Eikyû - gesegnetes Land von Alaiya (Die Legende der schlafenden Götter) ================================================================================ Kapitel 2: Die Fuchsfrau ------------------------ Kapitel 02: Die Fuchsfrau „Wisst ihr überhaupt, was ihr gemacht habt?“, rügte der alte Kannushi die beiden Fremden, die nun mit magisch verstärkten Schnüren gefesselt in seinem Haus saßen. Tsuki hatte mittlerweile die Körperstarre des Mannes aufgehoben. Dafür war dieser aber nun an seine Partnerin gefesselt und blickte finster drein, während das Mädchen mit allen Mitteln versuchte sich zu befreien und vor sich hin fluchte und schimpfte. Nun erkannte Tsuki auch, was sie vorhin am Tempel nur erahnen konnte: Das Haar des Mädchens war nicht nur sehr hell, sondern gänzlich weiß. Auch ihre Haut war furchtbar blass, so dass man sie für einen Albino gehalten hätte, hätte sie nicht strahlendblaue Augen gehabt. In denselben Farben – weiß und hellblau – war auch ihr Kimono gehalten. Der Mann hingegen hatte schwarzes Haar, so wie es im ganzen ehemaligen Eikyû üblich war, und leicht bräunliche Haut. Sein Gewand war dunkelgrau und nicht oliv oder dunkelgrün, wie Tsuki zuerst gedacht hatte. Seine linke Wange blutete, da er sie sich beim Sturz aufgeschürft hatte. Sie selbst saß am Feuer und trank Tee, während die vier Geisterkinder wieder in irgendwelche Ecken des Dorfes verschwunden waren. Nun griff der Kannushi nach Namida, was eigentlich nur die Bezeichnung für das Amulett und nicht für die ganze Kette war, und hielt sie direkt vor das Gesicht des Mannes. „Wisst ihr überhaupt, was das hier ist?“, fragte er ihn wütend. „Gerüchte gehört...“, gab der Mann, welcher eine recht tiefe Stimme hatte, zurück. „Das ist Namida, die Träne des Phönix“, fuhr der Alte ihn an, ohne auf die Antwort zu achten. „Ihr habt doch keine Ahnung von ihrer Macht oder ihrem Wert für unser Reich!“ Seine Stimme quoll bei den Worten regelrecht vor Empörung über. „Das interessiert uns aber gar nicht, Großväterchen“, schnauzte das Mädchen. „Wir sollten sie nur stehlen!“ „Für wen?“, fragte nun die Miko und sah sie mit bohrendem Blick an. Das Mädchen zog eine Grimasse und sah demonstrativ in eine andere Richtung. „Geheim!“ Nun stand Tsuki auf und ging zu ihnen hinüber. Dann kniete sie sich vor sie und musterte sie. Als das Mädchen das bemerkte wandte sie sich, als könnte sie so dem Blick der Frau entkommen, ab. „Wer und woher seid ihr?“ fragte Tsuki sie dann langsam und mit leicht bedrohlicher Stimme. „Das geht dich auch nichts an, Geisterweib“, kreischte das Mädchen, dabei versuchte sie jedoch Tsuki nicht anzusehen. „Anstatt uns auszufragen, könntet ihr uns lieber losbinden! Sonst...“ Tsuki zog die Augenbrauen hoch. „Ja, sonst was?“ Die Angst nun ganz vergessen, funkelte das Mädchen sie wütend an, bis der Mann sie (so gut er gefesselt dazu fähig war) mit dem Ellenbogen stieß. Schon drehte sie den Kopf, um ihn ebenfalls anzuschnauzen, doch er kam ihr zuvor: „Yuki, beruhige dich!“, sagte er beschwichtigend. „Wir haben verloren, wenn du so weiter machst, bringst du uns noch um unseren Kopf.“ Wieder wollte sie etwas erwidern, hielt aber inne, als er sich Tsuki zuwandte. „Mein Name ist Mekura Fukuro und Yuki ist meine Schwester“, sagte er dann ruhig. „Schwester?