Snowdrops and Chocolate von Petey (Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi) ================================================================================ Kapitel 28: Sequel - Schneeglöckchen und Schokolade --------------------------------------------------- Seit ein paar Nächten war es wieder so kalt geworden, dass unbemerkt vom Tageslicht Schneeflocken vom pechschwarzen Himmel herunter rieselten. Auch an jenem frostigen Morgen im Februar fiel Keis Blick auf eine glitzernde weiße Decke, als er die Jalousien heraufzog. Missmutig kommentierte er das malerische Bild mit einem knurrenähnlichen Brummen. In dieses stimmte sein Fuchs Robin wenig später ein, als Kei ihm die Terrassentür öffnete, die in den Garten führte. Etwas widerwillig setzte Robin eine Pfote vor die andere und beobachtete mit demselben Knurren wie sie im Schnee versanken. Der Schnee lag nicht hoch. Tatsächlich war es gerade genug, um die winterlich verdorrten Grashalme zuzudecken, und im Lauf des Tages würde die Sonne ihn vermutlich ohnehin wegzaubern. Vor zehn Jahren hatte Robin sich nicht die geringsten Gedanken gemacht, als er bei Schnee und Eis wie bei Sonnenschein durch sein Revier gestreift war. Inzwischen hatte der Fuchs aber reichlich Zeit gehabt, sich an ein bequemes Leben als Haustier zu gewöhnen. Er genoss das allmorgendliche Toben im Garten, genauso aber das anschließende Faullenzen auf der Couch. Robin sprang schon im Garten herum, hin und wieder anhaltend, um sich den Schnee aus dem Fell zu schütteln, als mit behäbigen Tapsern und ohne jede Eile ein Dachs die Schwelle der Terrassentür durchschritt. Dieser Dachs war erst seit vier Jahren domestiziert worden und tat sich noch hin und wieder schwer, sich in seine neue Rolle als Haustier zu fügen. Obwohl die Fähe auf den Namen Frau Holle hörte, bedachte sie den Schnee doch mit einem geringschätzigen Schnauben, als sie ihre Schnauze in das Weiß tunkte. Kei nahm zur gleichen Zeit den Milchtopf vom Herd und setzte ihn zwischen die Packung Erdbeer-Cornflakes und die noch leere Müslischüssel auf den Esstisch. Auf dem Rückweg zum Küchentresen drehte er eine kleine Schleife, um ein beherztes „Yuki, aufstehen! Es ist gleich viertel nach!“ in den Hausgang zu rufen. Ohne den Erfolg seines Weckrufs abzuwarten, griff Kei nach dem Brot und schnitt ein paar alles andere als gleichmäßig dicke Scheiben herunter, die er anschließend mit Schinken und Käse belegte. Ein paar Minuten später hörte er das Schlurfen von Kinderfüßen in zu langen Jeans auf dem Parkett und ein verschlafenes „Guten Morgen, Mama.“ hinter sich. Kei atmete laut aus und warf dem Mädchen einen strengen Blick über die Schulter zu. „Morgen! Ich bin nicht Mama! Wenn überhaupt ist Yuki Mama.“ Unbeeindruckt ließ sich Momoi auf ihrem Stuhl nieder und versuchte, ihr Kichern mit Cornflakes zu übertönen, die sie in ihre Müslischüssel rieseln ließ. Seit vier Jahren war sie nun Keis Schülerin. Zuerst war sie wenig begeistert gewesen, ihre Familie zu verlassen, um zu einem chaotischen Zaleimeister zu ziehen, der schon bei ihrem ersten Treffen durch fast einstündige Verspätung nicht den besten Eindruck hinterlassen hatte. Ein schwacher Trost war dessen Mitbewohner gewesen, pünktlich und freundlich, aber zu Momois anfänglichem Unbehagen mehr als nur ein Mitbewohner ihres Lehrers. Wie bei jedem Zaleischüler war Momois Leben innerhalb kürzester Zeit völlig auf den Kopf gestellt worden. Nicht nur, dass sie plötzlich eine fremde Kraft in sich kennengelernt hatte, die ihr selbst Angst machte, sie war fortan untrennbar mit ihrem Carn verbunden, der alles andere wollte als ihr braves Haustier zu werden. Als ob das noch nicht verwirrend genug war, hatte sie auch noch eine ungewöhnliche neue Familie bekommen. Inzwischen mochte Momoi ihre neuen „Eltern“ aber sehr. Auch wenn Kei offiziell ihr Lehrer war, so kümmerte sich das Paar doch gemeinsam um Momoi. Kei war einer der stärksten Zalei überhaupt, hatte der Ratsvorsitzende ihr damals gesagt, als sie auf ihn gewartet hatten. Aber leider war er unzuverlässig, hitzköpfig und manchmal ebenso ahnungslos wie Momoi. Alles, was Momoi über die Philosophie, Geschichte und Gesellschaft der Zalei gelernt hatte, wusste sie deshalb von Yuki. Seit Yukis Kräfte versiegelt worden waren, konnte er selbst keine Schüler mehr ausbilden, unterstützte aber Kei dabei. Der Ratsvorsitzende hatte dem bereitwillig zugestimmt, weil es bis dahin ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war, von Kei irgendeinen Ausbildungsbericht vollständig ausgefüllt und termingerecht vorgelegt zu bekommen. „Yuki! Es ist gleich halb acht!“, rief Kei in den Hausgang, während er vom Küchentresen zum Esstisch zurückkehrte. Er stellte die gefüllte Brotzeitdose neben Momoi und verdiente sich dafür ein breit grinsendes „Danke, Mama!“, das er mit einem genervten Schnauben beantwortete. „Guten Morgen, ihr zwei.“ Kei hatte gerade den Teller mit seinem Frühstück am Platz gegenüber seiner Schülerin abgestellt, sich jedoch noch nicht gesetzt. Da fühlte er wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und dann sanft über seinen Rücken strich, während ihr Besitzer um ihn herum trat. In dieser Bewegung streifte er einen kleinen Kuss federleicht auf Keis Schläfe. Etwas überrascht sah Kei Yuki hinterher, als dieser von Minuit verfolgt zur Kaffeemaschine trat. Yuki musste sein Haar wohl ungekämmt direkt nach dem Duschen hochgebunden haben, denn in alle Richtungen standen noch feuchte, weiße Schlaufen und Stacheln aus seinem Haarknoten heraus. Die Fledermaus griff mit ihren Füßen nach der Vorhangstange über dem kleinen Küchenfenster und wickelte sich in ihre Flügel zu einem kleinen Nickerchen. Minuit hielt sich am liebsten in Räumen mit Gesellschaft auf, war aber ein noch größerer Morgenmuffel als ihr Zalei. „Guten Morgen, Papa!“, grinste Momoi, während sie sich noch einen Löffel Cornflakes in den Mund schaufelte. „Morgen... Du bist aber früh auf“, wunderte sich Kei. Tatsächlich war Yuki für gewöhnlich, wie man es von einem Zalei mit einer Fledermaus wohl nicht anders erwartete, ein ausgesprochener Langschläfer. Er blieb abends lange wach, kam morgens aber dafür nie aus den Federn. Kei war es gewöhnt, mindestens bis halb neun nach seinem Freund rufen zu müssen, bis der sich ganz verschlafen an den Frühstückstisch bequemte. Deshalb war es auch Keis Aufgabe, morgens die Tiere zu füttern, Frühstück zu machen, Momois Pausenbrot zuzubereiten und sie in die Schule zu bringen. Aber natürlich hatte Kei diese Aufgaben nicht ohne Murren übernommen. Die Rolle des Vernünftigen in der Beziehung stand ihm nicht besonders. Nein, jeden zweiten Tag gab es lange Diskussionen von „Du musst auch im Haushalt helfen!“, „Bring wenigstens den Müll raus!“, „Ich gehe genauso Geld verdienen wie du auch!“, „Sag gefälligst früher Bescheid, wenn du auswärts isst!“, „Ich kann den Chef nicht ständig bitten, früher Feierabend machen zu dürfen, nur weil du so unzuverlässig bist!“ und „Sie ist auch deine Tochter!“, während derer sich Momoi regelmäßig kaputtlachte. Nach all der Zeit fühlte es sich für Kei an, als wären er und Yuki ein altes Ehepaar. Er liebte das. In ihrem Leben als Zalei und als geoutetes homosexuelles Paar gab es sonst wenig „Normalität“. Das wurde Kei immer wieder bewusst, wenn er sich mit Atari zum Fußballschauen traf, der inzwischen als Ingenieur arbeitete und mit seiner Frau Mi-chan und zwei kleinen Kindern in einem Reihenhaus mit Garten und Goldfisch lebte. Kei war ebenso glücklich wie stolz, dass seine Familie genauso „normal“ war wie die von Atari. Was natürlich nicht bedeutete, dass er glücklich darüber war, dass der total eindeutig superweit überwiegende (mit Ausrufezeichen!) Löwenanteil der Hausarbeit an ihm hängen blieb, und dass er als „Mama“ tituliert wurde. „Die Sitzung heute beginnt schon am Vormittag, weil ein paar große Themen anstehen und wir sonst bis späten Abend im Rat wären“, gähnte Yuki, während er vorsichtig im Zeitlupentempo mit seiner bis obenhin gefüllten Kaffeetasse zum Frühstückstisch schlich. „Oder Ryu will mich einfach ärgern, das könnte auch sein. Ich hab mir auch schon Ärger im Büro eingehandelt, weil ich deshalb mal wieder spontan freinehmen musste.“ Vor einigen Jahren schon war Yuki in den Rat der Zalei aufgenommen worden. Anfangs waren viele skeptisch gewesen, nicht zuletzt er selbst, weil er zwar noch über seine schamanischen Kräfte verfügte, aber den Körpertausch seit deren Versiegelung nicht mehr beherrschte. Lange Zeit hatte Yuki sich nicht mehr als richtiger Zalei gefühlt. Inzwischen aber hatten er und die Zaleigemeinschaft sich mit der Situation arrangiert und er war sogar schon zweimal wiedergewählt worden. Seine Kompetenz und sein Verantwortungsbewusstsein zählten letztendlich am meisten. Kei stand währenddessen an der Seite der Küche, am Fressplatz von Robin und Frau Holle. Er beobachtete seinen Freund über die Näpfe hinweg, die er aufgehoben hatte, um sie mit dem Frühstück der Carn zu füllen. Eigentlich wartete er darauf, dass Yuki seinen Kaffee verschüttete, nur damit er ihn später zwingen konnte, den Boden zu wischen. Genau genommen war es eigentlich immer Yuki, der wischte und putzte - eigentlich war Yuki sogar derjenige, der sich um fast alles im Haushalt kümmerte, was sich bis nach zehn Uhr vormittags aufschieben ließ - aber die Gelegenheit für einen dummen Spruch würde sich Kei trotzdem nicht einfach entgehen lassen. Yuki bemerkte Keis Blick wohl, weshalb er sich mit einem unschuldigen Lächeln und der makellos vollen Tasse auf den Stuhl Momoi gegenüber setzte. „Dein Glück...“, nuschelte Kei in die Dose mit Robins Futter. Diesen Kommentar überhörte Yuki gekonnt und schlürfte einen großen Schluck von seinem Kaffee, den bisher nur die Oberflächenspannung in der Tasse hielt. Nachdem Kei die gefüllten Futternäpfe auf den Boden gesetzt hatte, ging er zur Terrassentür und rief die beiden Carn. Er war es gewohnt, auch sie mehr als einmal zu rufen. Robin gehorchte aus Prinzip erst dann, wenn er seinen Namen dreimal gehört hatte. Dann allerdings kam er wieselflink aus irgendeiner Ecke des Gartens angerannt. Er hielt vor der Tür kurz inne, um sein dichtes Fell vom Schnee zu befreien, und flitze dann ganz knapp an Keis Beinen vorbei direkt auf seinen Fressnapf zu, als versuchte er, seinen Zalei aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war eine Art morgendliches Ritual. Frau Holle ließ sich dagegen alle Zeit der Welt, bis sie sich langsam in Richtung Haus begab. Es war sogar schon vorgekommen, dass sie sich komplett taub gestellt und sich lieber weiter den Löchern gewidmet hatte, die sie begeistert in Yukis Beete grub. Eine morgendliche Trainingseinheit für Momoi war es dann, in den Körper ihres Carn zu schlüpfen und ihn so ins Haus zu bewegen. Kei war nämlich zu faul, dem Dachs persönlich in der Kälte nachzujagen. Heute hatte Momoi aber Glück und konnte ungestört weiterfrühstücken. Beide Tiere waren schließlich eingetroffen und hängten ihre Schnauzen in ihr Frühstück. Da konnte auch Kei endlich neben Yuki am Frühstückstisch Platz nehmen und sein Brot aufnehmen. „Heißt das, du kannst Momoi heute nicht von der Schule abholen?