Snowdrops and Chocolate von Petey (Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi) ================================================================================ Kapitel 17: Angst und Leid -------------------------- Kapitel 20 – Angst und Leid „Showtime“ grinste der Mann Yuki direkt ins Gesicht. Yukis Herz schien vor Schreck stehen zu bleiben. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt solche Angst gehabt hatte. Falls er überhaupt jemals solche Angst gehabt hatte. Was hatten diese Typen von K.R.O.S.S. nur mit ihm vor? Der Mann, Suzumaru, wenn Yuki vorhin richtig gehört hatte, musterte Yuki einen Moment. Als ihm bewusst wurde, dass Yuki sein Schweigen nicht brechen würde, nickte er knapp in Minuits Richtung. „Würdest du uns bitte den Körpertausch zeigen, Yuki Natsukori?“ Unwillkürlich folgte Yuki Suzumarus Blick zu seinem Carn. Minuit hatte sich ein wenig beruhigt und saß nun still am Boden des Käfigs in der Raummitte. Wäre sie weiter so ängstlich herumgeflattert wie vorhin, hätte Yuki sich Sorgen gemacht, dass sie sich verletzen könnte. Gleichzeitig kannte er jedoch seine Fledermaus gut genug, um zu wissen, dass ihre Stille nicht bedeutete, ihre wäre Angst verflogen. Minuit verstand sehr gut, dass irgendetwas nicht stimmte. Yuki war mit ihr verbunden und spürte ihre Angst, so wie Minuit auch die seine spüren musste. „Na? Zeigst du uns den Körpertausch?“ wiederholte Suzumaru ungeduldig seine Frage. Yuki überlegte einen Moment. Er hatte keine Ahnung, was K.R.O.S.S. vorhatte. Aber aufgrund dessen, was er bisher über die Organisation wusste, ging er davon aus, dass es nichts Gutes war. Und so konnte es für ihn nur eine Antwort geben, als er sich wieder dem Mann zuwandte, der immer noch über ihm lehnte. „Kommt nicht in Frage.“ „Hab ich mir gedacht. Dann eben auf die harte Tour.“ erwiderte Suzumaru ebenso knapp wie gleichgültig. Seine Hände lösten sich von der Liege und er trat einen Schritt zurück. Yuki hörte am Knarzen und Kratzen, dass er die Maschine, die er vorhin dort abgestellt hatte, noch ein Stück näher an die Liege rutschte. Yuki konnte sie noch immer nicht sehen, da sie wohl halb unter der Liege stehen musste. Was war das für ein Gerät? Was hatte der Mann jetzt vor? Yukis Herz raste wie wild. Seine Atmung ging flach und unruhig. Ein weiteres Mal zerrte Yuki verzweifelt an seinen Fesseln. Sie gaben nicht nach. Auch waren sie zu eng, als dass wenigstens eine Hand hätte hinausschlüpfen können. Das einzige Ergebnis seiner verblichen Mühen waren, dass er seine Handgelenke aufschürfte. Suzumaru beobachtete Yuki einen Moment grinsend, aber wortlos. Nachdem Yuki aufgegeben hatte, hielt er einen Schlauch hoch, der zu der Maschine führen musste. An seinem Ende saß etwas, das nach einer Atemmaske aussah. Yuki versuchte noch, den Kopf zur Seite zu drehen und dem Gerät auszuweichen, doch Suzumaru folgte seiner Bewegung und setzte ihm die Maske auf. Yuki hörte wie er kurz darauf ein paar Knöpfe an der Maschine drückte. Dann hörte er ein Zischen und fühlte einen Luftzug aus der Maske. Yuki presste die Augen zusammen und hielt die Luft an, um was auch immer aus diesem Schlauch strömte, nicht einatmen zu müssen. „Ach, wir haben Zeit.