Snowdrops and Chocolate von Petey (Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi) ================================================================================ Kapitel 9: In deinen Armen -------------------------- In deinen Armen Mit dem Juli war plötzlich der Sommer gekommen. Von einem Tag auf den anderen war das Thermometer etwa 20 Grad nach oben geschossen und verharrte seitdem dort. Seit Wochen schon war Kei fast nachtaktiv geworden. Er versuchte, so viel wie möglich von der Affenhitze zu verschlafen. Den Trick hatte er sich von Robin abgeschaut. Leider ließ sein Nebenjob im Fairy Tales Park diesen Tagesablauf aber nur bedingt zu. An seinen freien Tagen vermied es Kei, das Haus - und damit den Ventilator - zu verlassen. Da er freitags und samstags aber erst ab 15:00 Uhr im Park arbeitete, und bis in die kühlen Abendstunden, konnte er sich damit trösten, dass ein paar Stunden nach Dienstbeginn Besserung eintreten würde. Montag und Mittwoch dagegen musste Kei bis in die heißesten Stunden des Nachmittags aushalten. Die Parkleitung hatte auch reagiert, und die Angestellten mit Sommerkostümen ausgestattet. Zu Keis Erstaunen gab es dort tatsächlich unterschiedliche Garnituren fär jede Rolle. Eine für warme und eine für kalte Tage. Da der Park das ganze Jahr über geöffnet war, gab es sogar passende Mäntel und Umhänge für den Winter. So trug Kei nun ein luftiges Zwergenkostüm mit kurzen Hosen aus Leinen. Außerdem hatte er stillschweigend den Standort seines Süßigkeitenstands um ein paar Meter verlegt, genau in den Schatten einer riesigen Eiche. Überhaupt hatte sich in den letzten Wochen auch über das Wetter hinaus einiges verändert. Es herrschte eine merkwürdig gedrückte Stimmung, nicht nur im Park, sondern auch zu Hause. Genau wusste Kei nicht, was vorgefallen war. Er wusste nur, dass es irgendetwas mit Lan und Ryami zu tun haben musste. Ryu hatte Lan in den letzten Wochen öfter besucht und war jedesmal mit einer Mine zum Fürchten zurückgekommen. Als Kei sich einmal vorsichtig nach ihm erkundigt hatte, hatte Ryu aber nur abgewinkt und gesagt, es renke sich schon wieder alles ein. Trotzdem hatte Kei Lan seit fast einem Monat nicht mehr gesehen, weder zu Hause, noch im Park. Lans Rolle im Ritterturnier hatte Ryu vorübergehend übernommen und Lans Band, die gelegentlich auch im Park auftrat, spielte ohne ihren Gitarristen. Ebenso hatte Kei Ryami und ihre kleine Schwester Taki seit Wochen nicht mehr gesehen. Die Akrobatiken und Ballette wurden seit Wochen ohne die beiden aufgeführt. Taki kam Kiku auch zu Hause nicht mehr besuchen. Allerdings fiel das Kei erst richtig auf, als Kiku ihre Schulsachen eines Dienstagnachmittags auf dem Esstisch ausbreitete und die Hefteinträge zusammensuchte, die sie ihrer Freundin kopieren wollte. Ihre wasserblauen Augen schimmerten im Licht der Sonne fast gläsern. Sie hielt die Lider halb geschlossen, aber Kei vermutete, dass sich einige Tränen hinter den dichten Wimperkränzen verbargen. Auf seine Nachfrage erfuhr Kei aber nur, dass Kiku nicht mehr wusste als er selbst. Taki sei nicht krank, aber irgendetwas schien mit Ryami zu sein. Yuki war offensichtlich eingeweiht. Er unterhielt sich häufig sehr ernst mit Ryu, wenn die zwei sich von ihren Schülern unbeobachtet fühlten. Aber diesen gegenüber gab er sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Einmal hatten sich Kei und Kiku sogar verbündet, um Yuki ins Kreuzverhör zu nehmen. Der ließ sich jedoch nicht die geringste Information entlocken. "Kannst du Feierabend machen, Zwerg?" eine wohlbekannte Stimme holte Kei aus seinen Tagträumen. Kiku stand vor ihm, wie immer in letzter Zeit ohne das freche Lächeln, das sie sonst immer aufgesetzt hatte, wenn sie Kei aufzog. Kei hatte ihre Gemeinheiten natürlich nie gemocht, aber das Lächeln vermisste er. Nur Jack, der munter auf Kikus Schulter turnte und mit großen Augen das Geschehen um sie beobachtete, war ganz der Alte. "Was machst du denn schon wieder hier? Kommst du jetzt jeden Tag in den Park?" "Ryu hat mir eine Dauerkarte gekauft, damit ich nicht den ganzen Tag allein zu Hause rumsitze. Sonst passiert mir am Ende vielleicht noch so etwas wie einem gewissen Zalei-Schüler, der im Cardinal-" "Ist ja gut!" unterbrach Kei. "In zehn Minuten kommt mein Vertretungszwerg. Dann können wir gehen." Diese zehn Minuten verbrachte Kiku etwa zwanzig Meter entfernt auf einem geschwungenen Zaungitter vor einem Blumenbeet sitzend, durch das ein kleiner Bach lief. Jack balancierte einige Meter auf dem Zaun, machte dann kehrt und kam zurück, nur um sein Kunststück gleich zu wiederholen. Aber Kikus Aufmerksamkeit erregte er damit nicht. Ihr Blick war weit in die Ferne gerichtet und sie sprach die ganze Zeit über kein Wort. Nur einmal kam ein leiser Seufzer über ihre Lippen, als sie die Augen niederschlug und ihren Kopf in die Hände stützte. Heimlich warf Kei immer wieder Blicke hinüber, wenn er gerade keine Kunden bediente. Das Mädchen dort drüben war sehr hübsch, wie seine großen Augen gedankenverloren den Passanten nachsahen, der Wind in seinen dunkelblonden Strähnen spielte und seine schlanken Beine unter dem Rock im Takt einer imaginären Melodie wippten. Unter Kikus aufbrausender Fassade kam diese zurückhaltende, feminine Seite sonst kaum zum Vorschein. Sehr hübsch war das Mädchen, aber Kei erkannte nur ansatzweise die sonst so freche und immer gut gelaunte Kiku in ihm. Nachdem Kei den Süßigkeitenstand seinem Zwergenkollegen übergeben