Vampires Will Never Hurt You von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Here's to the Winners -------------------------------- 6. Kapitel Here’s to the Winners „Du musst das behandeln lassen!“ Ich wühlte weiter in meiner Reisetasche auf der bisher erfolglosen Suche nach einem Verband. Jake saß auf seinem Bett und hielt seinen Arm so, dass das Blut nicht auf seine Jeans lief. „In meiner Jacke ist ein Loch!“, sagte er nur und klang dabei wie ein trotziges Kind. Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Zum Glück stand ich mit dem Rücken zu ihm, so dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Die besagte Jacke lag neben mir und ich warf einen kurzen Blick auf das ausgefranste Loch am Ärmel, um das sich ein dunkler Fleck gebildet hatte. Dann suchte ich weiter nach etwas, mit dem ich Jakes Wunde hätte verbinden können. Schließlich erfühlten meine Hände die kleine Verbandsrolle zwischen zwei meiner Shirts und ich zog sie triumphierend hervor. „Hier!“, sagte ich und drehte mich. Jake sah nicht einmal auf. Er war damit beschäftigt ein grauweißes Stück Stoff um seinen Arm zu wickeln. Ich starrte ihn ungläubig an. „Was tust du da?“, fragte ich. „Ich hab doch den Verband gefunden!“ Jake sah mich kurz an und zog beide Augenbrauen erstaunt in die Höhe. „Mit so einer Socke geht’s doch auch!“ Ich stöhnte. „Mit einer Socke?! Bist du denn total bescheuert?“ Ich setzte mich neben ihn auf das Bett und schlug ihm die blutverschmierte Socke aus der Hand. Ich nahm mir ein Taschentuch aus der Box, die aus dem Nachttisch stand und wischte das Blut von seinem Arm, wobei ich versuchte den Schnitt in seiner Haut nicht zu berühren. Der Schnitt war nicht besonders tief und ich atmete erleichtert auf. „Du hast Glück gehabt...“, sagte ich leise und griff zu dem Desinfektionsspray, das ich ebenfalls auf den Nachttisch gestellt hatte. Ich sprühte etwas davon auf die Wunde und Jake zuckte kurz zusammen. Ich warf ihm einen mitleidigen Blick zu. „Tut mir Leid!“ Normalerweise hätte ich wahrscheinlich irgendeinen Spruch gebracht, aber das wäre zu fies gewesen, wenn man bedachte, dass er nur verletzt war, weil er mich gerettet hatte. „Ist schon okay...“, murmelte er und ich begann vorsichtig damit seine Wunde zu verbinden, indem ich die dünne Stoffbahn rund um seinen Arm abrollte. Zum Schluss fixierte ich den Verband noch mit einem Streifen Klebeband. „So...“, sagte ich. „Vielleicht nicht der beste Verband, aber es reicht erst mal. Ich glau...“ Ich verstummte und hob den Kopf. Jake sah mich mit einem seltsamen Blick an und erinnerte mich in diesem Moment unglaublich stark an das Foto in Drakes Wohnzimmer. Ich bemerkte, dass meine Hand immer noch auf seinem Arm lag und zog sie schnell zurück. Ein wenig befangen räusperte ich mich und stand auf um Desinfektionsmittel und Taschentücher wegzupacken. Jake blieb sitzen, doch ich spürte seine Blicke in meinem Rücken. Ich drehte mich um. „Was ist?“, fragte ich etwas gereizter als ich eigentlich wollte. „Nichts“, antwortete Jake und grinste. „Ich dachte nur grade, dass du bestimmt Krankenschwester werden könntest, wenn du keine Vampire jagen würdest...“ Er lachte, aber ich konnte nichts Lustiges daran finden. „Vielleicht...“, sagte ich leise und steckte die Flasche mit dem Desinfektionsmittel in die Seite meiner Reisetasche. „Was ist mit dir? Du bist auch verletzt...“, stellte Jake fest und deutete auf die blutigen Kratzer, die mir die Hecke beschert hatte. Er war ungewöhnlich aufmerksam heute. Und mir ungewöhnlich schlecht. „Es ist nichts!“, zischte ich und versuchte so sarkastisch wie möglich zu klingen. Warum war ich nur so gereizt? „Ich mag es nur nicht, wenn Leute auf mich schießen!“ Jake sah mich einen Moment lang verdutzt an und begann dann schallend zu lachen. „Wie in London!