“ lachte Suzumaru kurz auf. Er brauchte nur abzuwarten, bis Yuki nicht mehr die Luft anhalten konnte. Allzu lange dauerte es nicht. Mit einem ersten kurzen Atemzug strömte das merkwürdige Gas in Yukis Lunge. Es roch übel, stechend und übel. Ganz anders als alles, was Yuki je gerochen hatte. Allein der Geruch schien ihn fast zu ersticken. Yuki hustete ein paarmal schwach, konnte sich aber nicht gegen das Gas wehren. Nach ein paar Augenblicken hatte er so viel davon eingeatmet, dass seine Wirkung einsetzte. Ein Kribbeln breitete sich von Yukis Atemwegen ausgehend langsam in seinem ganzen Körper aus. Das Gefühl glich dem, wenn sein Bein eingeschlafen war. Es kribbelte und schmerzte gleichermaßen. Yuki spürte wie sein Körper verkrampfte, seine Glieder sich unter dem unangenehmen Gefühl wunden. Dann übermannte ihn plötzlich eine gewaltige Müdigkeit. Seine Lider wurden schwer. Er blinzelte. Bei jedem Mal wurde es anstrengender, seine Augen wieder zu öffnen. Kurz bevor er das Bewusstsein verlor und sein Kopf kraftlos zur Seite kippte, nahm er aus dem Augenwinkel noch Suzumarus Arm wahr, der die Maske von seinem Gesicht nahm. Als Yuki die Augen wieder aufschlug, sah er zuerst Gitterstäbe. Er saß in Minuits Käfig auf dem Tisch in der Raummitte. Durch das Gitter sah er sich selbst regungslos auf der Liege. Suzumaru drückte ein paar Knöpfe der Maschine und legte die Atemmaske beiseite. Was auch immer dieses Gas war, es hatte Yuki offensichtlich gegen seinen Willen in Trance versetzt und ihn gezwungen, in Minuits Körper zu fahren. Sofort versuchte Yuki, den Körpertausch wieder zu lösen. Doch er konnte es nicht. Über solche Mittel verfügte K.R.O.S.S. also. Minuit regte sich in Yukis Körper. Normalerweise zog sie es vor, sich in Yukis Körper schlafend zu stellen. Aber Yuki konnte nachvollziehen, dass sie unter diesen Umständen zu aufgeregt war, um still liegen zu bleiben. Sie schlug die Augen auf und sah ängstlich um sich. Schließlich traf ihr Blick den ihres Zalei und verharrte dort. Yuki hielt den Augenkontakt, als könnte er seinen Carn durch ihn eine Botschaft übermitteln. Suzumaru sah Yukis Körper lange prüfend an. Bevor er den Blick abwandte, nickte er knapp. Dann kam er zum Käfig herüber und wiederholte das Schauspiel mit Minuits Körper. Zufrieden wandte er sich schließlich an die Frau mit den Locken. „Es hat funktioniert. Wir haben hier einen echten Zalei.“ „Dummkopf! Welches Interesse hätte Meister Adoy daran, uns eine Versuchsperson zu verweigern? Fang endlich an mit dem eigentlichen Experiment.“ Das war noch nicht das eigentliche Experiment? Erst jetzt fielen Yuki die Fläschchen und Instrumente ein, die Suzumaru vorhin auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Sie mussten immer noch neben dem Käfig liegen. Yuki drehte sich um, um einen Blick auf sie zu werfen. Doch schlau wurde er nicht aus dem Anblick. Die Fläschchen trugen Etiketten mit Buchstaben- und Zahlenfolgen, die er nicht entziffern konnte. Die Instrumente waren vielfältig, von Pinzetten über Messer und Spritzen bis hin zu welchen, die wie ein Radiergummi oder eine Nagelfeile aussahen. Yuki hatte nicht die geringste Ahnung, wozu die Instrumente dienten. Vielleicht machte ihm das sogar die größte Angst. Ein paar Minuten mussten alle Anwesenden abwarten, bis die Wirkung des Gases endlich nachließ und Yuki in seinen eigenen Körper zurückkehren konnte. Sofort spürte er wieder dieses unangenehme Kribbeln von dem Gas, das erst nach und nach nachließ. Yuki gab sich Mühe, genauso ruhig liegen zu bleiben wie Minuit gelegen hatte. Aber irgendwie schien Suzumaru dennoch sofort zu bemerken, dass der Körpertausch gelöst war. „Zeit für Runde zwei!