Dunkelheit von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 16: Abgründe -------------------- So, kaum haben die Semesterferien angefangen und ich liefer euch schon das neue Kapitel ;p Aber als ich erstmal mit dem Schreiben angefangen hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören ^.^ So, ich hoffe, es gefällt euch ^^ Okay, ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ihr das Ende nicht mögen werdet, aber da habt ihr leider Pech gehabt XDDDD So und jetzt viel Spaß ^____^ ____________________________________________________________________________ Claire beschlich ein seltsames Gefühl, als sie langsam durch die verlassenen Gänge des Palastes schritten. Schon am Eingang hatte sie verwundert zur Kenntnis genommen, dass keinerlei Wachtposten aufgestellt gewesen waren. Zugegeben, früher waren dort nie Wächter postiert gewesen, aber seit dem Eindringen der Vampire hatte Te-Kem jegliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, die ein Magier seines Standes aufzubringen hatte. Doch nun war alles leer. Vollkommen verlassen. Claire überlief unweigerlich eine Gänsehaut. Dieser trostlose und stille Flur machte ihr mehr Angst, als sie sich eingestehen wollte. Es erinnerte sie unwillkürlich an den dunklen Keller, in dem Asrim all die Zeit eingesperrt gewesen war. „Jyliere erwartet euch im großen Ratssaal“, verkündete Calvio mit einem breiten Grinsen. Ihn schien diese unheilvolle Ruhe nicht im geringsten zu stören. Wahrscheinlich genoss er es sogar, dass Claire so eingeschüchtert war. Die Magierin verzog ihr Gesicht. Diesen proletenhaften Verbrecher hatte sie noch nie leiden können. Wieso Jyliere diesen Kerl unter seine Fittiche genommen hatte, konnten nur die Götter allein wissen. Claire hatte ihn damals für verrückt erklärt, als er Calvio angeschleppt hatte. Und sie ertappte sich immer wieder dabei, dass sie ernsthaft Jylieres gesunden Menschenverstand in Frage stellte, wenn es um diesen Typ ging. Bis heute hatte Claire nicht verstanden, was Jyliere in Calvio zu sehen glaubte. „Du denkst gerade über mich nach, nicht wahr, Schätzchen?“ Calvio hatte sie die ganze Zeit über amüsiert betrachtet. „Bist du etwa am überlegen, wie du mich am besten verführen kannst? Jetzt, wo du mit Neyo fertig bist?“ Claire zog demonstrativ ihre Mundwinkel nach unten. Dieser Kerl war nicht nur ein unfreundlicher und respektloser Verbrecher, sondern er litt offenbar auch noch an Wahnvorstellungen. Neyo hingegen lächelte nur belustigt. Ihm schienen diese Streitigkeiten anscheinend sehr zu unterhalten. Claire schwor sich, dass er schon bald dafür büßen würde. „Da sind wir!“ Calvio blieb vor einer großen, mit reichlich Verzierungen geschmückten Doppeltür stehen und machte ein Gesicht, als wäre er überaus stolz auf seine Führerqualitäten. Claire ging nicht weiter darauf ein, sie war nur verwundert, dass Calvio überhaupt wusste, wo sich der Ratssaal befand. Eigentlich hatte sie angenommen, dass er das Innere des Palastes noch nie gesehen hatte. Calvio legte seine Hand auf die Klinke und wandte sich an die beiden anderen. „Bevor wir reingehen, möchte ich euch noch etwas sagen“, meinte er bedeutungsschwanger. Claire knirschte ungeduldig mit den Zähnen. „Und was soll das sein?“ Calvios Lächeln verschwand plötzlich, mit einem mal wirkte er vollkommen ernst. Claire musste sich eingestehen, dass ihr bei diesem Anblick ein jäher Schauer über den Rücken lief. Mehr denn je spürte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. „Was auch immer nun kommen mag, Neyo, du warst mir ein guter Freund.“ Calvio schaute Neyo fest in die Augen. Nichts deutete darauf hin, dass er sie irgendwie auf den Arm nehmen wollte. „Und es tut mir wirklich Leid.“ „Es tut dir Leid?“ Offenbar war auch Neyo ziemlich verwirrt über Calvios unvermittelten Stimmungswechsel. „Was tut dir Leid?