“ „Wahrscheinlich nicht. Die Sitzung ist bis vierzehn Uhr angesetzt.“ „Das sagst du jetzt erst?! Du bist ja lustig! Ich muss arbeiten!“, protestierte Kei. „Du kannst doch deine Schicht kurz unterbrechen, Momoi abholen und dann weiterarbeiten“, schlug Yuki vor. „Im Park sind sie doch sowieso gewöhnt, dass du kommst und gehst wann du willst.“ „Und Momoi ist inzwischen ganz allein daheim? Kommt nicht in Frage!“ „Du nimmst sie einfach mit in den Park und ich hol sie dann nach der Sitzung bei dir ab.“ „Das geht nicht, du Scherzkeks. Ich kann kein Kind zur Arbeit mitnehmen.“ „Ach so? Ich dachte, es wäre ein Freizeitpark für Kinder?“, heuchelte Yuki Überraschung. „Äh... Wie wär's wenn ich einfach allein nach Hause geh und hier auf euch wart? Ich bin doch kein Baby“, warf Momoi mit einem gelangweilten Unterton ein, als wäre es das selbstverständlichste der Welt. „Das ist total unverantwortlich! Zaleischüler dürfen nicht allein sein. Das solltest du spätestens seit deinem Waldausflug wissen, bei dem Frau Holle so in Panik geraten ist. Du hast ja keine Ahnung, was alles passieren könnte!“ Das Entsetzen über den bloßen Gedanken, seine kleine Toch- Schülerin über Stunden alleine zu lassen, war Kei wie ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz dazu versteckte Yuki hinter seiner Kaffeetasse ein amüsiertes Schmunzeln. Momoi verdrehte nur die Augen und rührte schmollend mit dem Löffel in ihrer Müslischüssel herum. Nur ihre Fingerspitzen lugten dabei aus dem Ärmel ihres immer noch etwas zu großen Pullovers. Eigentlich hatte sie keine andere Reaktion erwartet. „Sorry... Es kann ja nicht jeder so ein Naturtalent sein und sich von Anfang an so gut mit seinem Carn vertragen wie du“, murmelte sie kleinlaut. „Ich dachte ja nur...“ „Du solltest ni-“, Kei konnte den Satz nicht fortsetzen, als Yuki seine Tasse mit einem dumpfen „Donk“ auf die Tischplatte setzte und ihn unterbrach. „Kei macht sich nur Sorgen um dich, weil er nämlich ganz genau weiß, wovon er spricht, wenn er sagt, dass es noch weit schlimmer hätte ausgehen können als mit ein paar Kratzern.“ „Yuki...“, zischte Kei, um seinen Freund zu ermahnen, ja nicht weiterzusprechen. „Das gehört hier nicht her. Es geht um Momoi.“ „Gut, sprechen wir über Momoi. Sie ist vernünftiger, schon länger Zaleischülerin und hat ihre Kraft besser unter Kontrolle als mein Schüler, als der damals ganz ohne Aufsicht, regelmäßig ohne mir Bescheid zu sagen und ohne Handy allein ausgegangen ist.“ „Willst du etwa, dass Momoi auch mit allen möglichen Blessuren nach Hause kommt?!“ „Ich wollte auch nicht, dass du mit allen möglichen Blessuren nach Hause kommst.“ „Das war was anderes! Du warst nur eifersüchtig, aber du wusstest, dass du dir um mich keine Sorgen machen musstest.“ „Ach, wusste ich das...?“, Yuki warf Kei einen sehr, sehr skeptischen Blick zu. Dem setzte er seinen Freund für eine gefühlte Ewigkeit aus, bevor er endlich weitersprach. Kei fühlte sich inzwischen, erinnert an so ungefähr ein bis fünfzehn Zwischenfälle, etwas ertappt. „Es geht um Vertrauen, Kei. Du kannst Momoi nicht vor allem beschützen, erst recht nicht vor Erfahrungen, die sie selbst machen muss. Deine Aufgabe als Lehrer ist, sie nach bestem Wissen und Gewissen auf ihr Leben als Zalei vorzubereiten und es sie dann leben zu lassen.“ „Aber ich darf mir ja wohl noch Sorgen um sie machen.“ Nachgeben kam – wie immer – nicht in Frage, auch wenn Kei langsam dämmerte, dass er Yukis Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte. „Du bist heute eine ganz schreckliche Glucke, Mama“, lachte Yuki siegessicher. Angesichts dieser unfassbaren Frechheit fiel Kei nun tatsächlich schier die Kinnlade runter bis auf die Knie. Vor Schreck verstummt starrte er Yuki in Grund und Boden. Es dauerte einen Moment, bis Kei seine Stimme wiederfand. Dann allerdings konnte er sich gar nicht für einen Fluch entscheiden, so dass er Yuki zunächst mit einem herzlichen „Awigrhlmpf!!“ bedachte. Um sich etwas zu sammeln, schlug Kei eine Hand flach auf den Tisch. „Na gut! Wir probieren's!“, er atmete einmal tief durch und wandte sich an Momoi, die ihn überrascht aus ihren dunklen Augen ansah. „Du kommst nach der Schule allein zu mir in den Park. Dort holt Yuki dich dann ab, sobald er im Rat fertig ist.“ „E-Echt jetzt...? Cool!“ „Du nimmst aber dein Handy mit.“ „Geht klar.“ „Und du rufst mich an, wenn du losgehst.“ „Okay...“ „Und wenn du im Zug bist.“ „Okay...?“ „Und, wenn d-“, Kei verstummte für einen Moment, als ein Ellenbogen in seine Seite stieß. „Ja ja. Pass auf dich auf und melde dich sofort, wenn irgendwas komisch ist.“ „Okay!“ Momoi konnte ein breites Grinsen kaum unterdrücken. Zwar war ihr Lehrer nicht so übervorsichtig, dass er sie in Watte packte und gar nicht unbeaufsichtigt aus dem Haus gehen ließ, aber ein wenig gluckte er schon... Anfangs war das in Ordnung und Momoi für die Fürsorge sogar sehr dankbar gewesen. Sie war im Alter von erst 8 Jahren Zaleischülerin geworden und dem war eine harte Zeit vorangegangen mit mehreren Unfällen aufgrund ihres Talents, das sie nicht kontrollieren konnte. Zuletzt hatte sie, beziehungsweise ihr Carn, mit dem sie versehentlich die Körper getauscht hatte, ihren erst wenige Monate alten Bruder verletzt. So sehr wie Momois leibliche Eltern danach ihren kleinen Bruder verteidigt hatten, hatte Kei Momoi verteidigt, als das verängstigte Kind seine Schülerin geworden war. Aber Kei hatte wohl den Punkt verpasst, an dem Momoi ihn nicht mehr als Beschützer brauchte, sondern als jemand, der sie im Bedarfsfall auffing, während sie sich selbst versuchte. Es war ja so schwer, wenn die Kleinen auf einmal groß wurden! Eine ganze Weile herrschte nun friedliches Schweigen am Frühstückstisch, abgesehen von Momois Knuspern von Conflakes und Keis Fuß, der seinen Energieüberschuss in Tritten gegen das Tischbein abbaute. „Nimmst du Minuit wieder mit in den Rat?“, fragte Kei ganz beiläufig ohne Yuki anzusehen. Die ganze Planänderung in ihrem Tagesablauf ärgerte Kei immer noch ein wenig, denn er hatte sich eigentlich etwas freie Zeit allein erhofft, in der er etwas planen konnte. „Wie immer, ja“, antwortete Yuki und wunderte sich wohl über die Frage. Wie gesagt, mochte Minuit Gesellschaft und blieb nicht gern allein zu Hause, während Yuki und Kei arbeiteten und Momoi in der Schule war. „Warum fragst du?“ „Nur so“, zuckte Kei und nahm einen Schluck Orangensaft, bevor er weitersprach. „Ich nehm Robin und Frau Holle dann mit in den Park, nachdem sie heute sonst länger auf dich warten müssten.“ Wenn Kei wusste, dass die beiden Carn nur für eine kurze Weile allein waren, bevor Yuki von der Arbeit nach Hause kam, ließ er sie auch manchmal unbeaufsichtigt. Dabei war „unbeaufsichtigt“ allerdings nicht ganz das richtige Wort, denn inzwischen beherrschte Kei den Körpertausch so sicher, dass er hin und wieder in Robins Körper nach dem Rechten sehen konnte. „Gute Idee. Danke“, nickte Yuki. „Ich kann die beiden ja dann mit nach Hause nehmen, wenn ich Momoi bei dir abhole.“ „Nimm vorsichtshalber Handschuhe mit.“ Yuki lachte, als er trotz Keis sehr bemüht gleichgültigem Ton die Sorge in seiner Stimme wahrnahm. „Du hast Robin monatelang deine Hände und Füße als Kauknochen benützen lassen und du kommst auch heute noch grün und blau von deinen Stuntshows heim. Aber wenn Momoi oder ich einen Kratzer haben, kannst du auf einmal kein Blut mehr sehen.“ „Das ist ja auch ganz was anderes“, murmelte Kei etwas verlegen. „Euer Blut sollte ich nicht sehen müssen, das gehört in eure Körper.“ Der große Unterschied war... Okay, Momoi wollte Kei einfach beschützen wie eine Löwin ihr Junges. Aber bei Yuki war es etwas anders. Kei fand seine seidigen Haare einfach viel zu kostbar, um ihm auch nur eines davon zu krümmen, und seine wunderschöne, fast porzellanen helle Haut viel zu schön, um sie mit Kratzern oder blauen Flecken zu verletzen. Was wäre das für eine Verschwendung von Perfektion! Hätte Kei jemals versucht, Yuki diesen Hintergrund seines Beschützerinstinkts zu erklären, hätte Yuki ihm sowieso nicht geglaubt. Seit ihrer Begegnung mit K.R.O.S.S. nahm Yuki stillschweigend an, dass Kei wohl immer noch Angst haben musste, ihn irgendwann wieder verletzt an irgendeinem Parkplatz zu finden. Yuki konnte ja nicht wissen, dass Keis Sinneswandel an jedem Tag nicht vom Trauma seiner Verletzungen her gerührt hatte, sondern weil ihm während Yukis Dornröschenschlaf endlich seine Gefühle für ihn bewusst geworden waren. Er fragte deshalb gar nicht weiter. Stattdessen flüsterte Yuki mit einem sanften Lächeln auf den Lippen „Ich hab dich auch lieb.“ und strich mit einer Hand liebevoll über Keis Haar. Er ließ es sich aber nicht nehmen, im Anschluss daran die roten Strähnen ordentlich durcheinander zu wuscheln. Der Rotschopf sah zerzaust einfach zu niedlich aus, erst recht, wenn er sich auch noch aufregte. Kei schimpfte wie ein Rohrspatz, bis Yuki ihn mit einem Kuss zum Schweigen brachte. Gute drei Stunden später erreichte Kei die als alte Mühle getarnte Hütte im hinteren Teil des Fairy Tales Parks. Vor seinem Weg hierher hatte er Robin und Frau Holle in einen abgesperrten Bereich des Parks gebracht, wo sich Ställe und Gehege für Tiere befanden. Dort konnten sie sicher und in Ruhe bleiben bis Yuki sie nach seiner Ratssitzung mit nach Hause nahm. Die Mühle unweit davon war das Gebäude, in dem Kostüme und Requisiten aufbewahrt wurden und in dem sich die Schausteller umzogen. Gleich vor der Tür wurde Kei von seinem Chef erwartet, der mit tief ins Gesicht gezogenen Brauen und ungeduldig tippendem Fuß beobachtete, wie Kei in den kleinen Weg zur Mühle einbog. Heute war der Chef als Pirat kostümiert, was seinem grimmigen Blick noch unterstrich. Zu seinem Ärgernis nahm Kei nicht einmal die Feststellung „Du bist schon wieder zwanzig Minuten zu spät.“ zum Anlass, seinen Schritt etwas zu beschleunigen. Tatsächlich schien es sogar so, als hätte er seinen Chef über das Rauschen des Mühlrads gar nicht gehört. So flötete Kei ihm im Vorbeigehen nur ein fröhliches „Guten Morgen, Chef.“ entgegen. „Morgen? Ich geh gleich in Mittag!