“ kündigte er an. Er rieb sich die Hände, während er sich von seiner Gesprächspartnerin löste und zum Tisch trat. Er hatte Yuki den Rücken zugewandt, so dass dieser nur hören, aber nicht sehen konnte wie Suzumaru die Fläschchen und Instrumente bewegte. „Nur pro forma, wirst du jetzt mitarbeiten?“ fragte er wie beiläufig über seine Schulter. „Auf keinen Fall.“ antwortete Yuki, wenn auch nicht mehr ganz so energisch wie zuvor. „Kein Problem. Hierfür gibt es sowieso keine sanfte Tour.“ Mit einem dumpfen Plopp setzte Suzumaru den Stöpsel zurück auf das Gefäß in seiner Hand und dieses kurz darauf wieder auf den Tisch. Irgendeines der Instrumente hob er auf und steckte es wohl in seine linke Kitteltasche. Als er sich umdrehte und Schritt für Schritt langsam auf Yuki zukam, hielt er nur noch eine Spritze in der Hand. Sie war voll aufgezogen mit einer rostbraunen Flüssigkeit. Yukis Herz raste wie wild. Etwa einen halben Meter vor der Liege blieb Suzumaru stehen, hielt die Spritze hoch und betrachtete sie prüfend gegen das Licht. Dann schnippte er in schneller Bewegung zweimal mit dem Finger gegen den Körper und drückte ein paar Luftbläschen zusammen mit einigen Tropfen der Flüssigkeit heraus. „W-was ist das?“ fragte Yuki heiser. „Ein Mittel namens aX-482-L, das K.R.O.S.S. entwickelt hat… Im Auftrag des Zalei-Rates, falls dich das interessieren sollte.“ „Und was bewirkt es?“ „Das siehst du gleich.“ antwortete Suzumaru spöttisch zu Yuki herab. Daraufhin beugte er sich herunter und griff nach Yukis Arm. Obwohl er nach seinen letzten Fehlversuchen wusste, dass die Fesseln nicht nachgaben, zerrte Yuki erneut an ihnen. Wenn er sich schon nicht befreien konnte, so versuchte er wenigstens, Suzumarus Hand auszuweichen. Natürlich gelang es ihm nicht. Sowohl sein Handgelenk als auch seine Schulter waren fest fixiert. Trotz Gegenwehr war es Suzumaru ein Leichtes, Yukis Ärmel bis über dessen Ellenbogen nach oben zu schieben. Dann umgriff er die Spritze und brachte sie in Position. Wieder war jeder Ausweichversuch vergeblich. Kurz bevor die Nadel seine Haut berührte, drehte Yuki den Kopf zur Seite, presste die Augen fest zusammen, ballte seine Hände zu Fäusten und biss die Zähne auf einander. Er hörte das Rasen seines eigenen Herzen so laut in seinen Ohren, dass sogar Suzumarus Lachen dagegen fast verstummte. Dann fühlte er das Pieken in seinem Arm. Er glaubte sogar zu spüren, wie sich die Flüssigkeit kühl in seinen Adern ausbreitete. Und dann passierte eine Weile lang überhaupt nichts. Misstrauisch verharrte Yuki zunächst noch in seiner Starre. Er hatte damit gerechnet, dass sich erneut ein Schmerz oder Kribbeln in seinem Körper ausbreiten würde, ähnlich wie bei dem Gas. Doch es passierte zunächst wirklich gar nichts. Auch wenn er noch nicht wusste, ob das ein Grund zur Erleichterung war, wagte Yuki zumindest, die Augen wieder zu öffnen. Er sah, dass Suzumaru wieder an der Stirnseite der Liege stand. Der Mann starrte auf seine Armbanduhr. Es waren wohl zwei Minuten vergangen, da löste Suzumaru den Blick von seiner Uhr. „Dann wollen wir mal sehen, ob unser aX-482-L auch funktioniert.