“ Calvio gab keine Antwort, stattdessen stieß er die Tür auf. Und nun wurde ihnen klar, worauf Calvio angespielt hatte. Eine ganze Armee von Vampiren hatte sich im Ratssaal breit gemacht, Männer und Frauen mit funkelnden Augen und einem breiten Raubtierlächeln. Es mussten mindestens an die zwanzig sein, wenn nicht noch mehr. Alle hatten beim Öffnen der Tür ihre Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge gerichtet. Claire keuchte entsetzt auf, Panik stieg in ihr hoch. Im ersten Moment überkam sie der Drang, einfach fortzulaufen und sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Doch sie spürte bereits, dass ihr vor Angst gelähmter Körper nicht mitspielen würde. Außerdem wurde ihr nach der ersten Schreckenssekunde bewusst, dass es sowieso nicht viel Sinn gemacht hätte, vor diesen übernatürlichen Kreaturen zu fliehen. Sie waren schließlich unmenschlich schnell und hätten sie binnen weniger Sekunden eingeholt. „Wie nett, dass ihr auch zu unseren kleinen Feier erscheint.“ Das Grinsen Sharifs, der im Mittelpunkt der ganzen Horde stand, war über alle Maßen teuflisch. Claires Magen verkrampfte sich unweigerlich. „Wir hatten schon angenommen, ihr würdet die beiden Herren hier bei uns versauern lassen.“ Claire folgte seinem Fingerzeig und schnappte erschrocken nach Luft, als sie entdeckte, worauf der Vampir angespielt hatte. Te-Kem und Jyliere befanden sich etwas weiter im Hintergrund, eingekeilt von mehreren Untoten, die sich mit grimmigen Mienen bewachten. Die beiden Magier schienen nicht ernsthaft verletzt – immerhin konnten sie noch aus eigener Kraft stehen –, aber das konnte sich jederzeit ändern. Claire war klar, dass die Vampire sicherlich nicht unbedingt zimperlich mit ihren Opfern umgehen würden. Sie ließ ihren Blick durch den Ratssaal schweifen. Hungrige Augen begegneten ihr, voller Gier und Verlangen. Nichts Menschliches haftete mehr an diesen Kreaturen. Die Kleidung von einigen war blutbesudelt, was Claire mit einem Schaudern daran erinnerte, dass sie auf ihrem Weg hierhin keinen einzigen Wachtposten gesehen hatten. Offenbar hatten sich die Vampire nicht zurückhalten können und die Wächter kurzerhand zu ihrer Mahlzeit erkoren. Claire lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie viele von ihnen mochten überhaupt noch am leben sein? Hatten diese Bestien etwa alle getötet? „Jetzt, wo ihr endlich hier seid, können wir mit unserem Spielchen fortfahren.“ Lasgo warf einen abschätzenden Blick auf die beiden Magier neben sich. „Aber erst einmal könntest du mir das Buch geben, Calvio. Es ist wirklich nett, dass du es mitgebracht hast.“ „Du wolltest es unbedingt haben und ich hab's dir besorgt“, meinte Calvio schulterzuckend. „Keine große Sache.“ Claire spürte, wie sich Neyos Körper verkrampfte. Fassungslos weiteten sich seine Augen, als Calvio ihm das Buch aus den Händen riss, ihm ein triumphierendes Lächeln schenkte und sich schließlich an die Vampire wandte. Lasgo und Calvio unterhielten sich kurz in einer fremden Sprache und warfen schließlich den beiden Menschen einen selbstgefälligen Blick zu. Neyo schnappte derweil entsetzt nach Luft. „Du ... du gehörst zu ihnen?“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. Calvio setzte sein typisch dreckiges Grinsen auf. „Dir ist doch schon immer klar gewesen, dass ich es faustdick hinter den Ohren habe“, meinte er gelassen. „Jetzt spiel nicht den Überraschten.“ Neyo schien nicht so recht zu wissen, ob er schockiert oder wütend sein sollte. Seine Gefühle wirbelten wild durcheinander. „Du Verräter!“, zischte er unheilvoll. Claire spürte, wie er kurz davor war, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Calvio hingegen lachte nur. „Verräter?“, fragte er amüsiert. „Wie kann ich euch denn verraten, wenn ich von Anfang an nie zu euch gehört habe? Hab ich denn je behauptet, ich wäre kein Vampir? Wenn ihr mich danach gefragt hättet, hätte ich ohne zu zögern die Wahrheit gesagt. Aber mich hat niemand danach gefragt.