hatte, wollte er Kiku abholen, die noch immer gedankenverloren auf dem Zaun saß. Sie schien ihn erst zu bemerken, als er direkt vor ihr stand. Nicht einmal Jack, der ihn aufgeweckt turnend ankündigen wollte, hatte Kiku aus ihren Gedanken reißen können. Ihren Blick löste Kiku sogar erst dann vom kiesigen Weg vor sich, als Kei sich zu ihr herunter neigte und mit der Hand vor ihren Augen auf und ab winkte. "Schon fertig?" fragte Kiku geistesabwesend. Kei atmete laut aus, verschränkte die Arme vor der Brust und setzte sich neben Kiku. "Du sitzt schon seit fast zwanzig Minuten hier. Nicht aufgefallen?" "... Nein." Seufzte Kiku leise. "Willst du... reden?" Reden war nicht Keis Stärke, wirklich nicht. Aber Kiku saß da wie ein Häufchen Elend und machte sich so viele Sorgen, dass sie Kei damit glatt ansteckte. Inzwischen machte er sich auch Sorgen, allerdings fast mehr um sie als um Lan oder Taki. „Taki war heute wieder nicht in der Schule.“ „Hmh...“ signalisierte Kei, dass er diese Information wahrgenommen hatte. „Gestern Abend hab ich noch mit ihr telefoniert. Sie sagte, dass es ihr besser geht. Und dass sie heute wieder in die Schule gehen würde.“ Mit jedem Wort wurde Kikus Stimme ein wenig leiser, bis sie die Worte nur noch kraftlos zu Kei hinüber hauchte. Gleichzeitig schlich sich ein zittriger Unterton ein. „Hat sie denn gesagt was los ist?“ „Nein...“ Kiku riss ganz plötzlich die Hände hoch und vergrub ihr Gesicht in ihnen. Nicht schnell genug allerdings, um die erste Träne zu verstecken, die einen Weg über ihre Wange fand. Verborgen blieben jedoch die unzähligen nachfolgenden Tränen, deren Existenz Kei nur vermuten konnte. „Gar nichts hat sie gesagt.“ Flüsterte Kiku schließlich kaum hörbar. Kei fühlte sich irgendwie deplatziert. Er war noch nie ein guter Zuhörer gewesen, erst recht kein guter Tröster und alles andere als das, was man „einfühlsam“ nannte. Aber dennoch tat ihm Kiku unendlich leid. Er selbst kannte Taki kaum und sogar er hatte ein ganz schlechtes Gefühl. Wie musste es dann erst Kiku gehen, die immerhin Takis beste Freundin war? Er konnte es nur schwer nachvollziehen. Zwar hatte er auch einige Wochen Stillschweigen mit seinem eigenen besten Freund hinter sich. Hatte ihn vermisst und sich immer wieder gefragt, was er falsch gemacht hatte, dass ihr Verhältnis so kaputt gegangen war. Aber im Nachhinein kam Kei diese Sendepause fast lächerlich vor. Etwas verlegen sah Kei sich nach allen Seiten um. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurden. Eine ebenso begründete Sorge wie vergebliche Liebesmüh, denn in seinem Zwergengewand fiel Kei ohnehin auf. „Seit der fünften Klasse sind wir beste Freundinnen gewesen. Wir haben einander immer alles erzählt. Wir haben einander immer geholfen. Warum will sie mir nicht sagen, was los ist?“ schluchzte Kiku heiser. Kei wusste beim besten Willen nicht was er dazu sagen sollte. Also hielt er lieber den Mund. Hilflos beobachtete er, wie sich Kikus Schultern im Takt ihres Schluchzens hoben und senkten. „Es tut mir echt weh, dass ich ihr nicht helfen kann...“ Ja, ganz ähnlich ging es Kei gerade auch. Kiku tat ihm so leid, aber er wusste nicht, was er in diesem Moment für sie hütte tun können. Also war er eben einfach nur da. Einige Augenblicke vergingen, die Kei wie eine Ewigkeit vorkamen. Kiku weinte Träne um Träne, die sie mit den Handballen auf ihren Wangen verstrich, immer versucht, Kei möglichst wenig von ihrem verweinten Gesicht zu zeigen. Gedrückte Stimmung. Sogar Jack turnte nicht mehr lustig herum, sondern saß mit sorgenvoll gesenktem Blick auf der Wiese hinter dem Zaun. Irgendwann fasste sich Kei dann ein Herz, atmete einmal tief durch und streckte seinen Arm langsam zu Kiku hinüber. Fast wie in Zeitlupe. Seine Hand strich nur mit leicht mit den Fingerknöcheln kurz über die ihm zugewandte Schulter, ein Stück weit ihren Oberarm hinab. Kei kam sich vor, als würde er an einer verbotenen Grenze rühren. Doch Kiku reagierte gar nicht auf seine Berührung. Erneut suchte seine Hand ihre Schulter, verweilte nun einen Moment. Zunächst wieder keine Reaktion. Unverändertes Schluchzen. Doch dann krümmte sich Kiku mehr, sie senkte den Kopf beinahe bis auf die Knie. Ihr Gesicht verwand für einen Moment vollständig zwischen ihren Fingern und hinter den dunkelblonden Haarsträhnen. Kei zögerte, war schon drauf und dran, seine Hand wieder zurückzuziehen, und die Szene stumm und starr auszusitzen. Dann überlegte er sich jedoch anders und strich ganz sanft, fast ohne sie tatsächlich zu berühren, von Kikus Schulter über den Rücken bis zu ihrem Nacken. Ohne Vorwarnung fuhr Kiku herum. Ihre Hände suchten seine Brust, ihre Finger krallten sich dort haltsuchend in den Stoff seines Hemds. Die fransigen Strähnen folgten geschmeidig der Bewegung ihres Kopfes, als sie diesen gegen Keis Schulter warf. Statt zwischen ihren Fingern vergrub sie Ihr verweintes Gesicht nun dort. Kei fühlte mit jedem Schluchzen, jedem leisen Seufzen warm ihren Atem auf seiner Brust. Einen Moment war er wie versteinert. Als seine Starre sich etwas löste, legte er zögerlich die Arme um Kiku. Erst war ihm diese Umarmung sehr unangenehm. Immerhin hielt er hier das Mädchen im Arm, das in den letzten Wochen und Monaten kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte, um ihn zu ärgern. Aber wenn er sich das Bild von vor zehn Minuten in Erinnerung rief, dieses tief traurige, zerbrechliche Mädchen, das leise seufzend auf dem Zaun saß, dann wollte er ihm gerne eine Stütze sein. Zimmer 84 b) näherte sich ein Mann mit festen, großen Schritten. Tapp-Tapp. Ganz anders als das emsige Klackern der Schwester auf ihren weißen Schlappen, die das Zimmer vor weniger als einer viertel Stunde verlassen hatte. Ebenso kraftvoll wie der Mann einen Fuß vor den anderen setzte, schob auch sein linker Arm die Tür auf. Hätte er den Knauf nicht festgehalten, hätte sein Pendant auf der Innenseite mit Leichtigkeit einen Abdruck auf der Wand hinterlassen können. „Was tust du denn hier?!