“, brummte der andere, während er die Arme vor der Brust verschränkte. „Ich musste meine Schülerin in die Schule bringen. Du weißt doch, wie das ist“, hob Kei unschuldig die Schultern. Der Park war eine der Einrichtungen, die der Zaleirat unterhielt, um einerseits den Zalei eine Arbeitsstelle zu bieten, die sonst keine Chance auf dem normalen Arbeitsmarkt hatten, und um andererseits Geld zu verdienen, mit dem sich die Zaleigesellschaft finanzierte. Dementsprechend waren die meisten von Keis Kollegen im Park ebenfalls Zalei. Nicht alle Zalei arbeiteten jedoch in solchen Einrichtungen des Rats. Yuki zum Beispiel hatte, als Keis Ausbildung weit genug fortgeschritten war, studiert und ging jetzt drei Tage die Woche einem – wie Kei fand – stinklangweiligen Bürojob nach. Kei hatte sich entschieden, weiter im Park zu arbeiten, nur inzwischen in fester Anstellung und mit wechselnden Rollen in höherer Verantwortung als er sie als Bonbonverkäufer hatte. Er fand, dass er mit seiner Entscheidung das bessere Los gezogen hatte, auch wenn er Yuki zugegebenermaßen im Anzug durchaus ganz lecker fand. Das allerdings konnte Yuki wohl nur vermuten, wenn Kei ihm nach Feierabend gar nicht schnell genug besagten Anzug vom Leib reißen konnte... Themawechsel! „Nein, weiß ich nicht. Nach vier Jahren Ausbildung konnte ich meine Schüler für die paar Minuten Schulweg allein lassen. Außerdem hattest du mehr als genug Zeit, um herzukommen, nachdem die Schule angefangen hat.“ „Deine Schüler waren aber schon älter. Außerdem hatte der Zug wegen einer Oberleitungsstörung Verspätung. Und Robin hat meinen Schuh angefressen. Aber jetzt bin ich ja da, also keine Panik.“ „Dir gehen wohl nie die Ausreden aus...“, brummte der Chef hilflos „Also! In einer halben Stunde beginnt das Ritterturnier. Ich erwarte dich dort als Hofnarr. Und sieh zu, dass du Lan auch hin bewegst.“ „Lan?“, wiederholte Kei sichtlich überrascht. „Ja, Lan. Drachentattoo, schwarzer Ritter, weißt du noch?“ „Lan ist hier?“ „Erstaunlich, aber wahr“, der Pirat wandte sich zum Gehen. „Viel Glück!“ Kei zuckte hilflos mit den Achseln, während er seinem Chef hinterher blickte, der ihn erleichtert pfeifend mit diesem Problem zurückließ. Der Pirat war schon hinter einer Baumgruppe verschwunden, bevor Kei einmal tief durchatmete und seinen Schritt zur Mühle wandte. Glück würde er allerdings brauchen. Es war ein Drama. Kei erkannte in Lan kaum noch den jungen Mann wieder, den er vor zehn Jahren kennengelernt hatte. Während Lan früher seine Umwelt gelegentlich durch seine Temperamentsausbrüche in Trab gehalten hatte, schien er heute völlig außer Kontrolle. Lan kam selten und noch seltener pünktlich zur Arbeit in den Park, sogar noch seltener als Kei. Manchmal verschwand er auch tagelang spurlos. Kei hatte es relativ schnell aufgegeben, Lan dann hinterher zu telefonieren. Ryu hatte es länger versucht, immerhin war Lan sein bester Freund gewesen. Erfolg hatte allerdings niemand gehabt, nicht einmal Pierre. Anders als bei Yuki, der „nur“ seinen Körper nicht mehr verlassen konnte, war Lans schamanische Kraft komplett gestohlen worden. Es war fast, als wäre Lan nie Zalei gewesen. Weil er früher einer der stärksten Zalei überhaupt, und damit durchaus eine Instanz in der Zaleigesellschaft gewesen war, war er mit seinem Leben als normaler Mensch heillos überfordert. Plötzlich war er nur noch ein Schulabbrecher ohne Ausbildung und mit schlechter Arbeitsmoral, der nirgends außerhalb der Zaleieinrichtungen Arbeit fand, obwohl er diesen gerne den Rücken gekehrt hätte. Desto tiefer der Fall. Am meisten tat Kei allerdings Onyx leid, Lans Carn. Onyx war allem Anschein nach davon relativ unberührt geblieben. Der Hengst hing genauso an seinem Herren wie vorher und verstand nicht, warum Lan sich plötzlich so von ihm distanzierte. Kei besuchte ihn oft im Stall, in dem er untergestellt war, hinter der Arena, wo die Ritterturniere aufgeführt wurden. Onyx war jedes Mal dankbar für ein paar Streicheleinheiten und einen kleinen Spazierritt, denn der schwarze Hengst ließ außer Lan nur eine Handvoll anderer Personen aufsitzen. Tatsächlich hatte Kei sich schon mental darauf eingestellt, auch heute wieder Lans Rolle im Ritterturnier übernehmen zu müssen. Für den Hofnarren war immerhin leichter ein Ersatz gefunden als für Onyx' Reiter. Zugegeben, als Schwarzer Ritter wirkte Lan aber doch etwas beeindruckender als Kei, der fast einen ganzen Kopf kleiner war. Ganz abgesehen davon war Lan nach wie vor ein exzellenter Reiter, dem Kei nicht das Wasser reichen konnte. Deshalb war Lan trotz seiner Unzuverlässigkeit weiterhin die erste Wahl als Schwarzer Ritter. Kei war das aber gar nicht so unrecht. Er mochte seine Rolle als Hofnarr ohnehin lieber. Es lag ihm mehr, das Publikum zum Lachen als zum Fürchten zu bringen. In seiner Rolle durfte er vor der Aufführung und zwischen den Akten Streiche spielen und sich über den ganzen Hofstaat lustig machen – abgesehen von der schönen Königin, gespielt von Taki. Nicht, dass es das höfische Protokoll verboten hatte, aber wenn er Taki ärgerte, machte Kiku ihm dafür später die Hölle heiß. Noch einmal atmete Kei tief durch als müsste er sich sammeln, um die Türklinge herunterzudrücken. Mit Schwung schob er die hölzerne Tür auf. Er war gespannt, was für ein Anblick ihn erwarten würde, wie Lan wohl aufgelegt und ob er überhaupt da war. „Guten Morgen!“, rief Kei bei seinem Schritt über die Türschwelle. Der Anblick, der sich ihm bot, war wenig spektakulär. Die surrenden, wohl bald erlöschenden Neonröhren erhellten einen Raum, in dem sich zwei Personen befanden. Die eine war eine Kollegin, die Kei mit einem erleichterten Lächeln grüßte, als er eintrat. Sie saß auf der Holzbank vor den Spinden auf der linken Seite des Raums und band gerade ihre Blumenfeeschuhe zu. Vielleicht war sie erleichtert darüber, nicht mehr allein mit dem ganz offensichtlich wieder einmal übellaunigen Lan zu sein. Kaum dass ihre Schuhe zugebunden waren, schloss sie ihren Spind ab und verließ die Mühle mit flinken Schritten. Dabei hüpfte sie elegant über eine Plastikflasche, aus der sich Wasser auf den Boden ergoss und die aussah wie mitten in den Weg geworfen. Kei hatte sofort eine Vermutung bezüglich der Geschichte dieser Flasche, als ihm seine Kollegin im Vorbeihuschen zuflüsterte „Pass bloß auf, was du sagst.“. Lan saß auf der morschen Bank im hinteren Teil der Mühle, auf der rechten Seite, wo eine Tür in den Kostümfundus führte. Hinter ihm lag eine alte Fleecedecke, unordentlich gegen die Wand geworfen. Er war vornüber gebeugt und stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. Zwischen den Fingern seiner rechten Hand erkannte Kei eine Zigarette, ein Anblick, der ihm überhaupt nicht gefiel. Nun ja, eigentlich gefiel ihm Lans Anblick überhaupt nicht besonders. Er sah blass und ungepflegt aus. Mit ärgerlichem Funkeln in den Augen beobachtete er lieber das Kräuseln seines Zigarettenrauchs als wenigstens für einen Moment zu Kei aufzuschauen, um seinen Gruß zu erwidern. Trotzdem gab sich Kei Mühe, mit ihm in Kontakt zu kommen. Seine heutige Strategie war, Lans Laune einfach eiskalt zu ignorieren und ihn so lange wie einen normalen Freund zu behandeln, bis er sich endlich wieder so benahm. „Schön dass du da bist, wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.“ Keine Antwort. Stattdessen hob Lan wie in Zeitlupe seinen Arm und zog an seiner Zigarette. „Onyx wird sich auch freuen.“ Kei grinste sogar breit, in der Hoffnung, das würde seiner Stimme einen freundlicheren Ton geben. Er zog nebenbei seine Jacke aus, die er an einen Haken über der Bank links hängte. Keine Antwort. „Du hast nicht ernsthaft hier geschlafen, oder?“ Ganz langsam ging Kei an Lan vorbei in den Raum, in dem die Kostüme aufbewahrt wurden. Er suchte dabei den Augenkontakt, konnte jedoch keinen herstellen. Lans Blick war stur auf den Glimmstängel in seiner Hand fixiert. Nicht nur einen Blick, sondern auch jede Antwort blieb Lan Kei wieder schuldig. Lan schien seine Lippen sogar besonders fest aufeinander zu pressen, um ja nicht in die Versuchung zu kommen, versehentlich zu antworten. Auch während Kei die Kostüme für Hofnarr und Schwarzen Ritter aus dem Fundus suchte und in den Umkleideraum trug, adressierte er immer wieder Fragen an Lan, erhielt aber nie eine Antwort darauf. „Wie lang warst du denn schon nicht mehr zu Hause? Pierre wird sich Sor-“ „Lass mich bloß in Ruhe mit dem!“ Oh-oh! Vor Schreck erstarrte Kei mitten in der Bewegung, als er gerade Lans Kostüm an einen Haken über der Bank diesem gegenüber hängte. Er hatte nicht damit gerechnet, überhaupt eine Reaktion von Lan provozieren zu können, ganz zu schweigen von so einer. Kei hatte vergessen, dass er diesen Namen in Lans Gegenwart nicht erwähnen sollte. Was genau zwischen dem Paar vorgefallen war, wusste Kei nicht. Er hatte aber von Ryu erfahren, dass die beiden schon seit geraumer Zeit immer häufiger an einander geraten waren, was schließlich vor etwa eineinhalb Jahren in einem riesigen Streit eskaliert war, nach dem Lan urplötzlich abgehauen war. Pierre sah Kei relativ häufig bei den regelmäßigen Tierarztterminen für ihre Carn. Doch auch aus dem Tierarzt war nie mehr herauszubekommen gewesen als dass er Lan nicht mehr sehen wollte. Seitdem vermied Kei es, den einen vor dem anderen zu erwähnen. Gerade fiel ihm auch wieder ein wieso. Lan war hochgefahren, kaum dass er Pierres Namen gehört hatte. Er schnaufte wütend und seine geballten Fäuste zitterten, weshalb ein paar Ascheflocken langsam auf den Boden zu seinen Füßen rieselten. Nach einem Augenblick hatte Kei seinen Schrecken überwunden und beschloss, das Spielchen nicht mitzuspielen. In aller Seelenruhe hängte er zuerst Lans, dann sein eigenes Kostüm auf und stieg aus seinen Sneakers (ja, die paar Schneeflocken waren kein Grund für Stiefel). „Hier ist Rauchen verboten.“ Lan war, sichtlich überrascht über die fehlende Reaktion auf seinen Ausbruch, zu keiner Antwort fähig. Stumm, aber mit unverändert zorniger Miene sah er Kei an. „Mir ist egal, ob du dich langsam mit Zigaretten umbringst oder dich in Selbstmitleid ertränkst. Aber ich bin Nichtraucher. Also mach das Ding aus!“ Keine Reaktion. „Lan... Ich bin nicht Ryu, der dir einen schlauen Vortrag über Lungenkrebs und Rücksicht hält. Ich werde dich nicht wegen deines ach so schweren Schicksals mit Samthandschuhen anfassen und wenn's sein muss, reiß ich dir die Zigarette mit Gewalt aus der Hand.“ Kei warf dem anderen einen geringschätzigen Blick über die Schulter zu. „Du siehst im Moment nicht so aus als könntest du's mit mir aufnehmen.“ Einen Moment nun hatten die beiden Männer tatsächlich Augenkontakt. In einem Duell der bösen Blicke schienen sie den angekündigten Kampf auszutragen, bis Lan sich ergab. Er sank schnaubend zurück auf seine Bank und drückte ohne Wiederworte seine Zigarette auf dem Holz aus. Die nun freie Hand nutzte er, um ein wenig Ordnung in sein strähniges Haar zu bringen. Trotz der gerade demonstrierten Wut fiel Kei dabei auf, dass Lan immer noch seinen Ehering trug. „Brav“, lobte Kei und schälte sich aus seinem Sweatshirt. „Und jetzt zieh dich um, wir müssen in einer Viertelstunde in der Arena sein.