“ Claire hob skeptisch eine Augenbraue. Die Logik dieses Kerls war ihr schon immer unbegreiflich gewesen. Als würde er glauben, dass es selbstverständlich wäre, jeden einzelnen, den man begegnete, danach zu fragen, ob er ein Untoter sei oder nicht. Neyo brachte keinen einzigen Ton mehr heraus, er war viel zu sehr von all dem überrumpelt worden. Sein harter Blick war eine halbe Ewigkeit auf Calvio fixiert, seine Mimik verriet die bittere Enttäuschung und den Zorn. Schließlich jedoch ließ er seine Augen durch den Raum schweifen, er schien jedem einzelnen Vampir ins Gesicht zu blicken. Letztendlich blieb seine Aufmerksamkeit an einem hochgewachsenen Mann hängen, der direkt neben Lasgo und Sharif stand. Claire schnappte entsetzt nach Luft, als ihr in der nächsten Minute klar wurde, dass es sich um Asrim handeln musste. Immerhin hatte sie ihn unten im Keller nicht zu Gesicht bekommen, sie hatte nur einen kühlen Lufthauch gespürt. Bloß ein dunkler, schneller Schatten war er gewesen. Nun jedoch konnten sie ihm direkt ins Antlitz blicken. Und Claire lief unweigerlich ein kalter Schauer über den Rücken. Er wirkte wie ein lebendiger Toter, wie eine zum Leben erwachte Leiche. Seine Haut war so dermaßen blass, dass man die feinen Adern selbst aus der Entfernung bestens erkennen konnte. Seine Hände waren feingliedrig, fast wie bei einer Fledermaus. Und sicherlich hervorragend dafür geeignet, sie jemanden um den Hals zu legen und fest zuzudrücken. Seine Haare waren lang und dunkel, vereinzelt mit einigen silbernen Strähnen durchzogen, die im Licht sanft strahlten. Am faszinierendsten war jedoch zweifellos sein Gesicht. Der Begriff 'zeitlos' kam ihr dabei unwillkürlich in den Kopf. Allein bei bloßer Betrachtung hätte man nicht schätzen können, wie alt er war. Er hätte zwanzig sein können, aber ebenso gut auch fünfzig. Claire hätte es nicht mit Bestimmtheit sagen können. Und seine Augen ... solche Augen hatte sie noch nie gesehen. Rot strahlend, als kämen sie direkt aus der Unterwelt. Als würden sie Dinge sehen, die niemand sonst zu Gesicht bekommen konnte. Als wären sie nicht von dieser Welt. Auch die schwarze Aura des Vampirs ließ Claire erschauern. Sie erschien mindestens zehnmal stärker und intensiver als die der anderen, ihr Pulsieren bereitete der Magierin geradezu Kopfschmerzen. Als würde sie ein Eigenleben besitzen, sich im ganzen Rum verteilen und unbemerkt Einfluss auf alle Anwesenden nehmen. Wahrscheinlich war es sogar so. „Verräter und Freund.“ Asrims Stimme schien sich durch Claires Haut zu fressen. Automatisch suchte sie hinter Neyo Schutz. „Mörder und Vertrauter. Das ist nun mal die Natur der Vampire, Neyo. Allmählich müsstest du das doch begriffen haben.“ Neyo schwieg. Selbst gegenüber Sharif hatte er vor nicht allzu langer Zeit ein loses Mundwerk bewiesen, aber Asrim gegenüber schien er es nicht zu wagen. Er presste bloß die Lippen aufeinander und starrte den Vampir weiterhin an. „Ich habe dir eine Belohnung versprochen, mein Freund“, fuhr Asrim fort. „Und die sollst du auch bekommen. Sobald Alec hier ist, kann das Spiel beginnen.“ Claire zuckte zusammen. War es etwa soweit? Würde die Prophezeiung im Buch der Zukunft nun hier und jetzt in Erfüllung gehen? Die Magierin schluckte schwer. Eigentlich hatte sie nicht dabei sein wollen, wenn Te-Kem sein Ende fand. Im Grunde hatte sie über diese Möglichkeit nicht mal nachgedacht. Ihr Blick fiel auf den Oberen. Er wirkte bleicher und älter als jemals zuvor. Selbst seine prächtige Kleidung erschien irgendwie farblos und dumpf. Er hatte bereits mit seinem Leben abgeschlossen, soviel war sicher. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck sprach Bände. Seine blutunterlaufenden Augen waren auf Asrim gerichtet, der ihm kurz ein gehässiges Lächeln zuwarf und ihn ansonsten mit völliger Nichtbeachtung strafte. „Was sollen wir nur tun?“, flüsterte Claire. Sie rückte ein Stück näher zu Neyo und schaute verängstigt zu ihm auf. Dieser hatte eine harte Miene aufgesetzt und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich fürchtete, doch Claire durchschaute ihn. Asrims Worte hatten ihn aufgewühlt. Er hatte Angst vor dem, was der Vampir mit ihm vorhatte. Vor der Belohnung. Auch Claire erzitterte jäh, als sie daran dachte. Aber gleichzeitig kam ihr in den Sinn, dass es eigentlich unmöglich war, dass Asrim Neyo zu seinesgleichen machte. Immerhin stand sein Name nicht im Buch, nirgendwo war er erwähnt. Außer natürlich, Asrim hatte mit seiner Belohnung etwas völlig anderes im Sinn. „Lauf weg!“, wisperte Neyo ihr zu. Claire schaute verdutzt drein. „Was?“, fragte sie verwirrt. „Du sollst weglaufen!“, wiederholte er mit Nachdruck. „Sie interessieren sich nicht für dich, nur für mich. Wenn du jetzt verschwindest, werden sie dir bestimmt nicht folgen.“ Claire hob skeptisch eine Augenbraue. Irgendwie konnte sie sich das nur schwer vorstellen. Zugegeben, Asrim hatte wirklich nur Augen für Neyo und würde Claire ohne Zweifel laufen lassen, doch die mindestens zwanzig anderen Vampiren sahen das wahrscheinlich ein bisschen anders. Potenzielle Beute würden sie sicherlich nicht entkommen lassen. Allein schon beim Anblick ihrer blutbesudelten Kleidung wurde Claire klar, dass diese Wesen zu allem fähig waren und sich einen kleinen Leckerbissen nicht durch Lappen würden gehen lassen. Abgesehen davon wollte Claire Neyo unter keinen Umständen alleine zurücklassen. Sie würde bei ihm bleiben, ganz gleich, was passiert. Das stand für sie fest. Neyo schien zu erkennen, wie ihre Entscheidung ausfiel. Er wirkte nicht besonders froh darüber, aber andererseits fühlte er sich geschmeichelt, dass sie ihn nicht im Stich ließ. Ein zaghaftes Lächeln huschte über seine Lippen, das aber sofort wieder einer besorgten Miene Platz machte. Asrims kalte Stimme ließ die beiden erschrocken zusammenfahren. „Wie überaus romantisch“, höhnte er. „Aber gebt euch keinen Illusionen hin, ihr seid schon so gut wie tot. Auf die eine oder andere Weise. Heldenmut und Tapferkeit ist nur was für Idioten.“ Sein breites, überaus dämonisches Grinsen ließ erneut Panik in Claire aufsteigen. „Aber es ist sowieso zu spät. Riecht ihr es nicht?“ Er lachte schallend. „Alec ist endlich eingetroffen.“ * * * * * Neyo schluckte. Also würde Alec bald hier sein, offenbar befand er sich bereits im Palast. Neyo überlief ein eisiger Schauer, als er daran dachte. Claires Beschreibung war ihm bestens im Gedächtnis haften geblieben. Verrückt und hochgradig größenwahnsinnig, so hatte sie es ausgedrückt. Nun war es also soweit. Das Buch der Zukunft hatte wie immer Recht gehabt ... Te-Kem würde sterben – und das vor ihrer aller Augen. Neyo erschreckte es, dass er dies dermaßen gelassen hinnahm, aber andererseits fiel ihm auch nicht ein, was er hätte tun können, um die Ermordung des Oberen zu verhindern. Immerhin konnte er sich nicht einer ganzen Armee von Untoten entgegenstellen. Selbst mit einem einzelnen wäre er nicht fertig geworden. Dennoch war Neyo ein wenig stutzig geworden. Wieso warteten sie überhaupt auf Alec? Warum sollte gerade er Te-Kem töten? Der alte Magier war schließlich von unzähligen Vampiren umgeben und hätte schon längst das Zeitliche segnen können. Nur einer dieser Mörder hätte seine Hand ausstrecken und Te-Kems das Genick brechen müssen. Doch sie taten es nicht. Sie warteten ... warum auch immer. „Alec hat ein Vorrecht darauf.“ Neyo zuckte erschrocken zusammen, als er Asrims Stimme vernahm. Der Vampirführer hatte ihn die ganze Zeit über im Auge behalten und offenbar genau geahnt, was in dem jungen Mann vorgegangen war. Vielleicht hatte er sogar irgendwie Neyos Gedanken gelesen. „Ein Vorrecht?