“, fragte Tsuki nun nach, da die beiden nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander hatten. „Halbschwester“, meinte der Mann, Fukuro, daraufhin. „Wir kommen beide aus dem Dorf Kakureba von der Insel Namishui. Sie gehört zum östlichen Reich Shimakuni“, erzählte er weiter. „Auf der ganzen Insel leben nur Nin...“ Er brach ab. „Angehörige unseres Clans“, verbesserte er sich. „Das heißt... lebten.“ Nun senkte er den Blick. Tsuki sah auf. „Lebten?“, fragte sie und sah ihn an, doch er wich ihrem Blick aus. „Wer hat euch den Auftrag gegeben Namida zu stehlen?“, wiederholte Tsuki nun die Frage der Miko, erhielt aber keine Antwort. Da legte die Alte die Hand auf ihre Schulter. „Lass sie“, meinte die Miko mit sanfter Stimme. „Es ist sehr spät. Wir sollten uns zur Ruhe legen. Die beiden bleiben hier, sie werden nichts anrichten können, solange sie gefesselt sind.“ „Wollen Sie uns etwa...“ begann das Mädchen – Yuki – wieder, wurde aber erneut von ihrem Bruder zum Schweigen gebracht. Tsuki nickte, stand auf und verließ das Haus, um sich draußen die Schuhe auszuziehen und auf das Dach des Priesterhauses zu springen. Seufzend sah die alte Miko ihr hinterher. Die junge Frau würde draußen schlafen, wie sie es so oft tat. Es war ein komisches Mädchen, welches drei Jahre zuvor in ihr Dorf gekommen war. Aber was wusste eine einfache Miko schon über Wesen, wie Tsuki es war? Diese lag mittlerweile rücklings auf dem Dach des Hauses – die Arme hinter dem Kopf verschränkt – und sah zum sternenklaren Himmel hinauf. Es war eine helle Nacht, denn der Mond war fast voll. Nächste Nacht würde Vollmond sein. Ihre Göttin schien Recht gehabt zu haben. Es schien etwas auf sie zuzukommen... Eine Bedrohung. Schon seit einigen Tagen, vielleicht sogar Wochen spürte sie eine immer stärker werdende Macht im Norden. Doch die Macht war nicht jeden Tag gleich stark. Zwar schien sie eigentlich stärker zu werden, doch gab es auch Tage, an denen sie abnahm. Was wohl passieren würde? Ihre Göttin hatte ihr prophezeit, dass sie, Tsuki, Hayashimura schon bald verlassen würde. Da riss einer der Geisterflammenbälle sie aus ihren Gedanken, als dieser über ihrem Gesicht schwebte. „Kitsune-han!“, tönte Tohons Stimme daraus hervor. „Tohon...“, seufzte Tsuki. „Was ist denn?“ Wieder poffte es, als der Geisterjunge seine Kindergestalt annahm und sich neben sie auf das Dach legte. „Kitsune-han“, begann er noch einmal. „Was wird jetzt aus unserem Heiligtum? Was passiert mit Namida?“ „Was sollte denn damit passieren?“, fragte die junge Frau und drehte den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen. Er war ein Geist, ein Zashiki-Warashi – Geister, die die Häuser schützten, doch in dieser Gestalt sah er nicht anders aus, als ein normaler kleiner Junge von fünf oder sechs Jahren. „Der Tempel zu ihrem Schutz ist verbrannt“, meinte Tohon. „Die Siegel sollten es gegen Oni, böse Yokai und Yurei schützen. Aber gegen Menschen waren sie machtlos. Und sie sollten ihre Aura, die Aura Namidas abschirmen.“ „Ich weiß, was du meinst“, erwiderte sie und sah wieder zum Himmel. „Es ist so, als würde man alles, was magiefühlig ist, hierher rufen.“ Tohon nickte und gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Außerdem sind mir die beiden nicht geheuer...“, meinte er dann leise. „Aber sie sind nur Menschen“, meinte Tsuki kichernd. „Sie werden nichts mehr tun, vertrau mir.