“ Nach einem kurzen, prüfenden Blick auf Yuki, griff er erneut nach der Maschine an seiner Seite. Wie schon vorhin zog er den Schlauch herauf und setzte die Atemmaske über Yukis Gesicht. Zwei bis drei Knopfdrücke und wieder drang dieser unangenehme beißende Geruch in Yukis Nase. Zunächst schien alles abzulaufen wie schon vorhin. Wieder wand sich Yuki gequält soweit es seine Fesseln erlaubten. Ein unangenehmes Kribbeln und schmerzende Glieder, gefolgt von einer überwältigenden Müdigkeit. Kurz darauf verlor er das Bewusstsein und erlangte es in Minuits Körper wieder. Was anders war als vorhin, war Suzumarus Reaktion. Eher widerwillig entfernte er die Maske von Yukis Gesicht. Der Blick, den er seiner Kollegin zuwarf, zeugte von Enttäuschung. „Noch keine Wirkung nach zwei Minuten.“ stellte sie nüchtern fest, während Suzumaru erneut auf seine Armbanduhr stierte. Yuki hatte Angst. Nicht nur er, sondern auch Minuit. Er konnte die Angst seines Carn sowohl sehen als auch fühlen. Etwas schneller als vorhin löste sich der Körpertausch schließlich wieder. Diesmal aber schienen das Kribbeln und der Schmerz nicht abzunehmen. Fast unvermindert begrüßten sie Yuki bei der Rückkehr in seinen Körper. Von ihnen überrumpelt konnte er sich ein schmerzvolles Stöhnen nicht verkneifen. Wieder wand er sich auf seiner Liege, schürfte seine Haut noch mehr auf, wo sie gegen die Fesseln rieb. Doch gegen den dumpfen Schmerz in seinem ganzen Körper war das Brennen auf seiner Haut eine fast angenehme Ablenkung. Kurz darauf löste Suzumaru sich abermals von seiner Uhr, um Yuki die Atemmaske aufzusetzen. Das Spiel begann von Neuem. Der Schmerz wurde stärker. Alles tat weh. Jedes Glied seines Körpers schmerzte mehr und mehr. Der bisher dumpfe Schmerz verwandelte sich in immer unerträglichere Qualen. Bald wand Yuki sich nicht mehr nur, sondern kämpfte verzweifelt gegen seine Fesseln. Er riss den Kopf hin und her im vergeblichen Versuch, die Maske abzuschütteln. Nie hatte er solche Schmerzen gefühlt. Kein Zentimeter seines Körpers, der nicht höllisch brannte. Es kam Yuki vor wie eine Ewigkeit, bis ihn endlich die Müdigkeit übermannte und ihn für einen kurzen Augenblick von diesen Qualen erlöste. „Keine Wirkung nach vier Minuten.“ hielt die Frau mit den Locken fest, während Suzumaru die Atemmaske aufhob. Von Minuits Käfig aus konnte Yuki daraufhin beobachten, dass sein Carn unter denselben Schmerzen litt. Sie tat Yuki unendlich leid, als er sah wie sie sich genauso vergeblich wand wie er kurz zuvor. Nur kurz darauf war er es wieder, der leiden musste. Noch kürzer als die ersten beiden Male hatte der Körpertausch gehalten. Yuki schnappte nach Luft. Sogar das Atmen tat ihm weh. Er konnte kaum noch die Augen offen halten, so sehr brannten sie. Wie Suzumaru die Atemmaske erneut über auf sein Gesicht setzte, konnte er mehr fühlen als sehen. Selbst wenn er die Augen mit aller Mühe offen hielt, wurde das Bild von ihnen immer trüber. Hören konnte Yuki neben seinem eigenen Herzschlag, dem Rascheln seiner Kleidung und seinem stockenden Atem nichts mehr. Sogar den üblen Geruch des Gases nahm Yuki kaum noch wahr. Nur das stärker werdende Brennen jedes Atemzugs verriet ihm, dass er mehr davon eingeatmet hatte. Während Yuki wenige Minuten zuvor vor Schmerz nicht stillliegen konnte, brachte er nun kaum noch die Kraft auf, sich zu bewegen. Sein Ringen wurde schwächer und schwächer. Schließlich war sogar die Qual zu groß, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Zu diesem Zeitpunkt war Yuki kaum noch bei Bewusstsein. Allerdings war der Grund dafür nicht das Gas, das ihn ermüden ließ. Müdigkeit konnte Yuki zwar tatsächlich auch neben seinen Schmerzen spüren. Doch diese Müdigkeit war bei Weitem nicht groß genug, um