte ich und Ino schnellte erschrocken hoch, bedachte mich mit einem so ungläubigen Blick, als wären die Heiligen höchstpersönlich vom Himmel gestiegen und fiel mir in der nächsten Sekunde um den Hals. Ich taumelte zurück, erwiderte aber ihre unerwartete Umarmung und eine ganze Weile standen wir versteinert da und ließen uns einschneien. Ihre Jacke war nass und glitschig, ihr Körper ein haltlos zitterndes Bündel und ihre Wangen so kalt wie meine eigenen. Ich spürte heiße Tränen auf ihnen und wusste nicht, ob sie von ihr oder mir kamen. „Es tut mir so leid“, flüsterte Ino schließlich mit erstickter Stimme, „Ich hab das nicht gewollt! Ich hab nicht gemerkt, dass-“ „Ich weiß doch“, unterbrach ich sie und Stille trat ein, weil ich nicht wusste, wie ich mich weiter ausdrücken sollte. „Wenn einer von uns egoistisch war, bin ich es gewesen“, setzte ich fort und bekam mein Eingeständnis ungewöhnlich schwer über die Lippen, „Ich habe dich verletzt, weil ich nur an meine Gefühle gedacht habe. Ich bin die, die keine Ahnung hat, was eine Freundschaft ausmacht.“ Ino schluchzte und drückte mich fester an sich. Ich wünschte mir, sie hätte widersprochen, doch vermutlich war dem einfach nichts entgegenzusetzen. „Wenn du noch willst“, formulierte ich vorsichtig, „dann komm heute Nacht mit zu mir.“ Ich spürte ihr Nicken an meiner Schulter und die Erleichterung durch meinen Körper strömen. Wir lösten die Umarmung und sahen einander an, während unser Atem sichtbar in der klaren Luft hing. „Verzeih“, wisperte Ino erneut gebrochen, „Wir werden das ändern.“ Ich tastete nach ihrer Hand und ergriff sie. „Ist vergessen“, versicherte ich leise, „Mein Leben wäre ja so langweilig ohne dich.“ Ich führte sie weg von der Bank und dem See, zum leeren Fußweg hinter den kahlen Bäumen. Gemeinsam machten wir uns auf den langen Nachhauseweg und die Vorfreude auf einen aufwärmenden Tee kam mir größer vor als sonst, weil ich wusste, dass ich ihn diesmal nicht alleine trinken würde. Wir sprachen kein einziges Wort, doch das leichte Lächeln auf Inos tränenverschmiertem Gesicht, war mir Aussage genug. Ich schämte mich, fast vergessen zu haben, wie schön es war, eine beste Freundin zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)