“ rief der Mann erstaunt ins Zimmer, noch ehe er sich die Mühe machte, dessen gegenwärtigem Bewohner einen guten Morgen zu wünschen. Doch der reagierte ohnehin nicht. Völlig regungslos saß er auf dem Bett, den Kopf kraftlos in das Kissen auf der schräg gestellte Matratze gestützt und den Blick zum Fenster gewandt. Ein apathisches Blinzeln ließ vermuten, dass er seinen Gast bemerkt hatte. Darüber hinaus war ihm jedoch keine Reaktion zu entlocken. Der Besucher trat ein und ließ die Tür los, die kurz darauf zuschwang. Er blieb direkt vor dem Bett stehen und musterte seinen Gegenüber. Er war sehr blass geworden, viel blasser noch als früher. Völlig reglos lag er da, die Arme ruhten leblos neben dem Körper auf der Matratze. Die hellen Strähnen fielen wirr über sein Gesicht. Ein verklärter Blick sah zwischen ihnen hindurch aus dem Fenster. Zumindest wollte er den anderen glauben machen, er blicke aus dem Fenster. Leise spielte das Radio neben dem Bett Musik. Das Essen hatte er nicht angerührt. „Ich dachte, ich hör nicht recht, als mir am Empfang gesagt wurde, du wärst noch da.“ Keine Reaktion. „Was tust du denn noch hier?“ Keine Reaktion, wie sehr der Besucher auch die Stimme erhob. „Lan!“ wollte der Mann ihn endlich zur Ordnung rufen. Nun doch eine kleine Reaktion. Ein Blinzeln. Er hatte seinen Namen verstanden. Aber aus seiner Lähmung erwachte er deshalb noch lange nicht. Etwa eine Minute verging ohne, dass sich einer der beiden gerührt hätte. Der Mann beobachtete Lan und spielte dabei in Gedanken wohl verschiedene Versuche durch, ihm eine Reaktion zu entlocken. Währenddessen versuchte Lan weiterhin, die Fensterscheibe mit seinen Blicken zu durchbohren. Schließlich sank der Mann nieder und setzte sich auf den Rand der Matratze. „Eigentlich wollte ich nach meiner Ankunft sofort zu Adoy. Aber der Rat tagt heute nicht.“ Noch immer keine Antwort von Lan. Er beobachtete wohl einen Spatz, der zwischen zwei Bäumen im Innenhof hin und her flatterte. „ Dir ist hoffentlich klar, dass Adoy deine Abwesenheit genutzt hat, um ein paar Beschlüsse im Rat durchzuboxen, die du vorher blockiert hast. Du scheinst ihn ganz schön geärgert zu haben.“ Hin und her. Nun hatte sich sogar noch ein zweiter Spatz eingefunden, der sich dem pendelnden Geflatter des ersten anschloss. „Meine Söhne waren auch nicht zu Hause. Also bin ich eben gleich zu dir gekommen... Ach so! Nein, ich habe einen kleinen Umweg über Loires Praxis gemacht.“ Der Mann stand auf und kam einen Schritt näher an die Stirnseite des Krankenbetts. Von oben herab warf er Lan einen langen Blick zu, ehe er weitersprach. „Loire hat mich gebeten, dir was auszurichten.“ Schließlich verloren die beiden Spatzen Land Aufmerksamkeit doch an den Mann. Zuerst wanderten nur Lans Pupillen ganz langsam vom Fenster über den Fensterrahmen, die Vorhänge und die Zimmerwand bis zu dem Mann neben seinem Bett. Dann erst drehte Lan auch wie in Zeitlupe den Kopf und wandte sich seinem Gast zu. Und noch ehe Lan seinen Gegenüber richtig ansehen konnte, musste er schon erschrocken die Augen wieder zukneifen. Ganz unvermittelt hob der Mann die Hand und verpasste Lan eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Lan wurde aus seinem Kissen gehoben und sein Oberkörper durch die Wucht des Schlags so weit herumgedreht, dass er nun sogar an seinem Gegenüber vorbei an die Wand hinter dem Bett sah. Erst einige Augenblicke nachdem das „Klatsch“ schon verhallt war, breitete sich der pulsierende Schmerz in Lans Wange aus. Der Schmerz löste die Starre, in der Lan zunächst verharrt war. Er richtete sich auf und sah den Mann fragend an, während er mit den Fingerspitzen der linken Hand über seine Wange strich. Gleichzeitig hielt er sich mit der rechten die Brust, in der sich mit stechendem Schmerz seine Schusswunde meldete. „Er hat auch irgendwas auf Französisch gemurmelt, was ich nicht verstanden hab.“ Lehnte sich der Mann grinsend zu Lan herunter. „Es klang jedenfalls nicht sehr freundlich.“ „Das denke ich mir schon.“ Flüsterte Lan mit einem Rest Gleichgültigkeit in der der Stimme. Er senkte den Blick auf das Laken vor ihm und atmete laut aus. „Bist du jetzt endlich wach?“ „... Glaub schon. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Pierre genauso fest zugeschlagen hat.“ „Das war der Ausgleich dafür, dass Pierre mindestens zwei Ringe trägt.“ Im selben Moment, in dem sich der Mann wieder ans Bett setzte, wurde sein Ausdruck schlagartig ernst. Erneut musterte er Lan, doch diesmal erwiderte dieser seinen Blick endlich. „Also, können wir uns jetzt mal ernsthaft unterhalten?