“ „Sie wollten Namida stehlen!“, empörte sich Tohon und setzte sich auf, um sie anzusehen. „Außerdem beherrscht der Mann Magie, dass hast du selbst gesagt, Kitsune-han.“ „Ja, das tut er“, murmelte sie. „Sei leise, Kannushi und Miko-sama schlafen.“ Sie schloss für einen Moment die Augen, nur um im nächsten wieder zum Himmel zu sehen. „Aber sie wollten Namida nicht für sich stehlen. Sie hatten nur einen Auftrag, nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn etwas komisch ist...“ Tohon sah sie mit einer Mischung aus Furcht und Neugier an. „Was denn, Kitsune-han?“ Eine Weile schwieg Tsuki noch, ehe sie antwortete: „Nun... Ninja, wie sie es sind... Normal haben sie, wenn sie einen Auftrag ausführen...“ Sie atmete tief ein. „Eine Giftkapsel zwischen den Zähnen, die sie schlucken, sollten sie gefangen werden. Damit niemand irgendwelche Geheimnisse von ihnen erfahren kann.“ „Sie bringen sich selber um?“ fragte Tohon und sah sie entsetzt an. „Ja, um ihren Clan zu schützen“, antwortete Tsuki und kraulte ihn am Kopf. „Menschen sind dumm...“, murmelte der Hausgeist und legte sich wieder neben die Frau, um sich an sie zu kuscheln. „So einfach ihr Leben zu verspielen, wenn sie sterben können...“ Daraufhin legte sie den Arm um ihn. „Ja, das sind sie manchmal...“, murmelte sie. Danach schwiegen sie. Als sich Tsuki am nächsten Tag wieder im Hause des Priesters sehen ließ, war es bereits Mittag. Nicht, dass sie so lange geschlafen hätte – gewiss nicht – aber sie war bereits am Schrein im Wald gewesen, um ihrer Göttin von den Geschehnissen der letzten Nacht zu berichten und um eine Zeit lang nicht von Menschen umgeben zu sein und nachdenken zu können. Nun schien die Sonne prall auf Hayashimura hinunter, während der Duft von gekochtem Reis zwischen den Häusern schwebte, wie ein unsichtbarer Nebel. Als sie nun die Veranda des im Pagodenstil gebauten Hauses betrat und ihre Sandalen anzog, war Yuki die erste, die aufsah, allerdings nicht besonders erfreut. Sie und ihr Halbbruder saßen in derselben Ecke wie am Vorabend und waren noch immer gefesselt. „Miko-sama“, sprach Tsuki nun die Alte an, weil der alte Priester wohl nicht im Haus zu sein schien. „Ich bin wieder da.“ „Ah, Tsuki-chan“, begrüßte sie die alte Frau und drehte sich zu ihr um. „Du hast dich seit gestern Abend nicht blicken lassen“, stellte sie dann fest. „Ja“, bestätigte Tsuki nur ohne einen weiteren Kommentar. Die Miko seufzte. „Du warst sicher im Wald.“ Dabei brauchte sie keine Antwort von der jungen Frau, um das zu wissen. „Nun, der Reis ist noch warm, nimm dir, wenn du willst.“ Sie gab ihr Schüssel und Stäbchen. Zum Dank nickte die junge Frau, ehe sie begann sich Reis aus dem großen Topf in ihr Schälchen zu füllen. „Itadakimasu!“, rief sie mit zusammengepressten Händen und begann dann zu essen. Doch es dauerte nicht lange, bis sie zu den beiden Ninja hinüberblickte, denn Yuki sah mit sehnsüchtigem Blick auf den großen Topf, in dem der Reis war, während Fukuro versuchte seinen Blick genau von diesem abzuwenden, was ihm fast gelang. „Miko-sama, sagt mal“, begann Tsuki und sah zur Alten hinüber. „Habt ihr den beiden heute etwas zu essen gegeben?“ Zur Antwort schüttelte die Alte den Kopf. „Nein. Wir wollten sie nicht losbinden und füttern lassen wollten sie sich nicht“, sagte sie dann. Tsuki seufzte. „Binde sie los“, forderte sie dann die Alte auf. „Oder willst du sie verhungern lassen?