ihn in Trance zu versetzen oder ihn sogar zum Körpertausch zu zwingen. Es fühlte sich an, als kämpften zwei Kräfte in seinem Körper gegen einander. Die eine wollte sein Bewusstsein unbedingt aus seinem Körper in den von Minuit übertragen, während die andere sein Bewusstsein in seinem eigenen Körper einsperren wollte. Das Zerren beider in seinem Kopf fühlte sich fast an, als würde sein Schädel bald zerspringen. Nie gekannte Kopfschmerzen, die Yuki fast verrückt machten. Im Ergebnis blieb er in seinem Körper gefangen und seinen Qualen ausgeliefert. Mit einem der letzten annähernd klaren Gedanken, die Yuki noch fassen konnte, fragte er sich, ob er dieses Experiment überleben würde. „Die Wirkung tritt nach zirka sechs Minuten ein.“ erklärte die Frau mit den Locken. „Vielleicht verzögert das Mittel nur.“ Suzumaru schien auf Nummer sicher gehen zu wollen. Diesmal befreite er Yuki noch nicht von der Atemmaske, sondern wartete noch zwei weitere Minuten ab. Erst als Yuki danach keine Veränderung zeigte, bestätigte er die Feststellung seiner Kollegin. Diese verließ daraufhin den Raum, um der Miss sofort Bericht zu erstatten. Suzumaru blieb zurück, um die verwendeten Instrumente und Mittelchen aufzuräumen. Nur hin und wieder warf er dabei einen Blick auf Yuki, kümmerte sich aber nicht weiter um ihn. Der Versuch war erfolgreich durchgeführt worden und damit hatte die Versuchsperson sein Interesse verloren. So hatte Suzumaru auch keine Skrupel, Yuki allein zurückzulassen. Mehr tot als lebendig überließ er das ausgediente Versuchskaninchen seinem Schicksal. Nachdem er den Nachmittag konsequent an seiner Arbeit weitergeschrieben hatte, war Ryu inzwischen guter Hoffnung, seinen Abgabetermin doch noch einhalten zu können. In letzter Zeit war viel passiert, das ihn gezwungen hatte, sein Studium sträflich zu vernachlässigen. Die Hauptursache war natürlich die Rebellion gegen den Rat, aber auch seine Ratstätigkeit selbst. Ryu musste zugeben, dass er beides unterschätzt hatte. Sowohl die Vorbereitungen für die Ratssitzungen, als auch die Recherchen für ihre Rebellen-Homepage nahmen viel mehr Zeit in Anspruch als er erwartet hatte. Dass sein Vater sich wieder einmal ohne Erklärung aus dem Staub gemacht hatte und die meiste Arbeit damit an ihm hängen blieb, machte alles nicht einfacher. Außerdem musste er auch noch in zwei Jobs beim Fairy Tales-Park und in Pierres Praxis Geld für die WG verdienen, Kiku zum Zalei ausbilden und sich allgemein um seine drei jüngeren Mitbewohner kümmern. Mit seinen 22 Jahren musste Ryu fast allein die Verantwortung für die ungewöhnliche Wohngemeinschaft stemmen. Folglich waren Ryus Zeit knapper geworden, seine Noten schlechter, seine Laune gereizter und seine Wut auf seinen Vater größer. Vor allem seine Mitbewohner hatten in letzter Zeit oft unter seiner schlechten Stimmung leiden müssen. Ryu hatte sich vorgenommen, das wieder gutzumachen, sobald er diese Arbeit endlich beendet hätte. Sein schlechtes Gewissen drückte ihn schon seit Längerem. Etwa gegen sechs Uhr beschlich Ryu das Gefühl, dass er sich von seinem Abgabetermin vermutlich doch verabschieden musste. Sein Handy klingelte unerbittlich. Anfangs versuchte Ryu noch, es zu ignorieren. Er versuchte sich einzureden, dass es nur ein Kollege war, der mit ihm die Schicht tauschen wollte. Oder ein Kommilitone, der ihn um seine Unterrichtsnotizen bitten wollte. Oder Pierre, der ihn zu einer Verabredung überreden wollte. Aber keine dieser Erklärungsversuche konnten den Gedanken ‚Vielleicht ist es aber doch wichtig?