“ Etwa eine halbe Stunde später machten sich Kei und Kiku auf den Weg zum Verwaltungsgebäude des Fairy Tales-Park. Es war inzwischen fast 16:00 Uhr und Keis Schicht damit schon seit fast einer Stunde beendet. Sobald er sein Kostüm zurückgegeben hatte, würde er seinen wohlverdienten Feierabend antreten. Am Verwaltungsgebäude wurden die beiden schon erwartet. Yuki und Ryu hatten sich auch noch nicht umgezogen. Yuki trug heute das Kostüm eines Soldaten aus dem Märchenpalast. Anders als Kei, der die Rolle des Zwerges offenbar dauerhaft verliehen bekommen hatte, wechselten Yuki und Ryu häufig die Rollen. Je nachdem, wo Verstärkung gebraucht war. Ryu war heute ein böser Zauberer. Den schwarzen Umhang hatte er allerdings abgenommen und über seinen Arm gelegt, den spitzen Zauberhut hielt er in der Hand. Dennoch verriet ihn der schwarze Rock mit den kleinen silbernen Sternchen sofort. „Wehe, wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlierst!“ flüsterte Kiku Kei zu, bevor sie in Hörweite ihrer Lehrer kamen. „Bestimmt nicht.“ Gab Kei zurück. Nichts lag ihm ferner als irgendwem zu erzählen, dass er über eine halbe Stunde Kiku im Arm gehalten hatte. Nicht, dass es ihm jemand geglaubt hätte. Nach weiteren eineinhalb Stunden kamen die vier schließlich zu Hause an. Wie immer in den letzten Tagen und Wochen lag auch während der 45-minütigen Bahnfahrt und dem anschließenden Fußweg eine gedrückte Stimmung auf ihnen. Es wurde kaum gesprochen. Doch diesmal war nicht nur das Geheimnis von Ryu und Yuki schuld am bedrückten Schweigen, sondern auch das von Kei und Kiku. Denn wo die beiden sonst versucht hätten, auf Teufel komm raus noch ein Mindestmaß von Konversation zu erzwingen, schwiegen sie sich nun auch verlegen an. Nur Robin störte immer wieder die Ruhe, indem er in Keis Schuh krallte und biss. Sie bogen gerade in die Straße ein, in deren Mitte ihr Haus stand. Da blieb Kei wie vom Blitz getroffen stehen. Ein Tier mit goldbraunem, dunkel geflecktem Fell kam blitzschnell auf sie zugerannt, das Kei erst als Leopard erkannte, nachdem der erste Schreck nachgelassen hatte. Seine riesigen Tatzen stießen sich bei jedem Schritt kraftvoll vom Asphalt ab. Die Bewegung seiner starken Muskeln zeichnete sich deutlich ab unter den verschiedenen Brauntönen des Fells, das im Sonnenlicht seidig schimmerte. Nicht nur das gefährliche Funkeln in den goldenen Augen, sondern auch das gedämpfte Knurren des Tiers ließ Kei ängstlich erstarren. Aber nicht nur ihn. Robin, der ohne seine Leine sicher die Flucht ergriffen hätte, versteckte sich hinter Keis Beinen. Auch Ryu und Kiku waren stehengeblieben. Kiku klammerte sich erschrocken an Ryus Arm. Dennoch konnte keiner von ihnen den Blick abwenden. Allein Yuki ging nicht nur todesmutig weiter, sondern beschleunigte seinen Schritt sogar noch. Völlig unbeeindruckt ging er der riesigen Raubkatze entgegen. Etwa zwei Meter vor ihm stieß sich das Tier dann unvermittelt kraftvoll vom Boden ab, sprang durch die Luft und landete mit seinen gigantischen Vordertatzen direkt auf Yukis Schultern. Die Wucht warf Yuki natürlich nach hinten um. Unsanft setzte er sich auf den Allerwertesten. Doch das genügte dem Leoparden noch nicht. Er drückte auch Yukis Oberkörper noch nach hinten auf den Boden und hielt ihn mit den Pfoten unten. Seinen riesigen Kopf senkte er nun auf auf Yukis Gesicht zu. Kei sah die blanken Zähne aufblitzen. „Du musst ihm helfen!“ schrie seine innere Stimme panisch. Doch Kei war starr vor Schreck, unfähig, auch nur einen Schritt nach vorne zu machen. Yuki versuchte mit beiden Händen, den Leopard von sich zu schieben. Vergeblich. Das Tier war viel zu stark. Auch der Versuch, sich zur Seite wegzurollen, ging schief. Der Leopard hielt Yuki mit seinem Gewicht am Boden fest. Nun öffnete das Tier sein Maul und gab ein Geräusch von sich, das Kei nicht wirklich als Knurren deuten konnte. Eher wie ein knurrendes Miauen, wenn man es als solchen bezeichnen wollte. Dann senkte der Leopard den Kopf wieder zu Yuki hinunter. Kei, der sich nun endlich doch aus seiner Starre lösen konnte, setzte schon an, zu Yuki und dem Leopard hinüberzulaufen. Doch da erkannte er, dass er die Situation bisher falsch eingeschätzt hatte. Der Leopard schleckte Yuki einmal voller Liebe quer über das Gesicht. Yuki legte ihm daraufhin die rechte Hand genau auf die Nase und schob seinen Kopf von sich. Gleichzeitig fuhr er sich mit dem linken Handrücken über die Wange. „Igitt! Ich hab dir tausendmal gesagt, dass du das lassen sollst!“ „Er hat dich eben vermisst.“ Lachte ein Mann, einige Meter von ihnen entfernt, den Kei erst jetzt bemerkte. Der Mann kam aus Richtung ihres Hauses auf sie zu. Scheinbar hatte er dort gestanden, bis sein Leopard ihre Heimkehr bemerkt hatte und losgerannt war. „Ich freu mich ja auch.“ Gab Yuki nach und streichelte dem Tier über den Kopf, den Nacken und so weit den Rumpf entlang wie es die Umklammerung des Tiers zuließ. „Das reicht jetzt, Lancelot!“ Der Mann griff nach dem breiten Lederhalsband des Leoparden und befreite Yuki. Kaum zu glauben, doch das widerstrebende Zerren der Raubkatze hatte keine Chance gegen den Zug des Mannes. Die muskulösen Arme hielt er sicher mit täglichem Leoparden-Training in Form. Auch nachdem er Yuki befreit hatte, musste er den Leopard noch festhalten. Mehrmals versuchte der, sich wieder loszureißen und zerrte in Yukis Richtung. Yuki stand inzwischen auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. Dann ging er auf den Mann zu. Einen Moment blieb er schweigend vor ihm stehen. Die beiden beäugten einander. Doch dann legte Yuki freudig den Arm um ihn. „Schön, dich widerzusehen, Papa.“ Lächelte er. „Find ich auch.