“ Vielleicht war es die Nachwirkung des vorangegangenen Duells. Lan seufzte tief, stand dann aber auf und nahm folgsam sein Kostüm vom Haken, an dem Kei es aufgehängt hatte. Schon ein wenig stolz auf sich beobachtete Kei unauffällig, wie Lan ganz artig seine zerrissene Jeans und das abgetragene Bandshirt gegen seine Rüstung tauschte und auf seinen Auftritt als Schwarzer Ritter vorbereitete. Dass Lan dabei immer noch wütend schnaufte und die Brauen so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass die Falten zwischen ihnen drohten, sich chronisch in sein Gesicht zu graben, war für ihn dabei nebensächlich. In erster Linie zählte, dass Lan überhaupt kooperierte. Gleichzeitig schlüpfte Kei in sein Hofnarrenkostüm und verstaute seine Straßenkleidung und Wertsachen in seinem Spind. Nur ein kleines Kästchen, das er hütete wie seinen Augapfel, steckte er lieber in die Hosentasche seines Kostüms. Sicher war sicher. Absolut pünktlich auf die Minute erreichte Yuki den großen Sitzungssaal, in dem der Rat der Zalei tagte. Die Tür stand noch offen, weshalb der Vorsitzende die heutige Sitzung noch nicht eröffnet haben konnte. Schon vom Ende des Gangs dorthin konnte Yuki das Stimmengewirr seiner Ratskollegen hören und nahm anhand von dessen Lautstärke an, dass die meisten schon eingetroffen waren. Yuki beschleunigte seinen Schritt deshalb ein wenig. Einen Moment später schlug auch Minuit schneller mit den Flügeln, um ihren Herrn wieder einzuholen. Sie schimpfte ihn mit einem Sturzflugmanöver fürs Davonlaufen, mit dem sie von Yuki wenigstens eine kleine Entschuldigung provozierte. Yuki erreichte die Tür zum Sitzungssaal gerade rechtzeitig, um nicht ausgesperrt zu werden. Der Vorsitzende hatte gerade die Hand auf die Klinke gelegt und war im Begriff, die schwere Tür zuzuziehen, als er Yuki sah. „Guten Tag! Du bist ja tatsächlich pünktlich“, drückte er seinen Respekt aus. „Hallo, Ryu“, grinste Yuki etwas verlegen. „Deine spontane Terminänderung hat mir aber trotzdem Ärger sowohl im Büro als auch daheim eingebrockt. So schnell ist es schwer, eine Betreuung für Momoi zu finden.“ An seinem Bruder vorbei trat Yuki in den Saal, gefolgt von Minuit. Kaum dass die Fledermaus durch den Spalt geschlüpft war, zog Ryu die Tür zu. Er und Yuki setzten ihre Unterhaltung auf dem Weg zu ihren Sesseln im Kreis der Ratsmitglieder fort. Dabei unterbrachen sie ihre Worte hin und wieder, um ihre Ratskollegen zu begrüßen. „Sorry, ich weiß. Aber mir war es wichtig, dass wir das Thema heute auf jeden Fall durchkriegen. Wir mussten Taro auch spontan zu seiner Oma bringen.“ Mit Taro war hier natürlich nicht Ryus und Yukis Vater gemeint, sondern Ryus fünfjähriger Sohn. Dessen Großvater war nach kurzer, aber schwerer Krankheit gestorben. Er hatte noch erfahren, dass sein Sohn und seine Schwiegertochter ein Kind erwarteten, aber die Geburt seines Enkels leider nicht mehr erlebt. Yuki wusste, dass Ryu und ihr Vater sich ausgesprochen und ihren Frieden gemacht hatten. Aber dass Ryu sogar seinen Sohn nach ihm benannte, war schon eine Überraschung gewesen. Lisha, mit der Ryu seit inzwischen schon fast acht Jahren verheiratet war, war übrigens niemand anders als die rothaarige stellvertretende Vorsitzende, die Ryu seinerzeit aus dem Rat ausgeschlossen hatte. „Meine Mutter würde sich bedanken, in ihrem Alter eine aufgedrehte Zaleischülerin und einen Dachs babysitten zu dürfen“, überlegte Yuki laut. „Alles hat seine guten und seine schlechten Seiten“, schloss Ryu und spielte wohl darauf an, dass sein Sohn ohne das Talent eines Zalei geboren worden war. Als Yuki und Ryu auf ihren Sesseln platzgenommen hatten, verstummten langsam die Gespräche im Saal. Die Ratsmitglieder richteten ihre Blicke auf ihren Vorsitzenden und warteten, bis dieser die heutige Sitzung eröffnete. Nachdem er sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher war, erhob sich Ryu, um seine Begrüßung stehend zu halten. Ryu hatte sich durch seine jahrelange harte Arbeit nicht nur zu einem hochrangigen Zalei gemausert, sondern war auch ein Ratsvorsitzender, der den Respekt der ganzen Zaleigesellschaft genoss. Allein schon durch seine Ausstrahlung, seine Haltung im guten Anzug und mit entschlossenem Blick beherrschte er den Saal. Umso mehr tat er es, als er mit seiner sehr tiefen und ruhigen Stimme zu sprechen begann. Kaum dass er das Wort erhoben hatte, wurde es mucksmäuschenstill im Raum. „Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen und entschuldige mich noch einmal für die kurzfristige Terminänderung. Wie Sie der Tagesordnung entnehmen konnten, die Ihrer Einladung beilag, befasst sich der Rat der Zalei heute mit einem durchaus pikanten Thema. Es geht um die Einstellung der früheren K.R.O.S.S. Forschungen.“ Ryu legte hier eine rhetorische Pause ein, denn entsprechend der Pikanterie des Themas, hatte sich ein Gemurmel im Saal eingestellt. Erst als dieses etwas abgenommen hatte, sprach Ryu weiter. „Damit auch die erst kürzlich gewählten Mitglieder des Rats denselben Stand haben, darf ich die bisherigen Ereignisse knapp für Sie zusammenfassen. Vor zehn Jahren wurde nach dem Untergang der Organisation K.R.O.S.S. umfangreiches Material über unsere Gesellschaft und den Zaleischamanismus zu Tage gefördert. Darunter befanden sich geheime Forschungen zur Manipulation des Zaleitalents, unter deren Folgen einige unserer Mitzalei bis heute leiden.“ Um den Blicken der anderen im Saal auszuweichen, senkte Yuki den Kopf und sah auf den Boden vor sich. Er hatte gelernt, mit seiner Situation umzugehen. Obwohl er zwar das Fliegen vermisste, ging es ihm doch ganz gut. Yuki besaß sein schamanisches Talent noch, auch wenn er seinen Körper nicht mehr verlassen konnte. Natürlich würden sich alle Augen angesichts von Ryus Worte auf ihn richten, doch eigentlich war er relativ gut davongekommen. Er war er selbst geblieben. Ein Glück, dass nicht alle Opfer von K.R.O.S.S.s Experimenten teilten. „Da einzelne Mitglieder dieses Rats beteiligt gewesen waren, richtete er einen Kontrollstab ein, der fortan die Aktivitäten des Rats der Zalei überwachte. Als später die Ausmaße der Aktivitäten von K.R.O.S.S. bekannt wurden, wurde darüber hinaus eine Unterabteilung dieses Stabs gebildet, der sich der Aufarbeitung der Forschungen von K.R.O.S.S. widmete. Das Ziel ihrer Arbeit war insbesondere die Suche nach einem Heilmittel für die Geschädigten.“ Trotz seiner Bemühungen, ein Pokerface zu wahren, konnte Yuki nur skeptisch schnauben. Er hatte sich von Anfang an keine Hoffnungen gemacht, den Körpertausch irgendwann wieder zu beherrschen. K.R.O.S.S. hatte seine Daten viel zu gut verschlüsselt und seine Spuren zu gut verwischt. Niemand außer Ryami hatte vermutlich jemals über alle Informationen verfügt und Ryami hatte sie mitgenommen – nicht ins Grab, aber dorthin, wo auch immer sie jetzt war. Für Yuki war es nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch Zeitverschwendung, sich mit den Papierbergen aus der K.R.O.S.S.-Zentrale zu beschäftigen. „Aufgrund des Beschlusses dieses Rats wurde dem Forschungsstab ein Budget für Forschungen über die Dauer von zunächst fünf Jahren zugesichert. Diese Zusage wurde später um zwei weitere Jahre verlängert.“ Unhörbar für die anderen Ratsmitglieder seufzte Yuki leise. Dieser Verlängerungsbeschluss war zu einer Zeit gefasst worden, in der Kei ebenfalls dem Rat angehört hatte. Yuki war zwar bewusst, dass Kei mit seiner Stimme vor allem ihm helfen wollte, aber sie hatte damals einen gehörigen Streit zwischen dem Paar ausgelöst. Sicher hatte auch der seinen Teil dazu beigetragen, dass Kei nach einem kurzen Gastspiel recht schnell wieder aus dem Rat ausgeschieden war. Aufgrund seines großen schamanischen Talents und seines Anteils am Ende von K.R.O.S.S. war er gewählt worden, nachdem er Sitzungen aber regelmäßig geschwänzt hatte, eingeschlafen war oder die Tagesordnung öffentlich als stinklangweiligen Blödsinn bezeichnet hatte, hatte der Vorsitzende ihm nach wenigen Monaten den Rücktritt nahegelegt. Ryu bewunderte zwar wie so viele Keis enormes Talent, war jedoch genervt von dessen Sorglosigkeit und Unzuverlässigkeit. Heute befand er sich zwar nicht mehr im Rang unter Kei, doch zugegebener Maßen war Ryu auch etwas eifersüchtig gewesen, dass er selbst sich diesen Rang hatte hart erarbeiten müssen, während Kei diese Kraft in die Wiege gelegt war. Natürlich hatte er aber nicht deshalb Kei das Ausscheiden aus dem Rat empfohlen, sondern wegen seiner wiederholten Verstöße, die er etwa mit „Wie konnte ich nur annehmen, dass du irgendwann erwachsen wirst.“ kommentiert hatte. „Da dieser Beschluss in zwei Monaten ausläuft und damit die Fördermittel für weitere Forschungen nach dieser Frist eingestellt würden, hat die Leiterin des Forschungsstabs einen Antrag auf eine weitere Verlängerung eingereicht. Das Papier wurde Ihnen mit der Einladung zugeleitet. Bevor ich es Ihnen vorlese, schlage ich aber vor, die Verfasserin persönlich anzuhören.“ Nachdem sich kein Widerstand in den Reihen der Ratsmitgliedern regte, veranlasste Ryu in seiner Vorsitzendenfunktion die Anhörung der Leiterin des Forschungsstabs. Er nahm nun auch endlich in seinem Sessel an der Stirnseite des Sitzungssaals Platz, während die junge Frau hereingeführt wurde. Es war eine Frau, die er nur zu gut kannte, nämlich seine eigene ehemalige Schülerin. Kiku hatte nach der Schule eine ungewöhnliche Kombination von Studien der Biochemie und Psychologie abgeschlossen und sich schon während dieser an der Aufarbeitung der Unterlagen von K.R.O.S.S. beteiligt. Vielleicht weil sie selbst dem Irrweg dieser Organisation gefolgt war, vielleicht auch weil mehrere ihrer Freunde geschädigt worden waren, schien es ihr ein ganz persönliches Anliegen zu sein, Wiedergutmachung leisten zu können, indem sie ein Heilmittel entdeckte. Kiku war sichtlich aufgeregt, als die Absätze ihrer Stiefeletten auf dem Marmorboden laut verkündeten, dass sie in die Mitte des großen Saals trat. Um ihre Nervosität zu überspielen, grinste sie frech und winkte zu ihrem ehemaligen Lehrer und dessen Bruder, aber Yuki erkannte, dass ihre Hand dabei ein wenig zitterte. Auch ihr Äffchen Jack, das auf ihrer Schulter saß, schaukelte ein wenig hin und her. „Sehr geehrter Rat der Zalei“, begann Kiku, nachdem ihr das Wort erteilt worden war, „Wie Sie wissen, leistet unser Forschungsteam seit inzwischen fast sieben Jahren harte Arbeit, um das verlorene Wissen wiederzufinden, das die Organisation K.R.O.S.S. auf Kosten unserer Gesellschaft erlangt hat. Dabei haben wir schon so einige Erfolge verbuchen können, besonders was die Natur und Messbarkeit des schamanischen Talents angeht. Gleichzeitig arbeiten wir unermüdlich daran, den Opfern der früheren K.R.O.S.S.