‘ aus Ryus Kopf vertreiben. Also knurrte er missbilligend, ließ seinen Stift fallen, schob seinen Schreibtischstuhl zurück und griff nach seinem Handy, das auf dem Nachttisch lag. „Hallo?“ Schweigen am anderen Ende. Ryu konnte nur Straßengeräusche und schwere Schritte im Hintergrund hören. „Wer ist denn da?“ „… Ryu? Gott sei Dank…“ hauchte eine Stimme mehr als sie sprach. Sie war so leise, dass Ryu das Handy fest ans Ohr pressen musste, um überhaupt etwas zu hören. „Ja, ich bin’s. Was ist denn?“ Wieder keine Antwort. Nur der Straßenlärm, die schweren Schritte und unruhiges Atmen. Ryu wartete einen Moment, ob sich die Stimme nicht doch noch einmal melden würde. Er lauschte inzwischen den Geräuschen. Diese schweren Schritte... Das waren keine Schritte. Es waren Hufe. „Lan, bist du das?“ Auch diesmal erhielt Ryu zunächst keine Antwort. Spätestens jetzt machte er sich ernsthaft Sorgen. So ein Anruf an sich war schon Anlass zur Sorge. Noch viel mehr, wenn er wirklich von Lan stammte. „Lan…?“ „… bin am Spielplatz hinter der alten Tennisanlage. Ryu…“ „In Ordnung. Ich komme sofort. Ok? Warte dort auf mich.“ Ryu legte auf, schickte eine Mischung aus einem Fluch und einem Stoßgebet zum Himmel, während er das Handy kraftvoll auf sein Bett schleuderte. Dann griff er nach seiner Jacke und stürzte zur Tür hinaus. Erst als er die Haustür schon hinter sich zugeworfen hatte, fiel ihm ein, dass es vielleicht nicht die dümmste Idee gewesen wäre, das Handy mitzunehmen. Aber nachdem er sich beeilen musste, wollte er nicht noch einmal umdrehen. Ryu joggte den größten Teil der Strecke. Unterwegs war ihm auch eingefallen, dass er eigentlich auf seinem Esel Sleipnir hätte reiten können. Ganz offensichtlich war Ryu unter Stress nicht der klarste Denker. Aber auch zu Fuß erreichte er den angegebenen Spielplatz hinter der nicht mehr genutzten Tennisanlage nur etwa zwanzig Minuten nach Lans Anruf. Schon von Weitem konnte er das schwarze Pferd erkennen, das ihm mit gesenktem Kopf langsam entgegen trabte. So wie Ryu näher kam, bemerkte er, dass Lan auf dem Rücken seines Carn lag. Sein Kopf ruhte auf dem Nacken des Tieres, seine Arme baumelten an seinen Seiten herab. Die letzten Meter sprintete Ryu zu ihnen hinüber, während er wieder und wieder Lans und Onyx‘ Namen rief. Das Pferd schnaubte als wolle es antworten, doch Lan meldete sich nicht. Zunächst griff Ryu nach den Zügeln und führte Onyx zum Rand des Spielplatzes, wo eine Reihe von Parkbänken stand. Dann hob er Lan vorsichtig von seinem Rücken und legte ihn auf eine von ihnen. Lan atmete genauso unruhig wie bei seinem Anruf. Sein Haar war zerzaust, der Stoff seiner Jacke und Jeans zerrissen. An diesen Stellen gab der Stoff den Blick auf zahlreiche Kratzer und blaue Flecke frei. Über seinem linken Auge prangte eine Platzwunde, von der aus sich eine Blutspur bis über seine Wange zog. Lan sah aus wie nach einer Schlägerei. „Lan. Hörst du mich?“ fragte Ryu mit beruhigender Stimme. Lan nickte und öffnete unter anscheinend großer Anstrengung die Augen. Als er Ryu erkannte, lächelte er fast ein wenig erleichtert. „Ryu, es tut mir leid. Ich hab gedacht, du bist der Verräter. Es tut mir leid.“ murmelte er eine Entschuldigung, die in Ryus Ohren überhaupt keinen Sinn ergab. „Wieso Verräter? Was ist passiert, Lan? Wer hat dich so zugerichtet?