“ Erwiderte der Mann die Umarmung mit einem Arm, während er mit dem anderen weiterhin das Halsband der Raubkatze festhielt. Dabei hatte Kei ein wenig den Eindruck, im Ausdruck des Leoparden, Lancelot, nun Eifersucht zu erkennen. Als der Mann seinen Sohn ausließ, wandte er sich den anderen zu. „Was ist mit dir, Ryu? Freust du dich nicht auch, deinen alten Vater wiederzusehen? Krieg ich von dir keine Umarmung?“ grinste er. Kei drehte sich zu Ryu um. Stimmt, daran hatte er noch gar nicht gedacht. Der Mann war nicht nur Yukis, sondern auch Ryus Vater. Aber gleichzeitig fiel Kei wieder ein, dass Yuki ihm vom schlechten Verhältnis zwischen seinem Vater und Ryu erzählt hatte. Ryu machte keine Anstalten, auf seinen Vater zuzugehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn mit festem Blick an, die Brauen tief ins Gesicht gezogen. „Du fändest eine Umarmung von mir sicher nicht weniger befremdlich als ich dein plötzliches Auftauchen. Was willst du hier?“ „Nun, das ist mein Haus. Ich wohne hier.“ „Ach ja? Ich dachte, die Bude steht seit mindestens zehn Jahren leer. Zumindest könnte es so lange her sein, dass ich dich das letztemal hier gesehen habe.“ „Gehen wir doch bitte rein.“ Mischte sich Yuki in den Schlagabtausch ein. „Wir müssen nicht die ganze Nachbarschaft unterhalten, oder?“ Gesagt, getan. Nachdem alle ihre Schuhe und Taschen abgelegt hatten und alle Carn versorgt waren, versammelte sich die ganze Gruppe wieder im Wohnzimmer. Lancelot hatte Yukis Vater inzwischen in den Garten geführt, wo er nun unter der Bank auf der Terrasse ausgestreckt lag und im Schatten döste. „Also, ihr kennt euch ja noch nicht.“ Ergriff Yuki lächelnd das Wort, nachdem sich erneut Schweigen auszubreiten drohte. Er sah Kei an, der sich neben Kiku auf der Couch vor dem Fenster niedergelassen hatte. „Das ist Ryus und mein Vater, Taro Natsukori.“ „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Nickte Kei dem Mann auf der Couch zu seiner rechten höflich zu, auf der auch Yuki Platz genommen hatte. Nun hatte Kei endlich auch die Gelegenheit, sich Herrn Natsukori genauer anzusehen. Er sah ein wenig aus wie die Bad Boys aus alten Filmen. Langes, unordentliches Haar, das er im Nacken zusammengebunden hatte, ein Dreitagebart und verschlissene Kleidung. Dennoch aber eine gepflegte Art von ungepflegt Sein. Durch sein Gesicht zogen sich ein paar tiefe Falten, die mehr von Charakter als von Alter zeugten. Ryu hätte es ihm sicher übel genommen, hätte er diesen Gedanken laut ausgesprochen, aber Kei fiel sofort eine große Ähnlichkeit auf. Die schmalen Augen mit diesem entschlossenen Blitzen, die stark hervortretenden FingerknÃchel, und auch die Art wie Herr Natsukori leicht das Kinn abhob, bevor er den Kopf drehte. Von Yuki erkannte Kei dagegen eher wenig in seinem Vater. Aber sie hatten das gleiche herzliche Lächeln, wie er feststellte. „Das ist Kei Chiharu, mein Schüler.“ Erklärte Yuki schließlich auch seinem Vater. „So so, du bist das also.“ Grinste er. „Es ist mir auch eine außerordentliche Freude, dich kennenzulernen.“ Kei verstand nicht ganz warum dieses Treffen Herrn Natsukori so außerordentlich freute. Seine Worte waren ihm unheimlich, besonders in Kombination mit dem langen, abschätzenden Blick , den er ihm zuwarf. „Sie hatten recht. Die Kraft der Zalei ist wirklich sehr stark bei dir. Das erklärt einiges...“ schloss er endlich, während er sich in der Couch zurücklehnte. „Wer hatte recht? Und was erklärt das?“ fragte Kei verwirrt. „Ach, den Rat meine ich.“ „Was hat das denn mit dem Rat zu tun...?“ diese Antwort verwirrte Kei mehr als sie ihm erklärte. „Nichts. Zumindest nichts, was dich bekümmern müsste.“ „Und damit soll ich mich jetzt zufrieden geben?“ Kei verschränkte die Arme vor der Brust. „Du gefällst mir!“ lachte Herr Natsukori. „Lass dich nicht ärgern. Du solltest dich einfach nur darauf konzentrieren, ein guter Zalei zu werden. Der Rest kann dir im Moment egal sein.“ Kei sah ein, dass er Herrn Natsukori keine weiteren Antworten entlocken konnte. Noch eine Gemeinsamkeit mit Ryu. Also bohrte er auch nicht weiter nach. „Und warum bist du jetzt wirklich hier? Du kannst mir nicht erzählen, dass du plötzlich deinen Sinn für Familie entdeckt hast.“ ergriff Ryu das Wort. Ryu saß auf der Couch zu Keis linker Seite und damit so weit weg von seinem Vater wie möglich. „Das weißt du doch. Oder willst du es unbedingt aus meinem Mund hören?“ „Allerdings will ich das. Es ist wegen Lan, oder? Aber vor zwei Jahren hast du es auch nicht für nötig gehalten, uns zu helfen. Warum also jetzt plötzlich doch?“ „Das habe ich dir schon damals erklärt, Ryu. Und über das Thema unterhalten wir uns lieber später unter vier Augen.“ Ryu wusste, dass er mit „diesem Thema“ - was auch immer es sein mochte - die beiden Zalei-Schüler nur verunsicherte. Es war ein Problem, das Kiku und Kei nichts anging, vielleicht auch Yuki nicht. Also sprach er nicht weiter, atmete einmal tief durch und ließ es zunächst dabei bewenden. So unterhielten sie sich den restlichen Abend über verschiedene un-ernstere Themen. Herr Natsukori erzählte von seiner Reise. Er war zusammen mit Lancelot die letzten Jahre in der ganzen Welt herumgereist. Meistens hatte er sich dabei verschiedenen Wanderzirkussen angeschlossen, um unauffälliger reisen zu können. Wenn sich gerade kein Zirkus finden ließ, war er jedoch auch gelegentlich auf eigene Faust unterwegs. Er konnte so manche lustige Geschichte erzählen. So war zum Beispiel einmal bei einer Schifffahrt Lancelot irgendwie aus seiner Kajüte entwischt und war durch das halbe Schiff gestreunt auf der Suche nach seinem Herren. Dabei verirrte er sich