-Experimente helfen zu können. Die Zusammensetzung der verabreichten Substanzen war hochkomplex und ausschließlich der früheren K.R.O.S.S.-Leiterin bekannt. Auch wenn wir schon weit gekommen sind, benötigen wir noch mehr Zeit. Ich bitte Sie deshalb im Namen des ganzen Forschungsstabs und im Interesse der Opfer von K.R.O.S.S., Ihre finanzielle Unterstützung zu verlängern.“ Mit ihren letzten Worten deutete Kiku einen Knicks an. Gespannt sah sie sich in den Reihen der Ratsmitgliedern um, in deren Gesichtern sie von selbstverständlicher Zustimmung über Mitleid für die Opfer und Verachtung für K.R.O.S.S. bis hin zu strikter Ablehnung jede Haltung lesen konnte. Ausgerechnet Yuki ergriff als erster Vertreter des Rats das Wort. „Abgesehen davon, dass mich die Formulierung „im Interesse der Opfer“ etwas stört, will ich auch eine Frage stellen“, Yuki setzte sich mit geraden Rücken auf, während er ein paar weiße Strähnen hinter seine Schultern warf. „Bei der Gründung des Kontroll- und auch des Forschungsstabs ging es dem Rat damals in erster Linie darum, mit den alten Praktiken abzuschließen, die zum bekannten Desaster geführt haben. Sollte unser Interesse deshalb nicht sein, endlich die Akte K.R.O.S.S. ein- für allemal zu schließen? Dazu gehört auch, nicht mehr ständig in ihren Unterlagen zu wühlen oder sogar alte Forschungen fortzusetzen.“ „Unsere Forschungen entsprechen keineswegs denen von K.R.O.S.S.“, Kiku hob abwehrend die Hände. „Unsere Praktiken sind allesamt legal und wir arbeiten grundsätzlich nicht mit Versuchen an Lebewesen, weder menschlichen noch tierischen. Wir untersuchen die chemischen Zusammenhänge und Reaktionen von biologischen, psychologischen und parapsychologischen Phänomenen ausschließlich unter Laborbedingungen.“ „Ich kenne eure Forschungen und ich will euch auch keine illegalen Experimente unterstellen“, winkte Yuki ab. „Mir geht es um die Frage, ob sich die Gemeinschaft der Zalei nicht moralisch mitschuldig macht, wenn sie die Forschungen von K.R.O.S.S. anerkennt und sogar fortsetzt. Oder um es noch krasser auszudrücken: erteilt die Gemeinschaft der Zalei dann nicht rückwirkend ihr Einverständnis mit den Praktiken von K.R.O.S.S.?“ Für einen Moment herrschte betroffenes Schweigen im Saal, gefolgt von verunsichertem Getuschel. Auch Kiku selbst musste einmal trocken schlucken und sich räuspern, bevor sie antworten konnte. „Auf keinen Fall! Die ganze Gesellschaft der Zalei, dieser Rat und unser Stab distanzieren sich ganz ausdrücklich von K.R.O.S.S. und seinen Methoden. Aber Yuki! Nur weil die Erkenntnisse durch ungesetzliche Praktiken erlangt wurden, willst du sie wegwerfen, obwohl man mit ihnen vielen Menschen helfen könnte?“ „Nur weil…? K.R.O.S.S. hätte niemals über diese Informationen verfügen dürfen, genauso wie vielleicht auch wir oder irgendjemand anders nicht darüber verfügen sollte. Vergessen wir nicht, um welche Art von Erkenntnissen es hier geht!“, nun lehnte sich Yuki in seinem Sessel vor, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Es geht um Wissen, wie man das Bewusstsein gewaltsam aus dem Körper treibt, wie man das Bewusstsein gewaltsam im eigenen oder einem fremden Körper einsperrt, wie man schamanisches Talent versiegelt, löscht oder stiehlt. Ich halte es durchaus für eine sehr gute Lösung, wenn dieses Wissen einfach verloren bleibt.“ „Das ist deine Meinung, Yuki. Wenn du deine Chance auf Heilung deiner Moralvorstellung opfern willst, kannst du das gerne tun. Darüber haben wir ja schon früher geredet. Aber sprich bitte nicht für andere Opfer, die tagtäglich leiden und ein Heilmittel dankbar annehmen würden, egal aus welcher Quelle.“ Kiku atmete schwer. Sie musste sich sehr beherrschen, nicht die Stimme zu erheben. Jack auf ihrer Schulter spürte wohl ihre Erregung und ihren Missmut, denn er maulte auf seine Art nach. Ja, sie hatte schon vor Jahren mit Yuki diese Diskussionen geführt. Tatsächlich hätte sie ihm – vielleicht – schon lange helfen können, wenn er nur bei den Forschungen mitgearbeitete hätte. In Yukis Fall war sein schamanisches Talent an sich unangetastet geblieben, jedoch seine telepathische Pforte versiegelt worden. Nach allen Daten von K.R.O.S.S., die der Forschungsstab inzwischen zugänglich gemacht hatte, fehlte nicht mehr viel, um ein Serum zu entwickeln, das diese Versiegelung aufheben konnte. Nur lehnte Yuki leider aus moralischen Gründen jede Zusammenarbeit kategorisch ab. Er hielt es für ethisch falsch, auch nur annähernd denselben Weg zu beschreiten wie K.R.O.S.S. und war dabei zu keinem Kompromiss bereit. Bei den anderen Opfern von K.R.O.S.S. sah es dagegen ganz anders aus. Lans schamanische Kraft war komplett gestohlen und Ryami übertragen worden. Um Lan zu helfen, musste man nicht nur seine Kraft wiederfinden, sondern anschließend auch wieder auf ihn zurückübertragen. Dazu musste man aber zuerst Ryami retten. Inzwischen wusste der Forschungsstab, dass Ryamis Bewusstsein wohl gewaltsam aus ihrem Körper getrieben und dieser anschließend versiegelt worden war. Damit war es ihm zum aktuellen Zeitpunkt nicht nur unmöglich, Ryami sondern auch Lan zu helfen. Ryami lag seit bald zehn Jahren in einem Krankenhaus im Koma und wurde nur durch Maschinen am Leben erhalten. Taki gab die Hoffnung jedoch nicht auf, dass ein Durchbruch in Kikus Forschungen ihrer Schwester eines Tages das Leben retten würde. Diesen Wunsch hätte Kiku ihrer Freundin nur zu gern erfüllt. Während Ryami ihre Haltung nicht kommunizieren konnte, Lan so ziemlich alles völlig egal war und Yuki die Fortsetzungen der Forschungen strikt ablehnte, unterstützte Pierre diese sehr. Anfangs hatte Kiku angenommen, dass Pierre deshalb weniger moralisch und mehr praktisch an die Sache herangegangen war, weil er selbst Mediziner war. Mit der Zeit hatte sie aber verstanden, dass es dem Tierarzt, obwohl er sich anfangs noch alle Mühe gegeben hatte, seine Leiden kleinzuspielen, richtig schlecht ging. K.R.O.S.S. hatte ihm ein Mittel verabreicht, das sein Bewusstsein aus seinem Körper trieb und diesen anschließend versiegelte, so dass es nicht zurückkehren konnte. Dafür war die Dosis glücklicherweise zu gering gewesen, aber es hatte gereicht für die Dauerkarte einer wilden Achterbahnfahrt und damit verbundene Leiden. Die Wirkung schien sogar mit der Zeit immer unberechenbarer zu werden. Um Pierre helfen zu können, musste die teilweise Versiegelung seiner telepathischen Pforte gelöst und die Wirkung des Mittels aufgehoben werden, das sein Bewusstsein aus seinem Körper trieb. Hätte Yuki sich zu einer Zusammenarbeit mit dem Forschungsstab überwinden können, hätte also auch Pierre zumindest teilweise davon profitieren können. Wenn Yuki doch nur nicht so ein verdammt sturer Gutmensch wäre! Kiku stand in regelmäßigem Kontakt mit dem Tierarzt. Gerade letzte Woche erst hatte sich Pierre einen Tag Zeit genommen, um sie bei ihren Forschungen zu unterstützen. Bei dieser Gelegenheit hatte Kiku wieder einmal unmittelbar die Spätfolgen dieses Mittels von K.R.O.S.S. beobachten können. Sie war eine der wenigen, die wussten und verstanden, warum der Tierarzt immer häufiger versuchte, den Schmerz und die Erinnerung in Alkohol zu ertränken. Kiku hätte ihm nur zu gern geholfen. Für sie war es aber deutlich schwerer, zwei Heilmittel auf einmal zu entwickeln, deren Wirkungen sich nicht gegenseitig blockierten. Kiku war zuversichtlich, dass sie es schaffen konnte, aber es kostete eben mehr Zeit und Geld. Deshalb war sie darauf angewiesen, dass der Rat ihr heute beides bewilligte. „Du hast recht, Kiku. Ich bin heute nicht hier als Opfer von K.R.O.S.S., sondern als Mitglied dieses Rates. Als solches bin ich der Meinung, dass es unsere Verantwortung und unsere Pflicht ist, ein gefährliches Wissen wie dieses zum Schutz aller Zalei zu vernichten, und uns ganz klar von den früheren Verbrechen von K.R.O.S.S. zu distanzieren, indem wir nicht in dessen Fußstapfen treten, um seine Forschungen fortzusetzen“, wiederholte Yuki seinen Standpunkt. „Es gibt Menschen, die unter diesen früheren Verbrechen leiden und auf Hilfe hoffen. Diese Hoffnung willst du wegen deiner Prinzipien enttäuschen“, erwiderte Kiku, noch immer hörbar geladen. „Aber was noch schlimmer ist: es gab bereits einmal eine Organisation, die dieses gefährliche Wissen erlangt und damit diese Verbrechen begangen hat. Wer sagt uns denn, dass so etwas nicht wieder passen kann? Und dann stehen wir wieder da, ohne dieses Wissen, ohne Heilmittel, ohne Hoffnung. Ist das nicht noch viel unverantwortlicher?“ „Diese Forschungen sind ein Spiel mit dem Feuer. Wir sind der Gesellschaft der Zalei und ihrem Schutz verpflichtet.“ „Ganz genau!“ Tatsächlich ging die ganze Diskussion um Moral, Ethik und Praktikabilität der Forschungen mit ihrem ganzen Für und Wider noch eine ganze Weile hin und her. Dem Stand der Sonne nach war es schon nach Mittag. Yuki und Kiku blieben die ganze Zeit über die Hauptakteure, auch wenn sich mehr und mehr weitere Ratsmitglieder in die Diskussion einklinkten. Es wurden viele Aspekte angesprochen und erörtert, doch letztendlich war das ganze Thema in seiner Komplexität nicht mit einer eindeutigen Haltung zu beantworten. „Wir haben wohl genug über die Hintergründe und Haltungen gehört“, brach Ryu die Diskussion schließlich ab. Er strich ein paar schwarze Haarsträhnen aus seinem Gesicht und richtete sich in seinem Sessel auf. „Wenn du um Verlängerung der Unterstützung bittest, um welche Größenordnung und Dauer sprechen wir da, Kiku?“ Erleichtert, sich nicht weiter mit der Sturheit dieses Moralapostels von Yuki auseinander setzen zu müssen, richtete sich Kiku an ihren ehemaligen Lehrer. Mit einem Finger schob sie elegant ihre Brille nach oben. Yuki stützte dagegen den Kopf in eine Hand, während er mit der anderen über Minuits Kopf strich, die wenig zuvor auf der Lehne seines Sessels gelandet war. „Die bisherige monatliche Summe für zwei weitere Jahre,“ gab Kiku an. Auch wenn Yuki nach wie vor kein Interesse zeigte und sie nicht sagen konnte, ob sie Lan und Ryami jemals würde helfen können, so wollte sie wenigstens Pierres Schicksal erleichtern. Dafür sollten zwei weitere Jahre der Forschungsarbeit ausreichen. Vielleicht würde sie dann sogar auch Meister Adoy helfen können, der Kikus Meinung nach nach zehn Jahren in einem Terrarium aufgrund seiner guten Führung Milde verdient hatte. Ryu nickte nüchtern, bevor er sich ans Gremium wandte. „Gibt es noch weitere Rückfragen, Ergänzungen oder Anträge zu diesem Tagesordnungspunkt? Andernfalls gehen wir zur Abstimmung über, bevor wir uns dem nächsten Tagesordnungspunkt zuwenden.