“, rief er und ich verdrehte die Augen. „Ja, und da sag noch mal einer wir Amerikaner würden schnell zur Waffen greifen! Die Europäer sind viel schlimmer!“ Jake lächelte nur und ich setzte mich neben meine Tasche auf das Bett. Mein Blick fiel auf den Verband an seinem Arm und meine Miene verfinsterte sich. „Wir... haben ein Problem, oder?“ Meine Stimme klang auf eine seltsame Weise belegt und leise. Ich räusperte mich, doch es wurde nicht besser. „Ich bin mir nicht sicher. Wir haben es hier anscheinend mit einem Vampir der Klasse 4 oder sogar 5 zu tun, wenn er einen Sterblichen für sich arbeiten lässt. Und der Typ, der auf dich geschossen hat, war ganz sicher ein Mensch. Wahrscheinlich hat er als Gegenleistung für seine Dienste besondere Fähigkeiten erhalten...“ „Ein menschlicher Helfer würde auch erklären, wie er nach Caven’s Hill gekommen ist. Wenn ihn jemand in seinem Sarg oder in einer Kiste transportiert hat, dann konnte er ja auch fließendes Wasser überqueren!“ Ich dachte nach den Caven’s River, der die Stadt wie eine Schleife umschloss. Für einen Vampir war es unglaublich schwer alleine zu reisen. Jake nickte langsam. „Also müssen wir erst an seinem Helfer vorbei...“ „Der übermenschliche Fähigkeiten und eine Waffe besitzt! Na, großartig!“ Ich seufzte und ließ mich aufs Bett zurückfallen. Es folgte eine lange Pause. Ich sah weiter an die Zimmerdecke und versuchte die Bilder zu ignorieren, die vor meinem inneren Auge um Aufmerksam buhlten. „Wir sollten die Leute der Stadt warnen...“, sagte ich schließlich und setzte mich ruckartig auf. Dieses ganze Rumliegen machte mich aggressiv. Jake lachte humorlos auf. „Ja, sicher. Wir gehen einfach zu allen Leuten hin und sagen ihnen, dass sie die Stadt verlassen müssen, weil du glaubst, dass sich hier ein Vampir eingenistet hat...“ Klar, jetzt war es wieder nur ein Hirngespinst von mir. „Als ob uns irgendjemand glauben würde!“ „Aber du weißt, wem sie glauben würden!“, sagte ich und hoffte, dass der Zaunpfahl ihn erschlagen würde. Jake warf mir einen bitterbösen Blick zu. „Ich werde Drake nicht um Hilfe bitten! Ich habe dir das schon mal gesagt! Also lass es einfach gut sein, okay?“ „Aber...“ „CHESTNUT!“, schrie er und ich zuckte zusammen. „Ich will nichts davon hören! Die ganze Sachen geht dich nichts an! Warum weißt du nie, wann man einfach mal den Mund halten sollte, Mädchen?“ Er stand auf und stürmte aus dem Zimmer. Ich zog den Kopf ein, als die Tür zuschlug um nicht wieder zusammenzuzucken. Seufzend sah ich zu der Uhr, die über Jakes Bett hing. Es war viertel vor acht. Ich konnte mir denken, was mein Partner jetzt tun würde. Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er durch die Straßen ging, rauchte und schließlich eine Bar fand, in der er sich betrinken konnte, bis sein Ärger verraucht war. Und morgen früh würde ich ihn dann schlafend in seinem Bett vorfinden, als wäre nichts gewesen. „Scheiße!“, fauchte ich und schubste wütend meine Reisetasche vom Bett. Das Desinfektionsmittel rollte mit einem blechernen Geräusch unter Jakes Nachttisch, wo es liegen blieb und ich konnte bei diesem Anblick nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Das Geräusch der rollenden Dose in der Stille machte mir bewusst, wie allein ich mich fühlte. Das erste, was ich am nächsten Morgen spürte, war ein beißender Hunger, der sich in meiner Magengrube breitgemacht hatte und mir unmissverständlich vor Augen führte, dass ich seit fast 24 Stunden nichts gegessen hatte außer den zwei Crackern, die ich in meiner Tasche gefunden hatte, nachdem Jake verschwunden war. Stöhnen und murrend rappelte ich mich auf und trat die Bettdecke von meinen Beinen, die mindestens fünfhundert Kilo wiegen musste. Ich ließ ein paar nicht ganz jugendfreie Flüche von mir und schaffte es schließlich mich so auf mein Bett zu setzen, dass ich meine Beine weit von mir strecken konnte um möglichst schnell die Hitze zu vertreiben, unter der sie während der Nacht hatten leiden müssen – dank der Daunendecken eines gewissen Motels... Wie erwartet lag Jake in seinem Bett und schlief. Er hatte sich nicht umgezogen und stank fürchterlich nach Bier. Ich stöhnte erneut und stand auf um das Fenster wenigstens einen Spalt breit zu öffnen. Ich vertrat schon seit längerem die Auffassung, dass nicht mehr als ein Mensch in einem Zimmer schlafen sollte um lästige Hitze und Gestank zu vermeiden. Jake stimmte mir bei diesem Thema wohl aus finanziellen Gründen nicht zu. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und das Parkett unter meinen nackten Füßen fühlte sich so staubig und krümelig an, als hätte man hier seit drei Jahren nicht mehr gesaugt. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich mich betrunken und nicht mein herzallerliebster Partner. Das war doch wirklich ein Unding. Ich schlurfte ins Badezimmer und entledigte mich dort meines durchschwitzen, grauen Frank Sinatra-Shirts, das ich nachts trug und kickte es in die Ecke unter das Waschbecken. Der Here’s to the Winners-Aufdruck mit den Spielkarten im Hintergrund blickte mich vorwurfsvoll an und ich warf meinen Slip so, dass er direkt darauf landete. Wenn dieser Ort für Gewinner war, dann war ich ganz eindeutig falsch hier. Ich betrachtete mein müdes Gesicht im Spiegel und mein strähniges Haar, das mir bis auf die nackten Schultern fiel. Ich war dünn geworden. Einen Moment lang erinnerte mich mein eigenes Gesicht an Jakes. Ich strich mir mit einer Hand über die bleiche Haut meiner Wange und die dunklen Ringe unter meinen verquollenen Augen. Die Kratzer, die immer noch von meinem Sprung in die Hecke zeugten, leuchteten rot. Ich hatte eine Dusche bitter nötig. Immer noch vollkommen verschlafen betrat ich die Duschkammer und drehte das Wasser auf. Während ich auf warmes Wasser wartete dachte ich an den Entschluss, den ich gefasst hatte, als Jake neben mir selig geschnarcht hatte. Ich würde zu Drake gehen und noch einmal mit ihm reden. Es war mir egal, was Jake darüber dachte. Es war das Richtige... Der Wind war noch kälter als am Tag zuvor und die Papiertüte mit den beiden Brötchen, die mir unterwegs gekauft hatte, knisterte leise in meiner Hand. Ich hatte eigentlich nicht allein zu der Tankstelle zurückgehen wollen, aber der Hunger hatte mich schließlich dazu getrieben, für meine Brötchen doch den unheimlichen Tankwart zu bezahlen. Auf dem Weg zu Drakes Haus hatte ich nur zwei Personen getroffen. Eine Frau, die zwei große Einkaufstüten schleppte, hatte mich geflissentlich ignoriert, während der alte Mann auf der Parkbank mich gar nicht gesehen haben zu schien. Ich stand einen Moment lang unschlüssig auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Drakes Haus und betrachtete die weiße Fassade und den ordentlichen Garten. Seufzend ließ ich mich auf der niedrigen Mauer nieder, die vor dem Haus gezogen war und den Vorgarten eingrenzte. Ohne wirklich nachzudenken griff ich in die Tüte und zog eines der kleinen Brötchen hinaus. Kauend blieb ich auf der Mauer sitzen, obwohl die Kälte des feuchten Steins sich langsam durch den Stoff meiner Jeans fraß. Ich sah auf meine Füße und bemerkte ein kleines Loch vorne an meinem rechten Stiefel. Wahrscheinlich hatte ich es mir bei der Flucht gestern zugezogen. Seufzend stopfte ich das halbe Brötchen zurück in die Tüte. Ein kaputter Stiefel war verdammt ärgerlich, wenn man insgesamt nur zwei Paar Schuhe besaß. Ich befühlte mein kaltes Hinterteil und unternahm dann einen kläglichen Versuch die Tüte, mit den angebissenen Brötchen in meine linke Manteltasche zu stopfen. Die Folge war, dass es aussah, als hätte ich einen riesigen Tumor an meiner Hüfte. Frustriert riss ich die Tüte wieder heraus und ließ sie kurzerhand einfach auf der Mauer liegen. Mit schnellen Schritten überquerte ich die Straße und betrat Drakes Vorgarten. Ich warf noch