in die Kombüse und erleichterte den Koch, der sich für nur einen Augenblick umgedreht hatte, um ein saftiges Steak, das er gerade auf dem Tresen zubereiten wollte. Als der Koch sich nun ein neues Steak holte, es wieder auf den Tresen legte und sich kurz umdrehte, seine Gewürze zu holen, da schlich sich Lancelot noch einmal an den Tresen und holte sich das zweite Steak. Er musste an die fünf Steaks verdrückt haben, als Herr Natsukori ihn schließlich fand, erzählte er. Denn zum Abendessen hatte er nicht mehr den kleinesten Hunger. Herr Natsukori hielt nichts davon, seinen Leoparden anzuketten oder einzusperren. Ein Zalei sollte den idealen Mittelweg finden und sich nicht über seinen Carn stellen, betonte er. Viel mehr als um schamanische Kunststückchen gehe es beim Zusammenspiel von Zalei und Carn um das Verständnis für die Natur und ein harmonisches Leben mit ihr. Er gönnte Lancelot dieselbe Freiheit, die er auch für sich beanspruchte. Dazu gehörte auch die freie Entscheidung, ob das Tier ihm folgen wollte oder nicht. Bis Yuki vor etwas mehr als zwei Jahren seine Ausbildung zum Zalei abgeschlossen hatte, hatte er seinen Vater begleitet. Denn Yuki war von seinem Vater selbst als Zalei ausgebildet worden. Ryu dagegen hatte schon immer wenig Kontakt mit seinem Vater gehabt. Wahrscheinlich hatte er deshalb im Gegensatz zu Yuki eine sehr schlechte Meinung von seinem Vater, fühlte sich von ihm vernachlässigt. Aber Kei hatte in diesem Gespräch keineswegs den Eindruck, dass Herr Natsukori einen seiner Söhne bevorzugte oder vernachlässigte. Natürlich war schon die Ausgangsposition der beiden ganz verschieden. Yuki freute sich sehr über das Wiedersehen mit seinem Vater, während Ryu ihn eher zur Tür hinaus wünschte. Dennoch versuchte Herr Natsukori unermüdlich, auch Ryu ins Gespräch einzubeziehen. Da fiel Kei ein, dass Yuki ihm ja schon vor einer Weile vom schlechten Verhältnis der beiden erzählt hatte und auch, dass es keinen bestimmten Grund dafür gab. Sie hätten einander einfach schon immer gerne gestritten. Dennoch war es irgendwie ein schöner Abend. Kei erfuhr einige lustige Anekdoten aus Yukis Kinderzeit, vor allem seiner ersten Zeit als Zalei. Yuki hatte offenbar ziemlich lange gebraucht, sich mit Minuit zu verständigen. Immer wieder hatte die Fledermaus versucht, einfach wegzufliegen. Yuki hatte sie jede Nacht mit Taschenlampe und Schmetterlingsnetz wieder einfangen müssen, weil er sie nicht in einen Vogelkäfig sperren wollte. Und mehr als nur ein paarmal war Minuit beim Körpertausch irgendwo heruntergesprungen, weil sie nicht verstehen wollte, dass ein menschlicher Körper nicht fliegen konnte. Herr Natsukori erzählte, dass er sogar zweimal beim Sozialdienst vorgeladen wurde wegen Verdacht auf Kindesmisshandlung, weil sein Sohn so oft mit Blessuren in der Schule erschienen war, die er nicht ausreichend erklären konnte. Nach dem Abendessen - Ryu hatte freiwillig das Kochen übernommen, nur um sich ein paar Minuten davonstehlen zu können - griff sich Kei seinen Carn und ging in sein Zimmer. Herr Natsukori verabschiedete sich bis morgen. Er würde nicht im Haus bei ihnen bleiben, sondern in der separaten Wohnung, die im hinteren Teil des Grundstücks direkt an das Haus grenzte. Während seinen Reisen stand die Wohnung leer, wenn Herr Natsukori in der Stadt war, gehörte sie ihm. Nun verstand Kei auch, warum Yuki mindestens einmal in der Woche auch in die hintere Wohnung ging und dort aufräumte. Er hatte mehrmals mitbekommen, dass Ryu Yuki deshalb aufzog und ihn darauf hinwies, dass es verlorene Liebesmüh sei. Aber Yuki hatte sich nicht beirren lassen. Kei dachte noch über Herrn Natsukoris Worte nach, als er schon im Bett lag und auf das Sandmännchen wartete. Nicht nur die lustigen Geschichten, sondern auch was er in Bezug auf sein Talent und den Rat gesagt hatte. Aber alles, worüber er sich Gedanken machen sollte, war seine Ausbildung zum Zalei. Und er solle sich nicht verwirren lassen. Das war ja im Moment auch schon schwierig genug. Seit Kikus Nachhilfestunde hatten er und Robin sich einander zwar ein bisschen angenähert, aber von einer Aussöhnung konnte da noch lange keine Rede sein. Als Kei Robin aus dem Gehege abgeholt hatte, in dem der Fuchs untergebracht war, während Kei arbeitete, hatte er ihn schon wieder mit einem Hieb begrüßt. Seitdem hatten sie den Fahrt und den Heimweg mit ihren üblichen Rangeleien verbracht. Kei verstand Robin zwar immer besser und bemühte sich auch sehr, sich mit ihm zu vertragen. Aber dennoch konnte er das ständige Knurren, Kratzen und Beißen nicht einfach auf sich sitzen lassen. So galten seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen vermutlich auch Robin. Zumindest erklärte das die Ereignisse der Nacht. Es war wohl kurz nach vier, als Kei wach wurde. Er war noch halb im Land der Träume und wollte es auch eigentlich gar nicht verlassen. Er gähnte und wollte sich in der gleichen Bewegung auf die andere Seite drehen. Da merkte er, dass er gar nicht auf der Seite lag, sondern auf dem Bauch. Eine höchst ungewohnte Pose, denn Kei schlief niemals auf den Bauch. Außerdem lag sein Kopf auf den verschränkten Armen... Moment... Jetzt riss er doch die Augen auf und den Kopf in die Höhe. Aus dieser Perspektive hatte er sein Zimmer auch selten gesehen. Den Teppich, der im blassen Licht der Straßenlaterne vor dem Fenster dunkelgrau erschien, die Umrisse seines Schreibtischs links neben ihm und dahinter, am anderen Ende des Zimmers, sein