“ In der folgenden Abstimmung beschloss der Rat mit knapper Mehrheit von fünf zu sieben Stimmen, den Forschungsstab für weitere zwei Jahre finanziell zu unterstützen. Kiku bedankte sich daraufhin überschwänglich beim Rat, bevor sie dessen Mitglieder ihrer weiteren Tagesordnung überließ. Auf ihrem Weg hinaus ließ sie es sich jedoch nicht nehmen, in einem unbeobachteten Moment Yuki triumphierend die Zunge rauszustrecken. Zu dieser Zeit hatte die heutige Rittershow schon ein jähes Ende gefunden. Zuerst hatte nichts vermuten lassen, dass ein Unglück bevorstand. Kei war mit viel Spaß seinem Job als Hofnarr nachgegangen und hatte das Publikum auf den sich füllenden Rängen unterhalten, bis die Show begonnen hatte. Der Hofstaat war eingezogen, danach die edlen Ritter, die sich in einem Turnier hatten messen wollen. Plötzlich hatte dann der berüchtigte Schwarze Ritter mit seinem furiosen Auftritt auf seinem schwarzen Ross das königliche Fest gesprengt. Er war durch das Tor galoppiert, einmal rundum durch die Arena gejagt und hatte seinen schwarzen Hengst direkt vor die Bühne des Königspaares gelenkt, wo der sich wiehernd aufgerichtet hatte. Wie bei jedem ersten Auftritt des Antagonisten war ein Raunen durch die Menge gegangen. Kei hatte diesen Teil der Show von der Seite hinter der Bühne des Königspaares beobachtet. Für die Minuten, in denen Lan in seiner schwarzen Rüstung auf Onyx‘ Rücken saß, war er ganz und gar der Alte. Er provozierte den König und die anderen Ritter mit tiefer, fester Stimme und ritt wie der Teufel. Das Drehbuch sah vor, dass der Schwarze Ritter beim Turnier im Duell gegen den edlen königlichen Ritter unterliegen sollte. Zunächst hatten die Ritter sich beim Lanzenstoßen duelliert. Eigentlich hätte Lan erst beim vierten Ritt aus dem Sattel gehoben werden und sich danach noch mit dem Schwert weiter mit dem königlichen Ritter schlagen sollen, während sein Ross aus der Arena lief. Der andere hatte ihn aber schon beim dritten Ritt so ungünstig mit der Lanze getroffen, dass Lan vom Pferd gestürzt und dummer Weise auch Onyx kurzzeitig zu Boden gegangen war. Onyx hatte sich daraufhin aufgebäumt und war so aus der Arena galoppiert wie er es sonst nach dem vierten Ritt getan hatte. Lan war inzwischen wieder aufgestanden und hatte sein Schwert gezogen. Die Choreographie des Duells mit dem königlichen Ritter hatte er noch zusammengekriegt, aber Kei war Lans Taumeln nicht entgangen und auch nicht, dass er sich dem königlichen Ritter etwas früher hatte ergeben müssen als gewohnt. Das Publikum, das das Drehbuch freilich nicht kannte, hatte davon nichts gemerkt und applaudierte. Etwas später nun hatte Kei sowohl den Schwarzen Ritter als auch dessen Pferd in den Stall gebracht. Das war nicht ganz einfach gewesen, denn beide hatten etwas abbekommen und hinkten. Onyx hatte sich nach einer Weile, die er in seiner Box gestanden hatte, auf den strohbedeckten Boden niedergelassen. Er nutzte die Gelegenheit, um sich ein paar Streicheleinheiten von seinem Herren zu ergaunern. Kei hatte Lan nämlich direkt neben der Box auf den Boden platziert, wo er nun Onyx‘ Kopf auf seinem Schoß fand. Geistesabwesend und lauthals schweigend strich Lan über das samtige schwarze Fell. Dass Lan hinkte, war nicht zu übersehen gewesen, aber er hatte sich auf Keis Nachfrage hin nicht so recht festlegen können, ob nun sein Knie verdreht oder sein Knöchel verstaucht war. Kei hatte daraufhin beschlossen, den anderen einfach in die Ecke zu setzen und ihm einen Eisbeutel in die Hand zu drücken. Anscheinend hatte sich Lan zunächst für das Knie entschieden. So oder so, nachdem Lan noch hatte aufstehen und die Show zu ihrem vorgezogenen Ende durchstehen können, ging Kei nicht von einer ernsten Verletzung aus. Kei wartete inzwischen auf den Tierarzt, den er für Onyx gerufen hatte. Natürlich war das niemand anders als Pierre. Deswegen hielt Kei es auch für eine sehr schlechte Idee, sich jetzt zurückzuziehen. Am liebsten allerdings hätte er sich wieder einmal unerlaubt von der Arbeit entfernt, um nach seiner Schülerin zu suchen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm nämlich, dass sie schon längst hätte hier sein müssen. Und überhaupt! Yukis Sitzung sollte doch auch schon langsam beendet sein! Aber eine unbeaufsichtigte Konfrontation von Lan und Pierre konnte Kei nicht verantworten. Deshalb blieb er und wartete mit Lan und Onyx. Noch so einige Male tickte der Minutenzeiger seine Runden, bevor der erwartete Tierarzt die Stalltür öffnete. Manche Dinge änderten sich nie, und dazu gehörte definitiv das in Stein gemeißelte Gesetz, das Pierre nie – aber auch wirklich niemals – pünktlich war. Auf hochhackigen Stiefeln, die sicher nicht zufällig perfekt zum Leder seines Arztkoffers passten, trat er aber endlich ein. Pierre hatte heute wohl einen guten Tag, denn er wirkte recht gesund. Sein Teint sah frisch aus und er hatte auch sein Haar gerichtet. Pierre trug seine blonde Mähne inzwischen deutlich kürzer als früher, gerade so lang, dass sie in großen, gestuften Locken sein Gesicht umrahmte. Antoinette, die wie eine Stola über seinen Schultern lag, federte mit seinen Schritten mit. „Bon-“, begann Pierre mit einem Lächeln, das augenblicklich verschwand, sobald sein Blick den Schwarzgekleideten in der Ecke traf. Genervt die Augen verdrehend beendete er seinen Gruß „-jour.“ „Hi, Pierre! Danke dass du so schnell gekommen bist. Es gab einen Unfall bei der Rittershow.“ Kei war zum Eingang des Stalls geeilt, um Pierre vorsichtshalber den Rückweg abzuschneiden, sollte der sich bei Lans Anblick aus dem Staub machen wollen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Pierre atmete laut aus, schien aber keine Fluchtgedanken zu hegen. Auch Lan hatte das Gesicht verzogen und starrte demonstrativ in eine andere Richtung. „Isch hätte gleisch wissen sollen, dass heute nischt du geritten bist, sondern Lan. Lan kann ja auch absolut gar nischts mehr“, spottete Pierre provozierend. „Hey! Das stimmt doch nicht“, winkte Kei beschwichtigend mit den Armen „Lan ist echt toll geritten. Der andere hat nur die Choreographie verpeilt. Deshalb ist Onyx gestürzt.“ „Naturellement. Es sind immer die anderen.“ Kei führte Pierre zu Onyx‘ Box hinüber, was es den beiden Streithähnen schwer macht, einander zu ignorieren. Jetzt wo er dem Franzosen näher kam, bemerkte Kei erst den verräterischen Geruch von Alkohol. Pierre machte in diesem Moment keinen alkoholisierten Eindruck, aber es erinnerte Kei daran, dass er diesen Geruch nicht zum ersten Mal in seiner Gegenwart wahrnahm. Lan biss fest die Zähne zusammen, als könnte er sich dadurch davon abhalten, Pierres Provokationen mit Beleidigungen zu beantworten. Seine Züge spiegelten jedoch deutlich seinen Ärger. Pierre dagegen ignorierte den anderen zunächst vollständig. Nachdem er seine Arzttasche abgestellt hatte, ließ er Antoinette auf den Boden gleiten. Er brachte Onyx dazu, aufzustehen und untersuchte den Hengst, ohne dabei ein Wort oder auch nur einen Blick an dessen Reiter zu verlieren. „Normallement würde isch ja den Zalei bitten, in den Körper seines Carn zu schlüpfen und mir zu sagen, wo es wehtut. Aber in diesem speziellen Fall geht das ja nischt.“ Pierre streute aus purer Boshaftigkeit Salz in die Wunde und beobachtete mit einem verstohlenen Blick über die Schulter seinen Erfolg. Fältchen um seine eisblauen Augen verrieten sein Lächeln. Blass und mit tiefen Augenringen lehnte Lan an der Wand, immer noch bemüht, nichts zu sagen. Aber sein Zorn war nicht zu übersehen. Für einen Moment fürchtete Kei schon, dass Lan sich auf Pierre stürzen würde, um ihm mit bloßen Händen den Kopf abzureißen. In diesem Moment war er froh, dass Lan beim Turnier gestürzt und allein körperlich nicht in der Lage dazu war. Es dauerte nicht lang, bis Pierre das Problem in einer Verletzung an Onyx‘ linkem Vorderlauf ausgemacht hatte. Der Hengst signalisierte durch lautes Wiehern, dass es die schmerzende Stelle war, als Pierre erneut darüber strich. „Ah voilà. Onyx war schon immer kooperativer als sein Zalei.“ „Was willst du eigentlich von mir?“, zu jedermanns, vermutlich auch Lans eigener, Überraschung schwang nicht halb so viel Aggression in seiner Stimme mit, wie er erwartet hatte. Seine Stimme klang zwar ärgerlich, aber auch so ausgelaugt wie es seinem Aussehen entsprach. „Gar nischts!“, Pierre drehte sich nun tatsächlich vollständig zu Lan um und sah ihn direkt an. „Du hast es wirklisch geschafft, dass isch gar nischts mehr von dir will, außer dass du endlisch deinen Hintern zum Gerischt bewegst und deinen verdammten Namen unter dieses Papier setzt!“ „Papier…?“, fragte Kei ahnungslos. „Scheidung“, antwortete Lan so knapp wie nur möglich. Inzwischen hatte Pierre seine Arzttasche geöffnet, einige Werkzeuge und Mittelchen daraus entnommen und begann, Onyx‘ Wunde zu versorgen. „Ihr wollt euch scheiden lassen?“, wiederholte Kei. „Oui, ist das so überraschend? Wir streiten ja nur noch. Aber Lan ist seit Monaten nischt in der Lage, einen Kalender zu lesen oder seinen Namen zu schreiben. Pauvre petit Lan, kann überhaupt nischts mehr.“ Lan antwortete zunächst nicht. Aber Kei erkannte, dass sich die sonst so versteinerte Miene veränderte. Er glaubte sogar zu erkennen, wie die Wut nun Traurigkeit wich. Die beiden Männer waren nicht nur wütend aufeinander. Da steckte wohl deutlich mehr dahinter. Natürlich war Kei nicht entgangen, dass die beiden Männer schon lange nicht mehr das verliebte Ehepaar gewesen waren, das vor Glück fast platzte. Die teilweise sehr lauten Auseinandersetzungen und die kleinen und großen Boshaftigkeiten waren nicht zu übersehen gewesen. Mit derselben Leidenschaft, mit der sie sich früher geliebt hatten, machten sie jetzt einander das Leben schwer. Was konnte nur passiert sein, dass diese große Liebe sich zu dem hier entwickelt hatte? „Beim Termin vor zwei Monaten hat uns der Richter wieder nach Hause geschickt, weil du sternhagelvoll warst, Pierre. Du kannst nicht nur mir die Schuld geben, dass wir immer noch verheiratet sind.“ „Ich glaub das alles gar nicht“, gab Kei hilflos zu, als er sich gegen das Holz neben Onyx‘ Box lehnte. „Ihr habt euch doch so geliebt! Ihr habt so viel für einander geopfert, Jahre auf einander gewartet und hättet euer Leben für den anderen gegeben. Die erste Zeit nach Adoy hätte ich nicht gedacht, dass auch nur ein Blatt zwischen euch passt.“ Keis Worte hatten die Männer tatsächlich in ein nachdenkliches Schweigen gehüllt. „Was ist nur mit euch passiert?“ „Es ist einfach zu viel“, ausgerechnet Lan antwortete nun mit zittrigem Ton. „Ich bin mir selbst zu viel, Pierre ist sich selbst zu viel und zusammen sind wir einander erst recht zu viel.“ „Aber so endet doch keine Liebesgeschichte!“, protestierte Kei. „Was ist aus „in guten wie in schlechten Zeiten“ geworden?