“ Daraufhin lagen drei Augenpaare auf Tsuki. Alle drei waren verwundert. „Glaubst du wirklich, dass das so eine gute Idee ist?“, fragte die Miko schließlich. „Was, wenn sie erneut versuchen Namida zu stehlen. Die Träne ist jetzt ohne Schutz.“ „Die beiden haben Hunger und ich denke, dass ich ganz gut auf sie aufpassen kann. Wenn sie erneut versuchen Namida zu stehlen, werde ich sie wieder davon abhalten“, meinte die junge Frau leichthin und wartete. Als die Miko zögerte, stellte sie ihre Schüssel hin, legte die Stäbchen auf den Rand des Schälchens und ging selbst zu den Geschwistern hinüber um sie loszubinden. Als die Schnüre lose am Boden lagen, sah der Mann sie fassungslos an. „Warum...“, begann er, doch Tsuki wandte sich ab um zu ihrem Schälchen Reis zurück zu kehren. „Ihr solltet etwas essen“, meinte sie, da die beiden sich nicht rührten, und zeigte auf zwei weitere Schälchen, welche die Miko hingestellt hatte. Noch immer zögerlich knieten sich Fukuro und Yuki hin und füllten sich Reis in die Schalen, bemüht, dabei nicht allzu hastig zu wirken. Auch essen taten sie betont ruhig, obwohl ihnen augenscheinlich die Mägen knurrten. Derweil hatte Tsuki bereits ihre Schale geleert und machte keine Anstalten sich noch etwas aufzufüllen. Stattdessen blieb sie den beiden Geschwistern gegenüber knien und sah ihnen zu. Yuki verlor schließlich als Erste die Beherrschung und begann den Reis in sich hinein zu schlingen, während Fukuro noch immer betont langsam die Stäbchen zum Mund führte, was Tsuki lächeln ließ. „Hast du keinen Hunger?“, fragte sie ihn grinsend. Er senkte den Blick, um dem ihren auszuweichen und schluckte merklich, bevor er das Schlingen seiner Schwester nachtat. Beide füllten sich so lange nach, bis der ganze Topf geleert war, was von der Miko missmutig aufgenommen wurde, da die Reisfelder Hayashimuras klein waren, verglichen mit denen anderer Dörfer, und sie sich so entweder von Früchten und Essbarem aus dem Wald ernähren mussten, wenn der Reis einmal aufgebraucht war, oder einer aus dem Dorf musste sich aufmachen und in einer der Städte jenseits des Waldes neuen Reis einkaufen. Als auch die Geschwister ihre Schalen auf den Boden gestellt hatten, begann der Mann Tsuki zu mustern. „Ich wüsste zu gern, was Ihr seid“, sagte er schließlich. „Tja“, machte Tsuki mit geschlossenen Augen. „So schnell wirst du es aber nicht erfahren“, meinte sie dann. „Aber was meinen Namen angeht, kannst du mich Tsuki oder Kitsune nennen, ganz wie es dir beliebt. Das gilt auch für deine Schwester. Nur bitte sprecht mich nicht mit ‚Sie’ an.“ Damit öffnete sie die Augen und lächelte die beiden an. Daraufhin herrschte eine ganze Weile gedrücktes Schweigen im Raum. Yuki war die Frau unheimlich, nachdem sie gesehen hatte, wozu sie fähig war. Sie fürchtete sich vor Geistern und somit auch vor dieser komischen Frau, die selbst etwas Ähnliches wie ein Geist zu sein schien. Fukuro hingegen interessierte viel mehr Tsukis wahres Wesen, denn ihm war bewusst, dass sie weit mehr als ein Mensch war. Er war mehr Magier als Ninja, so dass ihn alles, was nicht menschlich war, interessierte. Noch etwas, was ihn von seiner Halbschwester unterschied. Sie hatten tatsächlich nicht viel gemeinsam. Ihm war es ein totales Rätsel, wie sie vor allen möglichen Geisterwesen Angst haben konnte, obwohl sie selbst nur zur Hälfte ein Mensch war. „Tsuki-san“, begann er schließlich, woraufhin diese ihn wieder direkt in die Augen sah. „Was ist?