Bett. Sein Bett, in dem er selbst wie ein Stein schlief. Mit einem Mal war er hellwach. Wenn Kei inzwischen eines gelernt hatte, dann schnell in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Noch bevor Robin in seinem Körper aufwachte, hatte er diesen schon wieder übernommen. Robin schlief ganz ruhig in seinem Körbchen weiter, als wäre nichts passiert. Und Kei atmete in seinem eigenen Bett erleichtert auf. Kiku und Ryu wussten zum Glück nur von dem einen Mal im Cardinal. Tatsächlich war es Kei aber bestimmt schon zehnmal passiert, dass er ganz aus Versehen mit Robin die Körper getauscht hatte. Die ersten Wochen hatte er sich so abgemüht, überhaupt einen Trancezustand zu erreichen, der ihm das Verlassen seines Körpers erlaubte, und nun fiel ihm der Körpertausch so leicht, dass er ihn gelegentlich ganz unwillkürlich vollbrachte. Meistens war die Situation glimpflich ausgegangen, nachdem Yuki ihm kaum von der Seite wich. Und inzwischen hatte Kei wie gesagt gelernt, den Körpertausch alleine und blitzschnell wieder rückgängig zu machen. Aber Kiku würde ihn auf ewig damit aufziehen, wenn sie davon erfahren würde. Sie machte sich ja immer noch bei jeder Gelegenheit über den Unfall im Cardinal lustig. Kei atmete laut aus, drehte sich im Bett um und wollte schon weiterschlafen, als er von draußen gedämpft Stimmen hörte. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen, aber er erkannte sie als Ryu und Herrn Natsukori. Offenbar setzten die beiden nun wie angekündigt ihr Gespräch unter vier Augen fort. Kei zögerte einen Moment. Dann siegte aber doch seine Neugier und er stand auf. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt. Im Gang draußen brannte kein Licht. Die beiden Stimmen drangen von unten herauf. Kei vermutete, dass Ryu und sein Vater am Treppenabsatz direkt vor der Haustür standen. Herr Natsukori war anscheinend gerade im Begriff zu gehen. Auch der Inhalt ihres Gesprächs deutete mehr auf das Ende als den Anfang eines Gesprächs hin. Sie gaben sich Mühe, ganz leise zu sprechen, aber einige Wortfetzen schnappte Kei dennoch auf. Herr Natsukori hatte offenbar vor, morgen beim Rat vorzusprechen. Über das, was er dort vorbringen wollte, hatte er Ryu scheinbar schon im Verlauf ihres Gesprächs informiert. Ryu teilte ganz offensichtlich nicht in jedem Detail die Ansichten seines Vaters. Kei hätte zu gerne mehr erfahren, doch Herr Natsukori verwies Ryu nur auf das zuvor Gesagte, ohne dieses zu wiederholen. „Im Prinzip bin ich mir sogar sehr sicher, dass es zu einem Bruch kommen wird. Adoy wird mir mit Sicherheit nicht mehr Gehör schenken als damals, als ich das Land verlassen habe.“ Weissagte Herr Natsukori. „Du kannst ja auch nicht einfach in den großen Rat platzen und den besten Zalei des Landes an den Kopf werfen, sie wären alle Dilettanten. Ein kleines bisschen größenwahnsinnig bist du schon.“ „Das hatte mit Dilettantismus oder Größenwahn überhaupt nichts zu tun! Es ging mir nur um eine kleine Kurskorrektur, nichts weiter.“ „Ach, nennt man das jetzt so?“ Keis Neugier wuchs. Und so auch sein Wagemut. Er schob die Tür ganz langsam, um ja kein Quietschen zu verursachen, noch ein Stückchen weiter auf. Keis Zimmer befand sich fast direkt gegenüber der Wendeltreppe, an deren Ende zu linker Hand die Haustür lag. Von der obersten Stufe aus sollte er also einen kleinen Blick auf Ryu und Herrn Natsukori erhaschen können. Auf allen Vieren tastete er sich im Dunkeln langsam und zögerlich vor. Nur etwa zwei Meter, dann hatte er schon die oberste Stufe erreicht. Vorsichtig setzte er ganz langsam die Hand auf deren Kante und schob sich ein kleines Stück vor, bis er aus dem Augenwinkel die Haustür sehen konnte und gleichzeitig noch vom Geländer verborgen blieb. Herr Natsukori hatte die Hand schon auf die Klinge gelegt und war im Gehen begriffen. Ryu stand ein Stück vor ihm, vermutlich direkt vor der Tür, die ins Esszimmer führte. Kei blieb er damit vollends verborgen. „Für mich klang es eben noch so als wären wir einer Meinung. Ich schätze, du widersprichst mir nur noch aus Prinzip.“ Kei hörte förmlich das Grinsen in Herrn Natsukoris Stimme, auch wenn ihm dessen Gesicht hinter dem Handlauf halb verborgen blieb. „Aus Prinzip und mit voller Leidenschaft.“ „Wir unterhalten uns einfach morgen weiter, wenn ich vom Rat zurückkomme. Wir sollten dann auch unbedingt mit La-...“ Mehr hörte Kei nicht mehr. Nicht, dass Herr Natsukori seinen Satz beendet, oder er ihn gar entdeckt hätte. Viel schlimmer noch! Urplötzlich legte sich eine Hand auf Keis Mund, ein Arm umgriff gleichzeitig seine Schultern und zog ihn von der Treppe weg. Kei erschreckte sich zu Tode. Sein Herz schien für einen kurzen Moment das Schlagen zu vergessen, hämmerte dann jedoch doppelt und dreimal so schnell, als wolle es die verpassten Takte wieder nachholen. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr und konnten sich so auch nicht gegen den Zug nach hinten wehren. Der Arm, der sich um seine Brust gelegt hatte, ließ ihn nach hinten überfallen. Etwas umständlich setzte sich Kei auf den Allerwertesten. Doch damit begnügte sich der Arm noch nicht. Er zog weiter bis Kei mit dem Rücken gegen etwas stieß, das er erst als menschlichen Körper identifizieren konnte, als er dessen Atem fühlte. Der Arm hielt ihn ganz fest gegen diesen Körper gepresst. Während die Hand ihm noch immer den Mund zuhielt. Kei wagte nicht, sich zu bewegen. „So so. Du lauschst also. Dabei gehören brave Kinder um diese Zeit doch ins Bett.