“ Claire runzelte verwundert die Stirn. Asrim nickte bestätigend, während er sich den beiden langsam aber sicher näherte. Neyos Körper spannte sich, je mehr der Abstand zwischen ihnen verringert wurde. Er wollte nicht, dass dieser Vampir ihm nochmal so nah kam wie im Verlies. Er wollte nicht erneut seinen Verstand verlieren. Und dennoch rührte sich Neyo kein Stück, seine Beine waren wie festgewachsen. Er war sich nicht ganz sicher, ob die Angst ihn lähmte oder doch irgendwie Asrims selbst. Immerhin war ein uralter Magier zu fast allem fähig. „Sagen wir einfach, es wird Alec ein wahres Vergnügen sein, euer mickriges Oberhaupt umzubringen.“ Asrim grinste dämonisch. „Er wird es genießen.“ Neyo blinzelte verdutzt. Hieß das etwa, dass Te-Kem und Alec sich kannten? Dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab, die Alec dazu veranlasste, den Tod des Oberen herbei zu sehnen? Neyo warf einen fragenden Blick zu Te-Kem, doch dieser wirkte völlig ratlos. Er schien sich offenbar aus Asrims Worten keinen Reim machen zu können. „Er weiß davon nichts“, meinte Asrim. „Ihm ist nicht klar, dass er Alec bereits begegnet ist.“ Aus Te-Kems Gesicht wich jegliche Farbe, seine Kinnlade klappte nach unten. Auch Jyliere, der die ganze Zeit eine mürrische Miene aufbehalten hatte und sich von den Vampiren nicht weiter hatte einschüchtern lassen, konnte nicht umhin, überrascht dreinzuschauen. Offensichtlich war diese Information für die beiden Magier ein ziemlicher Schock. Auch Neyo war beunruhigt. Mochte es stimmen, was Asrim gesagt hatte? War Alec wirklich schon in Te-Kems unmittelbarer Nähe gewesen? Neyo erschauerte, als er daran dachte, wie leicht sich die Vampire in ihre Welt einschleichen konnten. Er warf einen kurzen Blick zu Calvio, der neben Jyliere stand und dem Magier irgendetwas zuflüsterte, worauf dieser sein Gesicht verzog. Auch er hatte sich mühelos als Mensch ausgeben können, Neyo hatte ihm vollstes Vertrauen entgegengebracht. Nicht eine Minute wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass sich Calvio als Verräter entpuppen könnte. Zugegeben, Claire war weitaus weniger erstaunt gewesen als er – schließlich hatte sie nie ein gutes Haar an Calvio gelassen –, dennoch schien auch sie nicht geahnt zu haben, dass er tatsächlich ein Vampir sein könnte. Schon alleine der Gedanke war absurd gewesen. Und dennoch hatte es sich als Wahrheit herausgestellt. Neyo biss sich auf die Unterlippe und versuchte krampfhaft, die Tränen der Wut zu unterdrücken. Er hasste Calvio dafür, dass er ihn so hatte hintergehen können ... und gleichzeitig wünschte er sich, dass alles wieder so sein könnte wie früher. Wehmütig stiegen alte Erinnerungen in ihm hoch: Wie sie sich nachts stundenlang über irgendwelchen Blödsinn unterhalten hatten, wie sie Claire immer zur Weißglut getrieben hatten und wie Calvio einst stundenlang an Neyos Bett ausgeharrt hatte, als dieser an einer schweren Krankheit gelitten hatte. War das etwa alles nur gespielt gewesen? War er wirklich nur nach Mystica gekommen, um einen Weg zu finden, Asrim zu befreien? War das tatsächlich der einzige Grund gewesen? Aber wieso hatte er dann, kurz bevor sie in den Ratssaal getreten waren, gesagt, dass es ihm Leid täte? Warum hatte er sich entschuldigt? Wenn ihm ihre sogenannte 'Freundschaft' gleichgültig gewesen wäre, hätte er sich nie dazu herabgelassen, solche Worte in den Mund zu nehmen. Oder war es nur Spott gewesen? Hatte Calvio ihn verhöhnen wollen? Neyo raufte sich durchs Haar. Er wusste kaum noch, wo oben und unten war. Jahrelange Freunde entpuppten sich plötzlich als Feinde, sodass Neyo ernsthaft an seiner Menschenkenntnis zu zweifeln begann. Früher hatte er immer angenommen, er könnte jeden durchschauen, aber offenbar war dies ein Irrtum gewesen. Ein Mann, dem er bedingungslos vertraut hatte, hatte ihn ohne weiteres verraten können. „Mein Junge, gräme dich nicht.