“, erwiderte sie. Er zögerte als er ihre Augen sah. „Ich... Wir...“, stotterte er und schluckte. „Unsere Sachen, also die Taschen mit dem, was wir mit uns führten, sie liegen noch im Wald.“ Er wich ihrem Blick aus. „Ich weiß, es erscheint rüde, nachdem wir das Dorf überfallen haben. Wir sollten Euch... Dir dankbar sein, dass du uns nicht getötet hast und so gut behandelst.“ Während er sprach beugte er sich soweit vor, dass seine Stirn den Boden berührte. „Aber ich würde dich trotzdem bitten, uns die Erlaubnis zu geben...“ Tsuki unterbrach ihn. „Deine Schwester bleibt hier und ich begleite dich“, meinte sie. „Ich weiß nicht was es ist, aber es scheint dir wichtig zu sein. Es geht nicht um eure anderen Sachen, sondern um etwas Bestimmtes.“ Da richtete er sich wieder auf und sah sie an. „Ihr... Du hast Recht“, meinte er dann und nickte. „Ich bin mit deinen Bedingungen einverstanden.“ Auch Tsuki nickte und stand auf. „Wir sollten gleich aufbrechen. Der Nachmittag ist bereits angebrochen und nachts kann der Wald trügerisch sein.“ Die Miko sah sie ebenso an, wie die Geschwister. „Bist du dir sicher, dass du das richtige tust?“, meinte sie, nachdem sie die ganze Zeit geschwiegen hatte. Tsuki nickte. „Glaub mir, ich weiß was ich tue, Miko-sama.“ Daraufhin schwieg die Alte und sah sie grübelnd an. „Pass auf das Mädchen auf“, forderte Tsuki sie dann auf, bevor sie sich an Fukuro wandte. „Lass uns gehen.“ „In Ordnung“, meinte er langsam. „Was ist eigentlich mit unseren Waffen?“, fragte er dann. „Die sind an einem sicheren Ort“, grinste Tsuki. „Und weder du, noch deine Schwester werden sie so schnell wieder sehen.“ Er seufzte, folgte ihr aber dann, als sie barfuss das Haus verließ. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie draußen keine Schuhe trug und ihre Füße trotzdem nicht rau wirkten. Schließlich hatten sie Hayashimura verlassen und betraten den Wald. Tsuki beschleunigte ihren Schritt, so dass es ihm schwer fiel, mit ihr mitzuhalten, obwohl er damit gerechnet hatte, schneller als sie zu sein, da er größer war und somit längere Beine hatte. „Warte, Tsuki-san“, keuchte er, woraufhin sie stehen blieb. „Sollte ich nicht besser vorangehen?“, fragte er. „Ich meine, ihr könnt nicht wissen, wo wir die Taschen versteckt haben.“ Er musterte sie. „Oder?“, setzte er dann unsicher hinzu. „Doch, ich weiß es“, meinte sie und kicherte. „Beziehungsweise, der Wald weiß es und er hat es mir verraten.“ Sie grinste wieder. Daraufhin schwieg er und folgte ihr so gut er konnte, da sie tatsächlich die richtige Richtung eingeschlagen hatte, auch wenn er sich das kaum erklären konnte. Sie musste ein Wesen des Waldes sein – nur was, fragte er sich immer und immer wieder. Sie konnte Geister rufen und mit dem Wald reden. Magie beherrschte sie auch. Also was konnte sie sein? Die Zeit verging viel zu schnell oder die Sonne hatte heute beschlossen eher als sonst unterzugehen, denn das Zwielicht des Waldes war noch undurchschaubarer und dunkler als am Tag, als sie dort ankamen, wo die beiden Geschwister am Tag zuvor die Taschen unter einem Laubhaufen versteckt hatten. Dabei hätte Fukuro schwören können, dass sie viel weniger Zeit gebraucht hatten, als sie von dort zum Dorf liefen, und da waren sie nicht gerannt. Trotzdem: Der Himmel über dem Blätterdach war in den roten Ton der untergehenden Sonne getaucht. „Was ist denn nun das wichtig, das du holen wolltest?