“ Flüsterte Yukis Stimme in Keis Ohr. Kaum, dass Kei die Stimme erkannt hatte, kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Innerlich atmete er erleichtert auf. Ein Kribbeln, ähnlich wie das, das er sonst kannte, wenn sein Fuß eingeschlafen war. Nur dass er dieses Kribbeln in allen Gliedern spürte. Kurz darauf fand Kei endlich genug Kraft, um eine Hand zu heben und die von Yuki mit sanftem Druck von seinem Mund zu nehmen. Aber um sich völlig aus Yukis Umarmung zu befreien genügte seine wiederkehrende Kraft noch nicht. „Also, mit „brave Kinder“ fühle ich mich nicht angesprochen. Das solltest du wissen.“ Flüsterte Kei zurück. „Außerdem bist du ja auch hier.“ „Ich bin schon groß.“ Zwinkerte Yuki Kei zu, ohne dass dieser sein Zwinkern hätte sehen können, in einer Position, in der er mit dem Rücken zu Yukis Brust saß. Sehr wohl nahm Kei aber den sanften Hauch von Yukis Atem an seinem Ohr wahr. Yuki lockerte seinen Griff um Keis Schultern und ließ seinen Arm heruntergleiten, ein Stück weit nur. Seine Hand verharrte einen Moment auf Keis Brust. Er lächelte. „Dein Herz klopft wie wild. Hab ich dich denn so erschreckt?“ wieder dieser warme Hauch an Keis Ohr. „Ich bin fast gestorben vor Schreck!“ antwortete Kei schnell. Tatsächlich konnte er sich aber selbst nicht erklären, warum sein Herz auch jetzt immer noch so heftig schlug. Er saß nun schon seit einer Weile ruhig da und der Schreck hatte längst nachgelassen. Dennoch hatte er den Eindruck, dass sein Puls nach kurzer Erholung wieder schneller wurde. Außerdem legte sich, nachdem er wahrscheinlich für den Moment des Schreckens kreidebleich geworden war, nun eine leichte Röte auf seine Wangen. Zum Glück unsichtbar in dieser Dunkelheit, dennoch konnte Kei das Glühen seiner Wangen richtiggehend fühlen. Etwa zehn Stunden mochte es her sein, da hatte Kei gerade auf dem Zaun im Fairy Tales-Park gesessen, mit Kiku. Ihr Kopf an seine Schulter gelegt, ihre schlanken Finger haltsuchend in sein Hemd vergraben. Er hatte seine Arme um sie gelegt und sie tröstend festgehalten. Und nun war Kei es, der im Arm gehalten wurde. Umarmen oder umarmt Werden. Kei hatte nicht gedacht, dass es so einen großen Unterschied machen würde. Aber das machte es in diesem Moment tatsächlich. War er eher derjenige, der dem anderen eine Stütze bot? Oder lieber derjenige, der sich in diese Stütze fallen lassen konnte? Sich einfach fallen lassen? Kei schloss für einen Moment die Augen. Fallen lassen gegen Yukis Körper, den er mit jedem seiner Atemzüge mal stärker, mal schwächer an seinem Rücken fühlte. Yukis Arm, der sanft um seine Schulter lag und ihn dennoch fest hielt. Seine Hand mit den langen, schlanken Fingern, die er völlig vergessen hatte loszulassen, als er sie von seinem Mund genommen hatte. Und schließlich Yukis Atem, den er warm an seiner Schläfe spürte. Vielleicht lag der große Unterschied für Kei auch nur darin, dass der Unterschied zwischen Yuki auf der einen, und Kiku auf der anderen Seite so groß war. Wenn er die Wahl hatte, Kiku in den Arm zu nehmen, oder von Yuki in den Arm genommen zu werden, dann glaubte Kei doch, sich entscheiden zu können. Und seine Wahl entsetzte ihn selbst dabei fast am meisten. „So-sollten wir nicht lieber verschwinden, bevor Ryu raufkommt?“ flüsterte er schließlich heiser. Kei konnte nicht ausmachen, wie weit die Abschiedsszene im Erdgeschoss fortgeschritten war und ob Ryu bald hochkommen würde. Er konnte Ryus und Herrn Natsukoris Stimmen nicht mehr wahrnehmen. Sein Herz hämmerte einfach viel zu laut und übertönte alles andere. Alles bis auf das ruhige, gleichmäßige Atmen von Yuki, das er direkt neben seinem Ohr hörte. Wie dankbar war Kei doch für die Dunkelheit! Das Rot auf seinen Wangen hätte sicher jede Tomate vor Neid erblassen lassen. Nicht auszudenken, wenn Ryu jetzt das Licht im Treppenhaus einschalten würde, wenn er raufkommen und auf dem Treppenabsatz ihn und Yuki in dieser Pose vorfinden würde. Kei wollte am liebsten ganz schnell verschwinden und sich in sein Bett zurückverkriechen. Aber er schaffte es einfach nicht, sich aus Yukis Umarmung zu befreien. Schon wieder. Das letztemal hatte dieser Zwiespalt zu einer unfreiwilligen Übernachtung in Yukis Bett geführt. Noch schlimmer, sogar in Yukis Armen. Der bloße Gedanke daran trieb Kei die Gänsehaut auf die Unterarme. Doch selbst wenn er es schaffen würde, sich zu befreien und in sein Bett zu flüchten, könnte er dann überhaupt noch schlafen? „Würdest du mich loslassen, damit wir verschwinden können?“ flüsterte Kei erneut, noch heiserer als zuvor. Doch ein kaum hörbares „Mmh-hmh.“ war alles, was Yuki darauf antworteten wollte. *** Hallo nach langer Zeit! ^^ Vielen, vielen Dank, dass ihr immer noch mitlest. Ich kann mich nur immer wieder entschuldigen, dass es so langsam voran geht. ;__; Dieses Kapitel war eine schwere Geburt. Sonst fällt es mir eigentlich immer recht leicht, die Seiten zu füllen. (Das Problem ist eher, mich erstmal überhaupt dran zu setzen XD). Aber diesmal hab ich wirklich gekämpft. Von den bevorstehenden Ereignissen wollte nicht noch nicht zu viel anreissen, gleichzeitig aber auch die Spannung halten. Das ist gar nicht so leicht. ^^° Dafür geht´s jetzt im nächsten Kapitel endlich in die nächste Phase. *Hände reib* Ich bin hoch motiviert! Es kann sich also nur um Jahre handeln, bis es weitergeht. XD (Scherz) Bis bald (ich hoffe ihr bleibt dabei), Eure Petey Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)