“ Asrims säuselnde Stimme drang wieder an sein Ohr und erneut war er der Versuchung erlegen, sich diesem Untoten zuzuwenden. Er fühlte bereits, wie sein anfänglicher Widerstand zu bröckeln begann. Allein die Stimme dieses Vampirs reichte aus, um ihn in den Bann zu schlagen. Vielleicht war es mit Calvio nicht anders gewesen. Möglicherweise hatte er sie alle, Jyliere eingenommen, mit seinen Worten verblendet, sodass sie die Wahrheit nicht hatten erkennen können. „Du solltest dir nicht dein kleines Köpfchen zerbrechen.“ Asrim streckte die Hand aus und wollte Neyo offenbar wie bei einem Kind über die Haare streicheln, doch der junge Mann wich hastig zurück. Er hatte wenigstens noch genug Willensstärke, um sich von diesem Kerl nicht berühren zu lassen. Aber wie lange würde es dauern, bis auch diese letzte Barriere brach? Asrim lächelte wissend. Ihm war anscheinend völlig klar, was für Gedanken Neyo durch den Kopf schossen. Der Vampir schien genau zu wissen, wie sehr sich sein Gegenüber quälte. Wie hin- und hergerissen er war. Und Neyo spürte, wie er mit jeder Minute schwächer wurde. Allein die Gegenwart Asrims reichte aus, um seinem Körper Kraft zu entziehen. Offenbar hatte Te-Kem wirklich Recht behalten. Da Neyo ein Sa'onti war, konnte Asrim frei über ihn verfügen. Er war nichts weiter als ein Spielzeug. Plötzlich merkte er, wie sich eine Hand in die seine schob. Als er sich umwandte, entdeckte er Claire, die ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Sie wirkte zwar verängstigt, tat aber alles, um ihm wieder etwas Mut einzuflößen. Neyo lächelte sanft. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren ... Als sein Blick jedoch auf Asrim fiel, stutzte Neyo. Der Vampir hatte seine Augen auf die ineinander verschlungenen Hände gerichtet, auf seinen Lippen lag ein überaus dämonisches Grinsen. Die Verbindung zwischen ihnen schien ihn zu belustigen. Neyo runzelte die Stirn. Irgendwie stieg ein merkwürdiges Gefühl in ihm auf. Ihm gefiel der Gesichtsausdruck Asrims ganz und gar nicht. Als hätte der Kerl irgendwas vor. Etwas Teuflisches. Bevor Neyo jedoch weiter darüber nachdenken konnte, ertönte unvermittelt ein lauter Knall, der alle außer Asrim erschrocken zusammenzucken ließ. Von einem Moment auf den anderen war der ganze Saal plötzlich in gleißendes Licht getaucht. Neyo bemerkte, dass einige der Vampire eilig Schutz suchten. Wie Tiere krauchten sie in Ecken oder hinter Stühle, aus ihren Kehlen drangen Knurrlaute wie bei aufgebrachten Wölfen. Sie schienen mindestens ebenso überrascht zu sein wie Neyo und Claire. Es war mehr als offensichtlich, dass sie diesen drastischen Stimmungsumschwung nicht einzuordnen wussten. Auch Neyo konnte sich keinen Reim darauf machen. Woher kam dieses grelle Licht? Was war denn nur los? Neyos Magen zog sich zusammen, sein Herz klopfte wie wild. Die Atmosphäre in dem Saal war von einer Minute auf die andere umgeschlagen, die bedrohliche Aura der Vampire schien verschwunden und hatte etwas anderem Platz gemacht. Aber was? Neyo konnte nicht mal genau definieren, ob es gut oder böse war. Er spürte bloß ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Er hatte immer ein ähnliches Gefühl, wenn ein schlimmes Gewitter anstand. War es etwa das? Würde ein Sturm losbrechen? Für einen kurzen Moment hatte Neyo angenommen, es wäre Asrims Werk oder gar Alec, der sich einen großen Auftritt verschaffte. Aber nach den verschreckten Reaktionen der Vampire zu urteilen, schien das unwahrscheinlich. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass selbst Lasgo und Sharif Deckung suchten. Einzig und allein Asrim stand an Ort und Stelle, seine Lippen zu einem fast wahnsinnigen Lächeln verzogen. Er wirkte wie ein Dämon, dem soeben ein wunderbares Geschenk gemacht worden war. Neyo spürte, wie Claire seine Hand drückte. „Es ist Te-Kem“, meinte sie. Ihr Gesicht erschien durch das Licht blass und seltsam verzerrt. Neyo richtete seine Augen mitten in den Raum. In der Tat, es war wirklich Te-Kem. Der junge Mann schnappte überrascht nach Luft. Was genau mit dem Oberen geschah, konnte Neyo beim besten Willen nicht sagen. Er war nur in der Lage, fassungslos mit anzusehen, wie sich der Körper Te-Kems in der gleißenden Helligkeit verlor. Er war ummantelt von Licht, eingehüllt in einen schützenden Kokon. Knirschend und knisternd erinnerte es Neyo an die magische Barriere, die Asrim fast ein Jahrhundert von der Außenwelt abgeschottet hatte. „Das ist viel zuviel Magie!“ Claires Stimme zitterte, ihre Augen waren weit aufgerissen. „Viel zuviel! Er zerstört damit nur sich selbst.“ Neyo nickte. Er verstand zwar nicht allzu viel von Magie, aber dennoch war ihm klar, dass dies nichts Gutes verheißen konnte. Te-Kem schien augenscheinlich die Kontrolle zu verlieren. Die Vampire, die ihn verspottet und verhöhnt hatten, hatten ihn bis zu diesem Punkt getrieben. Er war nur ein verzweifelter Mann, der sich mit letzter Kraft zu wehren versuchte. Vielleicht wollte er auch lieber Selbstmord begehen, als darauf zu warten, von einem Untoten umgebracht zu werden. Neyo hätte es ihm nicht mal verübelt. Tatenlos auf seinen Tod zu warten war schließlich alles andere als ruhmreich. Zu der Verblüffung aller schossen plötzlich blendend weiße Blitze von der Oberfläche der Barriere in alle Richtungen. Viele der Vampire schrien erschrocken auf und vergaßen dabei völlig, ihr kühles und unerschütterliches Wesen aufrecht zu erhalten. Sie wichen nur hastig den Geschossen aus. Es dauerte nicht lange und der große Ratstisch, an dem so unendlich viele Versammlungen stattgefunden hatten, war von den Blitzen in tausend Stücke zerfetzt worden. Holzsplitter flogen in alle Himmelsrichtungen davon und wurden zu gefährlichen Waffen. Auch der Kronleuchter hoch oben an der Deckel wackelte schon bald bedenklich. Neyo warf einen kurzen Blick zu Asrim. Dieser schien sich immer noch seines Lebens zu freuen, dieses Feuerwerk bereitete ihm offenbar großes Vergnügen. Während seine Artgenossen flohen, amüsierte er sich königlich. Selbst als ein Blitz knapp neben ihm in die Steinmauer einschlug, schien sich seine Stimmung nicht zu trüben. „Die Menschen sind so schwach.“ Trotz des Lärms war Asrim bestens zu verstehen. „Sie verlieren so leicht ihre Kontrolle und lassen sich von ihren Gefühlen leiten.“ Neyo musste ihm insgeheim Recht geben. Te-Kem schien in der Tat jegliche Gewalt über seine Kräfte eingebüßt zu haben. Seine Geschosse schlugen den ganzen Ratssaal kurz und klein, nichts blieb verschont. Seine Angriffe hatten keinerlei Ordnung, er feuerte einfach wild um sich. „Wir sollten von hier verschwinden!“, schlug Claire aufgeregt vor. „Bald steht hier kein Stein mehr auf dem anderen. Lass uns Jyliere holen und von hier –“ Sie brach plötzlich mitten im Satz ab. Sie wirkte einen Augenblick vollkommen verwirrt, dann verzog sie schmerzerfüllt ihre Miene. „Oh Nein!“, murmelte sie bloß. Ihr Blick glitt hinunter ... direkt auf das klaffende Loch in ihrem Bauch. Einen Moment schaffte sie es noch, auf ihren Beinen stehen zu bleiben, schließlich aber sackte sie zur Seite. Sie schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, ganz langsam. Und dennoch brauchte Neyo lange, um darauf zu reagieren. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, sie aufzufangen, bevor sie auf den harten Steinboden aufschlug. Schützend drückte er sie an seinen Körper. Seine Gedanken waren völlig abgeschaltet, er hatte nur rein instinktiv gehandelt. Es kam ihm beinahe so vor, als würde er jemand anderen beobachten, wie er Claire in die Arme nahm. In seinem Inneren herrschte plötzlich nur noch Leere. Und Kälte. Eisige Kälte. Der Schock hatte ihn ohne jede Vorwarnung überrumpelt. Für einen kurzen Augenblick war er sogar gewillt, zu glauben, dass dies alles nicht real war. Nur ein schrecklicher Traum. Die Vampire, Asrims teuflisches Grinsen, Te-Kems unkontrollierter Ausbruch ... Das konnte doch alles nicht wahr sein! Das konnte doch alles nur ein furchtbarer Scherz sein! Neyo nahm um sich herum gar nichts mehr wahr. Das gleißende Licht, die fliehenden Vampire, die ganzen Stimmen ... das alles war nicht mehr wichtig. Ohne die geringste Bedeutung. Seine Aufmerksamkeit war ganz und gar auf Claire gerichtet. Auf das junge Mädchen, das ihn oft genug in den Wahnsinn trieb und die er mit der Zeit zu lieben gelernt hatte. Ihr Gesicht war so blass ... so unsagbar blass. Und ihre Augen hatten mit einem mal ihren wundervollen Glanz verloren. Neyo konnte zwar noch ein zaghaftes Strahlen erkennen, aber es wurde bereits schwächer. Immer schwächer. „Claire ...“ Seine Stimme war brüchig, bei dem Lärm wahrscheinlich nicht mal zu hören. Unweigerlich fühlte Neyo sich an den Tag zurückversetzt, als er als achtjähriger Junge eines Morgens aufgewacht war und seine tote Mutter neben sich gefunden hatte. Dieses Bild hatte sich für ewig in sein Gedächtnis gebrannt und war ihm auch Jahre danach immer wieder in seinen Albträumen begegnet. Ständig sah er ihr bleiches Gesicht vor sich. Sie hatte den Anschein erweckt, als würde sie nur schlafen und jede Minute wieder aufwachen. Doch es war nicht geschehen. Sie hatte nie wieder ihre Augen geöffnet. Neyo war damals noch ein kleiner Junge gewesen, vollkommen allein gelassen. Er hatte nicht gewusst, was er hätte tun sollen. Er hatte sich einfach nur hilflos gefühlt. Und so war es nun auch. Er hielt Claire in seinen Armen und spendete ihr Wärme und Nähe, doch Neyo war klar, dass ihr dies nicht das Leben retten würde. Er wollte sich umdrehen, um nach Jyliere Ausschau zu halten, aber Claire legte unvermittelt ihre Hand auf seine Wange und lächelte ihm mühevoll entgegen. Auch Neyo rang sich zu einem Lächeln, auch wenn ihm wenig danach zumute war. Ihre Hand war so kalt, dass ihm unwillkürlich Tränen in die Augen schossen. Er konnte einfach nichts dagegen machen, er war wieder dieser achtjährige, völlig hilflose Junge von damals. „Zu ... spät ...“, presste Claire mühevoll hervor. „Jyliere ... er kann mir nicht mehr ...“ Sie brach ab. Ob aus Kraftlosigkeit oder um Neyo zu schonen, war nicht genau zu bestimmen. „Du brauchst keine Angst zu haben“, meinte er, verzweifelt um einen zuversichtlichen Tonfall bemüht. Seine Stimme hörte sich in seinen Ohren seltsam fremd an. Als würde jemand anderer für ihn sprechen. „Es wird alles wieder gut. Du darfst nur nicht aufgeben, hörst du?“ Claire nickte zögerlich, doch Neyo war absolut bewusst, dass sie ihm nicht glaubte. Nichts würde wieder in Ordnung gehen. „Ich ... ich wollte dir sagen, dass du ... Recht hattest ...“, flüsterte Claire. Neyo war viel zu aufgelöst, um ihre Worte richtig zu verstehen. „Womit hatte ich Recht?“ „Du hast gesagt, ich ... sei so gemein gewesen ... um meine Gefühle zu verbergen ...“ Ihre Stimme war nur noch ein zarter Windhauch. „Du ... du hattest ... Recht ...“ Ein letztes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Vielen Dank ... für alles ...“ Und mit diesen Worten erlosch das letzte bisschen Licht in Claires Augen für immer. ___________________________________________________________________________ So, ich hab euch ja gesagt, dass euch das Ende nicht gefallen wird >.< Ich hoffe mal, ihr steinigt mich jetzt nicht O.o Das finale Kapitel und der Epilog werden übrigens sicher nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen. Ich hab ja jetzt endlich wieder ein bisschen mehr Freizeit ^.^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)