“ „Ich hab Adoy belauscht. Er arbeitet tatsächlich mit K.R.O.S.S. zusammen. Pierre ist auch auf seiner Seite und sollte mich umbringen.“ „Pierre war das? Aber dann…“ „Sie hat mich nicht gebissen. Antoinette meine ich. Er hat nur… Das wird wieder, bin ok… Nicht schlimmer als sonst… Und Onyx hat nur zwei Kratzer abgekriegt. Diesmal hab ich auf ihn aufgepasst, wie du immer gesagt hast…“ Ryu überlegte, ob Lan einfach so kaputt, oder ob sein wirres Gestammel möglicherweise das Ergebnis seiner Kopfverletzung war. Auf jeden Fall war er verletzt. Selbst wenn er kein Kobragift von Pierres Carn abbekommen hatte, musste er verarztet werden. Hier sah Ryu im Moment die höchste Priorität. Über Meister Adoys Zusammenarbeit mit K.R.O.S.S. oder Pierres Rolle konnte er sich später Gedanken machen. Auch wenn ihn beides natürlich schockierte. „Ich bring dich jetzt erst mal nach Hause. Du kannst mir später erzählen, was genau passiert ist.“ Ryu stand auf und sah sich Onyx zunächst genauer an, bevor er entschied, ob er Lan mit seiner Hilfe transportieren konnte. Der Hengst hatte tatsächlich nur zwei kleinere Kratzer abbekommen, wie Lan gesagt hatte. Also hatte er sich vielleicht endlich Ryus Worte zu Herzen genommen und besser auf seinen Carn aufgepasst. Jetzt musste Ryu ihm nur noch beibringen, auf sich selbst genauso Acht zu geben. Ryu schüttelte resignierend den Kopf. Lan war in der Zwischenzeit schon fast erneut weggetreten. Doch er kam wieder zu sich, als Ryu mit einem Arm unter seine Schultern und mit dem anderen unter seine Knie fasste, um ihn hochzuheben. Erschrocken riss er die Augen auf. „Ich hab das Wichtigste vergessen!“ „Was denn?“ „Wo ist Kiku? Und Yuki? Er ist in Gefahr! Kiku ist der Verräter!“ „Was meinst du?“ fragte Ryu ungläubig und wunderte sich, ob Lans Kopfverletzung doch so schlimm war. „Kiku arbeitet für K.R.O.S.S. und soll Yuki zu ihnen bringen.“ „Spinn doch nicht. Kiku würde nie…“ „Ich spinn nicht! Was glaubst du denn, warum K.R.O.S.S. von jedem unserer Schritte sofort Wind bekommen hat? Zuerst dachte ich, du wärst ihr Informant. Aber Pierre hat sich vorhin verplappert.“ „Und was hat das mit Yuki zu tun?“ „Adoy ist sauer auf Yuki, weil der ihn schon zum zweiten Mal wegen Kei hintergangen hat. Deswegen will er ihn K.R.O.S.S. als Versuchskaninchen opfern.“ Lan konnte förmlich zusehen wie Ryu immer blasser wurde. Gleichzeitig spürte er wie langsam die Kraft aus den Armen wich, die ihn noch immer hielten, und sie zu zittern begannen. „Wenn du mich verstanden hast, dann lass mich endlich los und sieh zu, dass du deinen kleinen Bruder findest!“ Einige Zeit verging, bevor sich wieder etwas tat in dem weißen Raum in der K.R.O.S.S.-Zentrale. In dieser Zeit lag Yuki einfach nur da, unfähig zur kleinsten Bewegung und kaum bei Bewusstsein. Seine ohnehin blasse Haut war fast schneeweiß geworden. Kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, rote Blutspuren an seinen Handgelenken, wo er diese an den Fesseln aufgerieben hatte. Sein Haar fiel in wirren Strähnen um sein Gesicht und über seine Schultern. Nur kaum hörbare Atemzüge bestätigten, dass er noch am Leben war. Minuit schien es so weit gut zu gehen. Sie war unverletzt und von den Schmerzen verschont geblieben, die ihren Zalei fast bis zur Besinnungslosigkeit gequält hatten. Aber ihre Angst war unvermindert. Fast panisch flatterte sie in ihrem Käfig herum. Immer wieder hielt sie inne und knabberte an den Gitterstäben, nur um