einen letzten unsicheren Blick über die Schulter zurück, als fürchtete ich, dass Jake jeden Moment neben mir auftauchen könnte. Dann ging ich die wenigen Stufen zu der Haustür hinauf und klingelte. Einen Moment lang geschah nichts, doch wie gestern ging plötzlich das Licht hinter der Glasscheibe an und ich erkannte einen Schatten, der sich näherte und mit Schwung die Tür öffnete. Drake sah furchtbar müde aus. Sein hübsches Gesicht wurde von dunklen Augenringen verunstaltet und sein Haar stand wild in alle Richtungen ab. Er war blasser als gestern und um die blauen Iriden seiner Augen schlängelten sich kleine rote Adern. „Hi...“, sagte ich unsicher und bei dem Anblick dieses Mannes, der unverkennbar kaum geschlafen hatte, wünschte ich mir, nicht hergekommen zu sein. Drake sah mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger an und wie bei unserem ersten Besuch dachte ich, er würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch stattdessen blieb er einfach in der Türöffnung stehen – nicht sicher, ob er mich hineinlassen sollte, aber zu höflich um die Tür einfach zu schließen. „Was willst du?“, fragte er. Seine Stimme klang gefasst, doch die Hand, die er auf das weißlackierte Holz des Türrahmens gelegt hatte, zitterte leicht. „Kann ich reinkommen?“ Ich versuchte meine Stimme geduldig und freundlich zu halten, obwohl ich schon wusste, dass er mich einlassen würde. Mein Gegenüber schien sich da noch nicht ganz sicher zu sein. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar – eine Eigenschaft, die er mit seinem Bruder gemein hatte – und seufzte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch einmal hierher kommen würdest...“, sagte er leise und ging einen Schritt zurück, damit ich eintreten konnte. „Glaub mir, ich auch nicht...“ Drake schloss die Tür hinter mir und ich ging vor ihm her ins Wohnzimmer, das immer noch genauso aussah wie wir es verlassen hatten. Doch ich bemerkte, dass Foto der drei Brüder auf dem Kaminsims verrückt worden war und jetzt so stand, dass sich das bleiche Licht, das durch das Fenster schien, sich in ihm spiegelte. Ich vermutete, dass Drake sich das Bild in den letzten 24 Stunden vermehrt angesehen haben musste, doch ich sagte nichts und ließ mich schweigend auf dem Sofa nieder. Drake stand einen Moment lang unschlüssig vor mir und nagte an seiner spröden Unterlippe. „Ich... Ich habe mir grade Kaffee gemacht...“, sagte er und machte eine fahrige Bewegung mit der Hand. „Willst du eine Tasse?“ Ich nickte. Ich ahnte, dass er mich nur aufgrund seiner guten Manieren gefragt hatte, aber ich konnte einen Kaffee nicht ablehnen. Drake verschwand für einen Moment in der Küche und kehrte dann mit zwei Kaffeetassen in der Hand zurück, von der er mir eine gab. Anschließend ließ er sich auf den Sessel fallen, der dem Sofa gegenüber stand und sah mich aus seinen geröteten Augen an. „Warum bist du hier?“ Er redete wohl nicht gern um den heißen Brei herum. Ich nahm einen Schluck Kaffee und versuchte zu lächeln. „Ich weiß, Jake hat dich gestern beleidigt, aber ich muss dich trotzdem noch mal darum bitten, uns zu helfen...“ Ich atmete tief durch und begann ihm dann zu erzählen, was gestern geschehen war, nachdem wir sein Haus verlassen hatten. Drake hörte mir zu, doch ich konnte aus seinem Gesicht beim besten Willen nicht lesen, was er dachte. Ich endete mit der Erklärung, dass wir seine Hilfe bräuchten um die Stadtbewohner zu retten. Es folgte eine lange Pause, in der Drake mit nur ansah und immer wieder an seinem Kaffee nippte. Nervös drückte ich mir meine Tasse auf den Oberschenkel und fuhr mit den Finger am lackierten Rand entlang. „Hat Jake dich geschickt?“ Die Frage kam völlig unerwartet. Eigentlich hatte ich nicht wirklich überlegt, was Drake antworten könnte. In meiner Fantasie hatte er mich immer sofort aus dem Haus geschmissen. „Ähm, nein...