“, fragte Tsuki, als sie das Laub beiseite schob. Fukuro antwortete nicht, sondern öffnete eine der aus dunklem Stoff genähten Taschen und wühlte darin, was die Frau geduldig abwartete. Schließlich zog er ein geknotetes Stoffbändchen aus der Tasche hervor. Es war aus weißem, blauen und schwarzen Faden gemacht und in der Mitte war ein Amulett mit einem eingearbeiteten Stein befestigt. „Ein Siegelamulett?“, fragte Tsuki. Er nickte bedächtig, sagte aber nichts. „Für wen?“, setzte Tsuki dann hinzu. „Ich meine, es gehört jemanden... Sein Zauber ist für eine bestimmte Person, für eine Yuki On...“ Sie brach ab. „Deine Schwester.“ „Ja“, seufzte er und sah sie hilflos an. „Sie ist die Tochter von unserem Vater und einer Yuki Onna. Wenn sie das Band länger nicht trägt, verliert sie jegliche Kontrolle über sich...“ „Warum hat sie es überhaupt abgelegt?“, fragte die junge Frau. „Das tut sie immer, wenn wir Aufträge ausführen“, meinte er. „Zwar hält das Amulett ihr Wesen unter Kontrolle, jedoch nimmt es ihr auch einen Teil ihrer körperlichen Kraft.“ Auch Tsuki seufzte, bevor eisernes Schweigen zwischen den beiden herrschte. Schließlich erhob die Frau doch wieder die Stimme, um erneut die selbe Frage wie am Abend zuvor zu stellen: „Wer hat euch den Auftrag geben Namida zu stehlen?“ Er sah sie an und zögerte. „Der... Der Namishui zerstört hat... Ein Oni namens...“ Doch den Satz konnte er nicht zu Ende führen, als plötzlich ein Wind aufkam und Tsuki zusammenfahren ließ. „Runter!“, rief sie und warf ihn zu Boden, als eine Art Schockwelle über sie hinweg fegte und den Baum vor dem sie standen einfach fällte, so dass sie erneut zur Seite springen mussten um diesem auszuweichen. Tsuki sah auf. Ein Mann, vom Äußeren her nicht älter als dreißig, mit roten Augen und Krallen an Stelle von Händen und Füßen stand auf dem Ast eines nahe gelegenen Baumes und sah auf sie herunter. Auf seiner Stirn war ein kleines Horn zu erkennen, welches ihn als einen Oni offenbarte. Er holte erneut mit dem linken Arm aus und sandte eine weitere Schockwelle in ihre Richtung aus. Doch dieses Mal reagierten beide rechtzeitig: Der Ninja machte ein Handzeichen zum Schutz, was ein Schild um sie herum entstehen ließ, während Tsukis Glöckchen zu läuten anfingen und das Schild verstärkten, so dass die Schockwelle daran abprallte, ihre Richtung änderte und direkt auf den Oni zuflog, der ihr mit einem Sprung in die Höhe auswich. Er trug eine dünne Rüstung, welche jedoch nur den Brustkorb schützte. Die Kleidung war anders als die, die Tsuki bisher gesehen hatte. Es war keine Kleidung, die normal auf Eikyû getragen wurde. Die Haare des Mannes waren schwarz und lang, während eine große Brandnarbe seine linke Gesichtshälfte zierte. „Wo ist deine dumme Schwester?“, rief der Mann nun mit Donnerstimme. Fukuro wandte nur den Blick ab und begann zu zittern. Das war der Oni, der ihre Insel vernichtet hatte und nur Yuki aufgrund ihres Blutes verschonte. Und Yuki war es, die ihn, Fukuro, gerettet hatte. Alle anderen waren Tod und er würde es auch bald sein. „Wo ist die Yuki Onna?