kurz darauf erneut panisch aufzuflattern. Ausgerechnet Kiku öffnete schließlich zögerlich die Tür und trat mit unsicheren Schritten ein. Sie zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub. Tränen hatten sich in ihren wasserblauen Augen gesammelt. Die Spuren auf ihren Wangen verrieten, dass es nicht die ersten waren, die sie vergoss. Ganz langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und stand dabei so unsicher, dass ihre Knie jeden Augenblick nachzugeben drohten. Direkt vor Yukis Liege sank sie schließlich tatsächlich nieder. Kiku wäre vielleicht komplett auf dem Boden zusammengebrochen, wenn sie sich nicht mit dem rechten Arm am Rand der Liege abgefangen hätte. Ihre Hand tastete suchend nach Yukis. Als sie sie fand, schlossen sich ihre Finger zitternd um die seinen. Yukis Hand war eiskalt, seine Finger leblos. „Y-Yuki…“ schluchzte sie völlig heiser. Ihre Stimme schien in ihren Tränen erstickt. „Es tut mir so leid. Sie haben mir gesagt, dass dir nichts passiert. Sie haben es mir versprochen. Hoch und heilig haben sie es mir versprochen. Die Miss selbst… Es tut mir so leid.“ Einige Minuten verstrichen, in denen Kiku Yukis Hand hielt, sich wieder und wieder entschuldigte und eine endlose Zahl an Tränen vergoss. Sie wusste nun, dass jeder sie angelogen hatte, der ihr versprochen hatte, Yuki würde nichts passieren. Wie naiv sie gewesen war. Sie hatte auch begriffen, dass K.R.O.S.S. nicht die Guten in diesem Spiel waren. Sie war nur ausgenutzt worden. Und ihr war auch bewusst, dass sie nie wieder gutmachen konnte, was sie angerichtet hatte, egal wie leid es ihr tat. Aber zumindest konnte sie Yukis Leben retten. So schluchzte sie ein letztes Mal, wischte mit ihrem Ärmel die vorerst letzten Tränen aus ihrem Gesicht und stand mit neugefundener Entschlossenheit auf. Sie hatte Yuki hier reingebracht und sie würde ihn auch wieder rausbringen. Mit zitternden Fingern begann sie, die Riemen zu lösen, die Yuki an die Liege fesselten. Alles suchte Ryu nach seinem Bruder und seiner Schülerin ab. Kaum hatte Lan seinen Satz beendet, da hatte er ihn auf das Pferd gehoben, war hinter ihm aufgestiegen und losgaloppiert. Die Angst um seinen Bruder ließ ihn für eine Weile sogar jedes Mitleid mit dem entkräfteten Pferd und seinem verletzten Freund vergessen. Zwei- oder sogar dreimal ritt er den Weg zum Kino und zurück ohne eine Spur zu finden. Im Kino selbst fragte er mehrere Angestellte, aber niemand konnte sich an ein Paar erinnern, auf das die Beschreibung von Yuki und Kiku passte. Auch in sämtlichen Gaststätten in der Umgebung des Kinos hatte niemand die beiden gesehen. Bei einem kurzen Zwischenstopp in ihrer gemeinsamen Wohnung wurde auch Ryus Hoffnung enttäuscht, sie wären inzwischen nach Hause gekommen. Bei dieser Gelegenheit legte er jedoch zumindest den verletzten Lan auf der Couch ab und tauschte Onyx im Stall gegen Sleipnir aus. So konnten sich die beiden etwas erholen, während Ryu sich mit seinem Esel auf den Weg zur Zentrale von K.R.O.S.S. machte. Wenn Kiku wirklich plante, Yuki zu K.R.O.S.S. zu bringen und die beiden sonst nirgends zu finden waren, dann musste Ryu befürchten, dass sie ihren Plan schon in die Tat umgesetzt hatte. Sie mussten in der Zentrale von K.R.O.S.S. sein. In diesem Fall konnte Ryu nur hoffen, nicht zu spät zu kommen. Er ahnte nicht, dass Kiku inzwischen zigmal vergeblich versucht hatte, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)