“, sagte ich und wusste, dass es, obwohl es die Wahrheit war, nicht wirklich überzeugend klang. „Warum bist du dann hier?“ Drakes Stimme klang ruhig und auf eine seltsame, äußerst unpassende Art gelassen. „Das habe ich dir doch schon erklärt!“, brauste ich auf. Ich wusste nicht was diese ganzen Fragen sollten. „Ich braue deine Hilfe!“ Drake schüttelte den Kopf. „Nein, warum bist du wirklich hier?“ Ich sah ihn einen Moment lang verwirrt an. Dann seufzte ich und wischte mir mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht...“, sagte ich leise und fühlte mich, als hätte ich die Frage eines sehr strengen Lehrers nicht beantworten können. Drake lächelte breit und stand auf. „Du weißt, dass nicht einmal ich die Leute von Caven’s Hill dazu bringen könnte, ihre Stadt zu verlassen!“ Er stellte seine Tasse auf den kleinen Tisch, der zwischen Sessel und Sofa stand, und ging einige Schritte durch den Raum bis er den Kamin erreichte. Vorsichtig nahm er das Foto von sich und seinen Brüder in die Hand und betrachtete es. „Warum bist du bei Jake, Chestnut?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Er hat mir angeboten, mit ihm zu gehen, weil ich in die Zukunft sehen kann. Zumindest in die nächsten fünf Minuten Zukunft...“ Drake warf mir einen interessierten Blick zu und stellte das Foto zurück auf den Sims. „Wirklich? Wie funktioniert das?“ Ich hatte erst ein einziges Mal eine Reaktion wie diese auf die Offenbarung meiner Fähigkeiten gehört. Und wieder war es ein Dawson, der ein gewisses Interesse zeigte. „Du scheinst nicht wirklich überrascht zu sein.“, stellte ich fest und Drake lachte auf. „Weißt du, ich habe meine Kindheit mit Jake Dawson verbracht. Ich denke nicht, dass mich noch irgendetwas auf dieser Welt überraschen kann...“ Ich verstand nicht wirklich, wovon er sprach, doch ich wollte ihn nicht danach fragen. Er setzte sich seufzend zurück in den Sessel. „Also? Wie funktioniert Hellsehen?“ Er lächelte mich an und ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Ich stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es ist eher immer ein ständiger Fluss von vorbeirauschenden Bildern in meinem Kopf. Und wenn ich konzentriere, dann sehe ich was geschehen wird. Allerdings eher wie bei einer Erinnerung. Als hätte ich das schon vor wenigen Minuten erlebt...“ Drake zog eine Augenbraue in die Höhe. „Und wie nützt es Jake?“ Ich lachte, doch es wusste, dass das Lächeln meine Augen nicht erreichte. „Sagen wir mal so...“, sagte ich. „Jake hat noch nie einen Zweikampf verloren, wenn ich dabei war. Ich weiß, was sein Gegner tun wird, bevor er es selbst weiß...“ Wieder einmal wurde mir bewusst, wie stolz ich auf meine Gabe war. Drake nickte und lehnte sich langsam in die Kissen des Sessels zurück. Er sah immer noch furchtbar müde aus, doch schon etwas besser als vor einer halben Stunde. Seine geröteten Augen schweiften immer wieder von mir ab und blieben an dem Foto auf dem Kaminsims hängen. „Du willst eigentlich nur wissen, was Jake getan hat, seit du ihn zum letzten Mal gesehen hast, oder?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Drake seufzte leicht und warf mir einen schwermütigen Blick zu. „Ja...“, sagte er langsam. „Aber du wirst mir nichts erzählen...“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke, das ist nicht meine Aufgabe...“ Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen uns aus. Die Uhr rechts neben dem Kamin tickte laut und irgendwo im Haus knackte es leise in den Wänden. „Willst du wirklich wissen, warum ich mit Jake arbeite?“ Ich wusste selbst nicht, warum ich Drake das fragte. Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus bevor ich sie aufhalten konnte. Vielleicht hatte ich auch nur damit angefangen um das Schweigen zu durchbrechen. Ich wusste es nicht. Drake sah mich so verwundert an wie ich mich fühlte. „Oh, ja... Okay...