“ „… Es konnte ja keiner ahnen, wie schlecht die schlechten Zeiten werden würden…. Außerdem hat Pierre ja seine neue Liebe, Wein…“, hauchte Lan mehr als er sprach. Dabei legte er den Eisbeutel nun auf seinen Kopf, möglicherweise um seine Augen dahinter zu verbergen, deren Blick immer unfokussierter wurde. „Dann beende es doch endlisch, mon dieu! Na los! Geh zum Gerischt und zieh endlisch einen Schlussstrisch! Zut! Tu uns beiden den Gefallen!“ Zornig schleuderte Pierre den Tupfer zu Boden, den er eben in der Hand gehalten hatte. Dabei bemerkte Kei, wie verräterisch ein Ring an besagter Hand im Sonnenlicht aufblitzte, das durch die Fenster drang. In einem schweren Schritt auf Lan zu hatte Pierre sich erhoben. Sein Gesicht zeigte kaum noch Verletzung, nur blanke Wut. Er wollte wohl noch ein paar weitere Kommandos oder Beleidigungen nachsetzen, doch stattdessen entfuhr ihm nur ein schmerzverzerrtes „Haah“. Eben noch war Kei erschrocken herumgefahren, um Pierre zurückzuhalten. Doch jetzt fiel ihm die Aufgabe zu, ihn zu stützen. Der Tierarzt sackte plötzlich kraftlos zusammen. Er atmete schwer, zitterte und zischte irgendwelche Flüche zwischen die Zähne hindurch, die Kei nicht recht verstehen konnte. Unter Schmerzen verkrampften sich alle Glieder des Franzosen, während er mit sich rang. Vermutlich dauerte das ganze Schauspiel weniger als eine Minute, doch Kei schien es wie eine Ewigkeit. Schließlich fiel Pierres Körper leblos in seinen Arm. Kei brauchte noch einen Moment, bis er begriff, was passiert war. Das Mittel, das K.R.O.S.S. Pierre verabreicht hatte, wirkte aufgrund der zu geringen Dosis nicht dauerhaft, aber völlig unberechenbar. Diese unkontrollierbare Wirkung schien sogar mit den Jahren immer schlimmer zu werden. Aus heiterem Himmel fühlte Pierre dann ein Kribbeln ähnlich wie das von eingeschlafenen Füßen, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Anschließend wurde er so wie eben gegen seinen Willen zum Körpertausch gezwungen. Pierre konnte das nicht kontrollieren und sich nicht wehren, meistens sah er es nicht einmal kommen. Nach all den Jahren hatte er nur bemerkt, dass es öfter passierte, wenn er übermüdet oder gestresst war. Oft passierte es auch, wenn er betrunken war. Allerdings flüchtete sich Pierre auch immer wieder in seinen Wein, um den Schmerzen zu entgehen. Ein Teufelskreis. Nach einer Weile konnte Pierre wieder in seinen eigenen Körper zurückkehren, doch nachdem das Mittel von K.R.O.S.S. auch seine telepathische Pforte halb versiegelt hatte, war das mit großer Anstrengung und noch größeren Schmerzen verbunden. Auch nach der Rückkehr in seinen Körper nahm das schmerzhafte Kribbeln erst langsam ab. Es machte jedes Muskelzucken zu einer Qual. „War das…?“, fragte Kei heiser, während sein Blick zu der schwarzen Kobra wanderte, die sich ein paar Meter weiter über den strohbedeckten Boden schlängelte. „Ich.“ „Was?“, Kei warf Lan einen verwirrten Blick zu. Der andere hatte inzwischen die Augen geschlossen und presste den Eisbeutel fester gegen seinen Kopf. „Das war ich. Ich hab ihn wütend gemacht, deswegen ist’s passiert. Meine Schuld, weil ich ihn immer aufrege“, Lans Stimme begann zu zittern. „Oder weil ich ihn errege… oder weil er nicht genug Schlaf bekommt. Oder weil ich da bin, oder weil ich eben nicht da bin.“ Aus halbgeöffneten Augen warf Lan Kei einen traurigen Blick zu, seine Augen wurden glasig und glänzten als ob sich langsam Tränen in ihnen sammelten. „So generell ist es eigentlich immer meine Schuld.“ „Pierre gibt dir die Schuld?!“ „Ja, es ist meine Schuld. … Sie hätten Pierre gar nicht erwischt, wenn er nicht meinetwegen im Ratsgebäude gewesen wär.“ Okay… Kei wusste ja, dass Lan sich gerne in Selbstmitleid suhlte, vor allem in Bezug auf seine verlorene Kraft, aber das war ihm jetzt neu. Es war offensichtlich auch Pierre neu, denn Kei beobachtete, wie sich die Schlange neugierig aufrichtete. Inzwischen hatte Kei in dieser Angelegenheit seine eigenen Schlüsse gezogen. Beide Männer trugen immer noch ihre Eheringe, beide fanden immer wieder irgendwelche Ausflüchte, um nicht zum Scheidungstermin zu erscheinen, und beide waren schon immer ausgesprochene Dramaqueens gewesen. „Äh… Ich glaub, du spinnst“, war deshalb Keis ganz klare Diagnose dazu. „Wie lang dauert das hier denn so üblicher Weise?“ „Eine Minute, eine Stunde, ein Tag… kommt drauf an“, seufzte Lan. „Kann man eh nicht ändern.“ „Man kann alles ändern.“ Kei legte den leblosen Körper des Franzosen vorsichtig ab. Mit einer Hand griff er nach dessen Hand, während er die andere auf den Körper der schwarzen Schlange legte. Sich selbst setzte er im Schneidersitz zwischen die beiden und schloss die Augen. Er atmete langsam und tief ein. Nicht ohne Grund nannten sie Kei einen der stärksten Zalei überhaupt. Ryami hatte ihm damals den Anstoß gegeben, als sie sein Bewusstsein zwangsweise auch in andere Körper gedrängt hatte als in seinen oder Robins. Kei war natürlich bei weitem nicht so stark wie Ryami es damals gewesen war. Aber er hatte gelernt, telepathischen Verbindungen zu folgen, wenn er den betroffenen Schamanen berührte und der es ihm gestattete. Es hatte Jahre gedauert, aber dank Yukis und Minuits Unterstützung, hatte Kei diese Fähigkeit kontrollieren gelernt. Ganz einfach war es nicht und auch bei weitem anstrengender als der Körpertausch mit seinem eigenen Carn. Dementsprechend dauerte es einige Minuten, bis Kei sein Ziel erreicht hatte. Er schaffe es schließlich, Pierres Bewusstsein in seinen Körper zurückzugeleiten. Aber dabei spürte er auch die Barriere der unvollständigen Versiegelung. Kei wunderte es nicht, dass Pierre sie ohne Hilfe erst nach einer ganzen Weile und nur unter großer Qual passieren konnte. Es gelang ihm diesmal gleich, sie zu überwinden, aber die Anstrengung war beiden Zalei ins Gesicht geschrieben. Kaum dass Kei seine Trance gelöst hatte, fiel er vornüber und stützte sich mit beiden Händen auf dem kalten Boden ab. Er rang nach Luft. Pierre dagegen wand sich stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Seine Augen waren fest zusammengepresst und seine Hände zu Fäusten geballt. Lan beobachtete die Szene ausdrucks- und regungslos. Er lehnte an der Wand, den Eisbeutel an seinem Kopf, und atmete schwer. Hin und wieder blinzelte er angestrengt, wenn das Bild vor seinen Augen unklar wurde oder sich zu drehen begann. „Du… Du bist ein Vollidiot!“, beendete Pierre schließlich das Schweigen. Mit viel Mühe stützte er sich auf einen Arm und drückte sich langsam nach oben, so dass er Lan ansehen konnte. „Isch hatte irre Schmerzen, als isch das gesagt habe. Das hab isch doch nischt wirklisch so gemeint!“ Für einen Moment überlegte Kei, ob er Pierre vielleicht hoch helfen sollte. Aber er entschied sich vorerst dafür, einfach so zu tun als ob er gar nicht da wäre. Für einen kurzen Moment streifte sein Blick den schwarzen Hengst vor sich. Offensichtlich teilte Onyx seinen Gedanken, denn er hielt sich trotz seiner nur halbversorgten Verletzung mucksmäuschenstill. Währenddessen war Pierre mit viel Mühe aufgestanden. Seine Knie zitterten ein wenig unter seinem Gewicht und Kei wunderte sich, wie er sich überhaupt auf den hohen Absätzen halten konnte. Mehr als das schaffte Pierre es aber sogar auch, ein paar Schritte auf Lan zuzugehen. „Mit solschen Schmerzen kann isch nischt klar denken und sage Dinge, die mir später sehr leid tun. Isch hab dir nie die Schuld an dem gegeben, was passiert ist, Lan. Nie!“ Immer noch stumm, aber dafür mit vielsagendem Ausdruck beobachtete Lan den anderen. Überraschung, Erleichterung und Schmerz sprachen aus den weit geöffneten Augen, aus deren Winkel sich nun tatsächlich eine einzelne Träne stahl. „Aber du hast zu mir gesagt, du kannst das alles nischt mehr. Weil deine Kraft gestohlen wurde, hast du nischt mitansehen können, wenn isch die Körper tauschte. Du bist gegangen, als isch disch gebraucht habe, und du bist nischt wiedergekommen. Du hast misch mit einem simplen „Isch kann das nischt mehr“ einfach im Stisch gelassen!“ „W-weil… weil ich überhaupt nichts tun konnte. Nichts. Überhaupt nichts. Jeden Tag hast du gekämpft, hattest Schmerzen…. Du bist immer öfter zu deinem Wein gekommen und nicht zu mir… Du hast mir die Schuld gegeben“, Lan schloss die Augen und atmete tief ein. Der Eisbeutel rutschte über seine Stirn und fiel zu Boden. Dabei gab er den Blick auf das blasse Gesicht und die glitzernden Tränen in Lans Augenwinkel frei. „Ich war dir keine Hilfe, stattdessen hab ich immer wieder deine Anfälle ausgelöst… Das hab ich nicht mehr ausgehalten. Ich dachte,… du und dein Wein, ihr seid besser dran, wenn ich dich nicht mehr ständig aufrege…“ „… Du bist vielleicht ein Idiot“, nun kamen auch Pierre die Tränen. „Der Wein ist ein sehr schleschter Ersatz für disch. Die Schmerzen waren erträglischer, wenn du da warst. Es war alles erträglischer, wenn isch wusste, dass isch bald in meinem Körper wieder aufwache und du misch dann im Arm hältst.“ „… Das kann ich auch ohne meine Kraft noch…“, flüsterte Lan kaum hörbar. „Oui, das kannst du.“ Pierre lachte schwach und sank vor Lan auf die Knie. Der andere beugte sich ein wenig vor und nahm ihn mit offenen Armen in Empfang, bevor er ihn an sich zog. Sich ganz in die Umarmung fallen lassend legte Pierre den Kopf an Lans Schulter und schloss langsam die Augen. Er erlaubte es sich zum ersten Mal seit Monaten, sich in der Gegenwart eines anderen völlig fallenzulassen. Monate waren vergangen, aber sofort erinnerte er sich an die Wärme der Umarmung und den vertrauten Geruch des Mannes, der ihn festhielt. Das unregelmäßige Atmen und leise Stöhnen aufgrund der Schmerzen, ebenso wie das Haltsuchen seiner Hände im Stoff von Lans Kostüm, es war diesmal in Ordnung. Es war in Ordnung für Pierre, diese tröstende Nähe zu suchen, und es war in Ordnung für Lan, ihm nicht mehr geben zu können als diese Nähe. Sie war weit mehr Trost und Hilfe als Pierre seit vielen Monaten erfahren hatte. Lan war wieder gegen die Wand zurückgefallen und hatte die Lider geschlossen. Die plötzliche Bewegung nach vorne, Pierre entgegen, hatte sein Schwindelgefühl von vorhin nur noch verstärkt. Geistesabwesend spielten seine Finger mit den blonden Locken des anderen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sie vermisst hatte. Später würde Piere Onyx‘ Verletzung weiter versorgen und sich auch um Lan kümmern, der sich bei seinem Sturz keine Knieverletzung, sondern eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Aber fürs Erste erlaubten sich beide Männer einmal, einfach nur den Moment und ihre Versöhnung zu genießen. Spätestens jetzt fühlte sich Kei ganz schön fehl am Platz. Mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen stand er auf und schlich auf Zehenspitzen rückwärts aus dem Stall. Die Tür zog er so leise wie nur möglich zu, bevor er sich umdrehte und einen tiefen Zug der frischen Luft einsog. „Die brauchen dich wohl nicht mehr.