“, wiederholte der Oni nun seine Frage. Tsukis Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Sie hatte schon verstanden, was es mit dem Oni auf sich hatte. Kurz überlegte sie, dann trat sie aus dem Schild heraus. „Sie ist nicht hier, wie du siehst!“, rief sie und ging auf den Dämon zu. „Was mischt du dich ein, Weib?“, erwiderte dieser verächtlich, bevor er sich wieder Fukuro zuwandte. „Und die heilige Namida hast du auch nicht bei dir“, meinte er dann. „Es war dumm, dich am Leben zu lassen.“ Eine neue Schockwelle kam auf sie zu, doch dieses Mal kam sie nicht einmal bis zum Schild, denn Tsuki streckte die Hand vor und lenkte nur mit einer Bewegung die Welle um, so dass die das Ende zwei weiterer Bäume bedeutete. „Misch dich nicht ein, Weib!“, kreischte der Oni nun empört, doch Tsuki blieb ruhig: „Du willst doch kämpfen, oder?“ Der Oni erwiderte nichts, musterte die Frau nur. „Und?“ „Kämpf mit mir!“, rief Tsuki und sprang in die Luft. Nun sah auch Fukuro auf und folgte dem Flug der Frau mit dem Blick. Keine der weiteren vom Dämon ausgesandten Wellen traf sie und langsam – bildete er sich das etwa nur ein? – fing ein silberner Schein an ihren Körper zu umgeben. Als würde dieser den Schein des blassen Mondes, der am noch immer rötlichen Himmel stand, reflektieren. Dann begann sich auf einmal ihr Haar ins silberne zu verfärben und ihr Körper wurde seltsam in die Länge gezogen. Der Schimmer nahm ihren Körper immer mehr in sich auf und schien ihn zu verändern. Während sich die Beine verkürzten, wurden die Arme länger und bekamen eine andere Form. Der Kopf wurde in die Länge gezogen. Zwei Tierohren waren in den Konturen zu erkennen. Auch der Bau des Rumpfes kam dem eines Tieres, vielleicht dem eines Wolfes oder eines großen Fuchses näher und schließlich bestätigten Neun buschige Schwänze, dass es der Körper eines Fuchses war, den Tsuki nun besaß. Als die Verwandlung abgeschlossen war, landete sie auf allen Vieren auf dem Boden. Es war ein schöner Fuchs, mit weichem silbernen Fell und golden strahlenden Augen, die neben den Glöckchen, die zwar größer, aber trotzdem noch vorhanden waren, das einzige waren, was noch an die junge Frau erinnerte. Nun wusste Fukuro endlich was sie war. „Kitsune...“, hauchte er, als ihm aufging wie blind er gewesen war. „Eine Fuchsfrau!“ *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Begriffserklärungen Kitsune: wörtlich Fuchs, hier Fuchsfrau, eine der in Japan bekanntesten Fabelfiguren. Es handelt sich hierbei um Füchse, die sich in schöne Frauen verwandeln und zum Teil Männer heiraten und mit ihnen Kinder bekommen. Der Mann darf jedoch (eigentlich) nicht heraus finden, was sie ist, sonst verschwindet sie. Yuki Onna: Schneefrau, ein Geisterwesen, was in der Gestalt einer schönen Frau auftaucht und Wanderer in die Schneestürme hinauslockt. Werden meistens als böse dargestellt. Yurei: Geister (teils bösartig, Yuki Onna werden zu ihnen gezählt) Yokai: Geister und Fabelwesen (auch Monster, zu ihnen werden aber auch Kitsune, Kappa u.ä. gezählt) Oni: Japanische Dämonen. Vor dem 15. Jh. weitestgehend als gut dargestellt, treten sie nach dieser Wende in Legenden meistens als böse auf. Sie sind durch ein Horn auf der Stirn gekennzeichnet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)