“ Ich atmete tief durch und grub die Fingernägel meiner geballten Fäuste in meine Handflächen, auf denen kleine, rote Sicheln zurückblieben. „Er hat mich aufgenommen, nachdem es mir wirklich dreckig ging. Meine Eltern waren tot und ich wusste nicht wohin ich sollte. Da hat er mich gefunden und mir ein Angebot gemacht...“ Ich brauchte einen Moment um das auszusprechen. Ich hatte vorher noch nie jemanden davon erzählt. Noch nicht einmal mit Jake sprach ich über unsere eigenen Abmachung. „Ich sollte ihm helfen, Vampire und anderen Abschaum zu jagen und im Gegenzug würde er mir zeigen, wie ich mich verteidigen könnte. Und er würde mir helfen, Hazel zu finden...“ Ich lächelte bitter. Drake legte die Stirn in Falten. „Wer ist Hazel?“ Ich vermied es, Drake in die Augen sehen zu müssen und hielt meinen Blick daher so gut es ging gesenkt. „Hazel... Hazel ist meine große Schwester... Ich weiß nicht wo sie ist oder was sie tut. Ich weiß nur, dass sie nicht wie meine Eltern tot ist. Ich weiß es, weil ich gesehen habe, wie sie mit dem Auto verunglückt sind...“ Ich tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe und grinste schief. „Ich war zehn und habe vorrausgesehen, wie meine Eltern sterben. Danach wurde ich verrückt. Ich lief weg und habe alles hinter mir gelassen. Auch wenn ich mir heute sicher bin, dass Hazel nicht in diesem Auto saß...“ Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und brach meine Erzählung ab. Ich wollte nicht vor einem Dawson weinen. Egal ob vor Jake oder irgendeinem seiner Brüder. Drake sah mich an und ich erkannte eine Betroffenheit in seinem Blick, die ich kaum ertragen konnte. Warum erzählte ich ihm das alles? Warum vertraute ich ihm das Wissen über meine Gabe und meine Ängste an? Nur weil er aussah wie Jake? Weil er mich so verdammt an ihn erinnerte? Nur weil ich mit Jake niemals über so etwas hätte reden können? Die Erkenntnis traf mich ein Schlag. Drake war nicht Jake... Mit einer plötzlichen Bewegung sprang ich auf und schmiss dabei die Kaffeetasse um, die vor mir auf dem Tisch gestanden hatte. „Es...Es tut mir Leid...“, sagte ich und griff nach meinem Mantel. „Du kannst uns nicht helfen. Und ich weiß auch gar nicht, was ich hier wollte. Ich gehe besser...“ Drake stand auf und einen Moment lang dachte ich, er würde mich aufhalten. Doch stattdessen stand er einfach nur da und sah mir hinterher als ich den Raum verließ, durch den Flur hastete und die Haustür aufriss. Ich sprang die Treppe hinunter und rannte genau in Jakes Arme. Erschrocken wich ich zurück und riss die Hände wie zur Abwehr hoch. In Wahrheit versuchte ich mit ihnen die Tränen zu verbergen, die es doch geschafft hatten, sich durchzusetzen. „Chestnut, was zur Hölle...“ Jake packte mich an den Handgelenken. „Was ist passiert?“ In diesem Moment fiel sein Blick auf die offene Haustür, auf dessen Schwelle jetzt Drake stand. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah kühl auf uns hinab. Ich fühlte, wie Jakes Körper sich anspannte und der Griff um meine Handgelenke wurde stärker. „Jake, bitte!“ Meine Stimme klang leise und heiser. Jake schien mich nicht zu hören. „Was hast du gemacht?!“, brüllte er und ich war mich nicht sicher, ob er mich oder seinen Bruder meinte. Drake antwortete auf jeden Fall, doch ich verstand nicht was er sagte. Was immer es auch war, es machte Jake rasend vor Wut. Er ließ mich ruckartig los und ich stolperte einige Schritte nach hinten. Mir war furchtbar übel und ich hätte mich am liebsten übergeben. Dieser ganze plötzliche Stimmungswandel ließ meinen Magen rotieren. „Jake!“, sagte ich flehend und zog ihn von hinten an seiner Jacke. Doch er griff mich nur wieder – dieses Mal am Oberarm – und riss mich in Richtung Straße. „Wir gehen!“, zischte er. Ich blickte zurück zu Drake, doch dieser hatte die Haustür geschlossen und war verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)