“ Erschrocken Kei fuhr herum, als er diese Stimme mit dem amüsierten Unterton hörte. An einen Zaun neben dem Weg gelehnt fiel sein Blick auf Yuki. Natürlich gesellte sich Kei sofort gerne zu seinem Freund und begrüßte ihn mit einem langen Kuss. „Wie lang bist du schon da?“ „Ein paar Minuten. Aber als ich kurz in den Stall geschaut hab, wollte ich nicht stören und hab in der Zwischenzeit die Carn abgeholt. Ich wollte lieber hier draußen warten“, lachte Yuki etwas verlegen. Erst jetzt bemerkte Kei die Tiere auf der anderen Seite des Weges, die Yuki beobachtet hatte. Auf der Wiese dahinter waren Frau Holle gerade mit Graben und Robin mit der Pirsch durch ein paar Sträucher beschäftigt. Es sah ganz so aus als hatte Robin in einem verdorrten Blatt, das im sanften Wind hin und her geworfen wurde, ein neues Spielzeug gefunden. „Ja, bestimmt besser so…“, Kei lachte mit. „Die zwei sind vielleicht dämlich. Streiten jahrelang und wollen sich scheiden lassen, obwohl sie sich immer noch lieben. Hoffentlich werden wir nie so.“ „Hmh…“ „Was?“ „Ach nichts.“ „Was?!“ „Ach, ich dachte nur, dass es bei denen heute bestimmt noch heiß hergeht. Versöhnungssex und so…“ „GAH!! Warum frag ich eigentlich?!“ Kei schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Yuki sich über die Röte auf seinen Wangen sichtlich amüsierte. Auch nach all den Jahren konnte man Kei mit solchen Aussagen noch völlig aus der Bahn werfen. Leider fand Yuki das auch nach all den Jahren immer noch so niedlich, dass er es regelmäßig provozierte. Doch schließlich hatte sich Kei wieder gefangen und sah seinen Freund mit todernster Miene an. „Wieso bist du eigentlich schon da und Momoi nicht? Was wenn ihr was passiert ist?!“ „Ihr ist nichts passiert und sie ist bestimmt schon auf dem Weg. Mach dir keine Sorgen, Mama.“ „Wie soll ich mir denn keine Sorgen machen?!“ „Ich hab ihr Minuit hinterher geschickt.“ „Was…?“ „Minuit folgt Momoi von der Schule bis hierher und hat Order, sofort zu einem von uns zu kommen, wenn irgendwas passiert.“ „… Gar nicht blöd. Aber wie was das mit deinem Vortrag über Vertrauen?“, warf Kei seinem Freund einen ebenso verletzten wie bewundernden Blick zu. „Und merkt Momoi das nicht?“ „Nein, keiner hat Minuit bisher je bemerkt.“ Einen Moment überlegte Kei. So sehr ihm die Idee gefiel, räumte sie doch nicht seine letzten Zweifel aus. „Bist du wirklich sicher, dass alles okay ist…?“ „Schau doch nach“, lächelte Yuki und streckte Kei seine Hand hin. Kei wollte schon zugreifen, als Yuki seine Hand noch einmal wegzog. „Aber warn Minuit vor.“ „Ich warn sie immer vor“, schmollte Kei, als er nach Yukis Hand griff. Auch nach all den Jahren und trotz Nachhilfestunden von Yuki und Minuit, hatte Kei nie fliegen gelernt. Wenn er also in Minuits Körper eindrang und sie sich gerade in der Luft befand, stürzte sie unwillkürlich ab. Deshalb musste Kei darauf achten, den Körpertausch zweimal durchzuführen, wobei das erste Mal nur einen Sekundenbruchteil lang als Warnung diente. Damit wusste Minuit, dass sie für einen Moment landen musste. Während Kei ihr die Zeit dazu gab, setzte er sich auf den Zaun und lehnte sich gegen Yukis Schulter, der bereitwillig einen Arm um ihn legte. So konnte Yuki den Körper seines Freundes halten, während sein Bewusstsein diesen verließ, um in Minuits einzudringen. Die Fledermaus pausierte derweil auf einem Ast eines Baums neben einem Feld, an dem Momoi gerade vorbeiging. „Und?“, fragte Yuki neugierig nach Keis Rückkehr. „Sie ist schon kurz vor dem Park“, atmete Kei zufrieden auf. „Das ist echt praktisch mit Minuit. Bestimmt konntest du früher auch selbst… Moment mal!“ Kei sprang auf und baute sich direkt vor Yuki auf so hoch er konnte. Er stützte die Hände in die Seiten und setzte sein ernstestes Gesicht auf. „Hast du mir früher etwa auch Minuit nachgeschickt?“ „Niemals.“ „Wirklich?!“ „Natürlich nicht. Du hast doch selbst gesagt, ich wusste, dass ich mir um dich keine Sorgen machen musste.“ „… Yuki!!“ Das war einfach zu süß! Diese Mischung aus Wut und Scham auf Keis Gesicht, zusammen mit der Röte auf seinen Wangen. Und dann auch noch im Hofnarrenkostüm. Yuki konnte einfach nicht anders als zu lachen. Natürlich schimpfte und protestierte Kei, doch das schien Yukis Lachanfall nur noch schlimmer zu machen. Irgendwann wurde es Kei zu bunt und er stapfte wütend davon. Er kam allerdings nur ein paar Schritte weit, bevor etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. In der Wiese vor sich hatte er ein paar kleine weiße Blüten entdeckt, die an satt grünen Stängeln aus dem spärlichen Gras ragten. Sie waren gesäumt von den letzten Schneefleckchen, die sich noch standhaft der Wärme der Sonne widersetzten. Neugierig kam Kei näher und erkannte, dass es die ersten Schneeglöckchen dieses Jahres waren. Unwillkürlich legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Tapfere kleine Blümchen, die sich durch die harte, gefrorene Erde kämpften, um den nahenden Frühling anzukündigen. Wenn Kei sie sah, wusste er, dass der Winter bald vorbei war. Überhaupt waren sie für ihn ein Zeichen dafür, dass jede schwere Zeit irgendwann endete und das Leben weiterging. Kei war noch ganz in Gedanken, als sich von hinten ein Paar Arme um seine Mitte legten. Kurz darauf spürte er wie Yukis Atem in sein Haar blies. Kei lehnte sich zurück bis er mit dem Rücken gegen Yukis Körper stieß. Seine Hände suchten die von Yuki, um ihre Finger zu verschränken. Doch statt der warmen, schlanken Finger ertasteten sie etwas kaltes und hartes. Überrascht sah Kei nach unten und erkannte ein kleines, in rot-silbernes Papier verpacktes Schokoladenherz. Es war ganz genau so eines wie Yuki ihm damals im Garten geschenkt hatte und dem ihr erster Kuss gefolgt war. „Yuki…?“, wunderte sich Kei über dieses Geschenk. „Heute ist Valentinstag, Schussel.“ Bevor Kei irgendetwas antworten konnte, löste Yuki seine Umarmung gerade weit genug, um einmal um Kei herumzutreten. Bevor Kei so recht wusste, was geschah, fühlte er schon Yukis Lippen auf seinen. So weich und warm, Kei schloss die Augen. Yuki legte währenddessen seine Arme fester um ihn und zog ihn noch näher. Kei wurde völlig mitgerissen und vergaß beinahe alles um sich herum. Er fühlte die Wärme von Yukis Händen durch sein Kostüm, ebenso dass die eine langsam seinen Rücken hinauf wanderte und seinen Nacken strich. Wie als Antwort darauf gruben sich Keis Hände fester in den Stoff von Yukis Jacke. Doch dann fiel ihm siedend heiß etwas ein und er kämpfte sich aus dem Kuss frei. „W-Warte! Moment! Warte…“, keuchte er, selbst nach Atem ringend. Mit großen Augen sah Yuki seinen Freund an und wunderte sich, was diese plötzliche Zurückweisung wohl zu bedeuten hatte. Kei kramte inzwischen in seinen Taschen. „I-Ich hab’s nicht vergessen. Also, doch… Ich hab’s schon vergessen… irgendwie. Dass es einen Valentinstag gibt, hab ich nicht vergessen, aber ich hab vergessen, dass er heute ist“, gab er mit einem verlegenen Achselzucken zu. „Das ist okay, ich hab nicht damit gerechnet, dass du dieses Jahr dran denkst.“ „Doch, hab ich!“, betonte Kei, offenbar fündig geworden. „Ich wollte das aber eigentlich richtig machen und was vorbereiten oder so… Aber na ja… Dann halt nicht.“ „Was meinst du denn?“ Inzwischen wunderte Yuki sich nun wirklich über das seltsame Gestammel. Bevor er aber über irgendeine logische Erklärung dafür nachdenken konnte, hielt Kei ihm plötzlich ein kleines, schwarzes Kästchen unter die Nase. In dessen Mitte glänzte ein schlichter, aber elegant geschmiedeter Ring golden im Sonnenlicht. „Willst du mich heiraten?“, brachte Kei schließlich heiser heraus, in einer merkwürdigen Mischung aus Überzeugung, genau das richtige zu tun, und Angst, es total zu vermasseln. Für einen Augenblick versagte ihm die Stimme. Er räusperte sich in der Hoffnung, dadurch seine Stimme von ihrem unsicheren Klang zu befreien, bevor er weitersprach. Es gelang ihm nicht ansatzweise. „E-eigentlich wollte ich dir den Ring mit einer Liebeserklärung geben, aber… egal, wie oft ich angefangen hab, irgendwas aufzuschreiben, hab ich nie Worte gefunden, die annähernd das ausgedrückt hätten, was ich dir sagen wollte. … Das klingt bestimmt total dämlich, ist es vermutlich auch… Ich hab keine Worte für das, was wir haben und noch weniger für das, was es mir bedeutet… was du mir bedeutest. … A-aber was ich ganz, ganz sicher weiß, ist ich liebe dich. Auch wenn diese paar läppischen Wörter viel zu wenig sind für das hier. Ich liebe dich. Ich will nie wieder ohne dich sein. … U-und ich hoffe, du gibst mir für den Rest meines Lebens Zeit, dir alles zu zeigen, was ich nicht in Worte fassen kann.“ Völlig überrumpelt blickte Yuki auf das Schmuckstück. Er hatte ja mit so einigem gerechnet, natürlich in erster Linie damit, dass Kei wie jedes Jahr nicht an den Valentinstag gedacht hatte, aber damit ganz sicher nicht. Er war absolut, komplett und vollständig sprachlos. Weder zu einem Wort, noch zu einer Regung, ja nicht einmal zu einem Blinzeln, war er fähig. „D-du solltest schon irgendwas sagen… irgendwas wenigstens… Sonst mach ich mir Sorgen.“ Kei fühlte, dass die Röte auf seinen Wangen intensiver wurde. Je länger Yuki nur stumm mit diesem erschrockenen Blick auf den Ring starrte, desto mehr fühlte er die Angst in sich aufsteigen. Hatte er es jetzt wirklich vermasselt? „Ja.“ „Ja…? Ja zu was sagen oder ja zu Sorgen machen…?“ „Ja, ich will dich heiraten“, erlöste Yuki seinen Freund schließlich. Die Überraschung in seinem Ausdruck wich Rührung und überschäumender Freude. „Ich liebe dich, Kei!“ Das blieben für die nächsten Minuten die letzten Worte, die das nun frisch verlobte Paar wechselte. Denn dann nahmen Sie ihre Umarmung wieder auf und intensivierten sie. Yukis Arme schlossen sich fest um Kei und Keis Hände hielten Yuki nicht weniger fest. Es schien fast, als wollten sie einander nie wieder loslassen. Ein Kuss folgte dem anderen und ein Liebesbekenntnis dem nächsten. Kei hatte schon seit einiger Zeit gewusst, dass er den Rest seines Lebens mit Yuki verbringen wollte. Er hatte den Gedanken, das mit einem Versprechen und einem Ring zu besiegeln, auch schon eine ganze Weile gehegt. Auch den Ring hatte er schon vor Wochen besorgt. Aber er hatte gehofft, Yuki einen richtig schön romantisch vorbereiteten Antrag machen zu können… wobei Kei allerdings keine wirklich konkrete Vorstellung gehabt hatte, wie der hätte aussehen sollen. Letztendlich zeigte sich aber, dass genau dieser Moment in seiner Schlichtheit wunderschön war. Alles schien perfekt: Schneeglöckchen, Schokolade und eine Liebe, für die jedes Wort zu klein war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)