Vampires Will Never Hurt You von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Call Him Asshole --------------------------- 1. Kapitel Call him asshole Jake Dawson war schon immer ein mürrischer und unfreundlicher Mensch gewesen. Er hasste die Gesellschaft von vielen Menschen, er hasste Leute, die zu viel redeten und er hasste vor allem Leute, die meinten, sie müssten ihm bei seinen Problemen helfen. Doch seit wir in diese verdammte Stadt gekommen waren, schien sein Hass auf alles und jeden noch unmenschlichere Ausmaße angenommen zu haben. Wir saßen in einem kleinen Diner, nicht weit entfernt von der einzigen Tankstelle der Stadt, die klischeehaft von einem potenziellen Massenmörder betrieben wurde, dessen größte Laster sein schreckliches Stottern war. Wir hatten diese Tankstelle erst einmal betreten seit wir in Caven’s Hill waren, doch mir war der Typ jetzt schon unheimlich. Nicht, dass die Gesellschaft von Jake angenehmer gewesen wäre. „Willst du noch Kaffee?“, fragte ich und bemühte mich freundlich zu klingen. Aber Jakes Dauerschlechte Laune schien abzufärben. Er sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. „Ich hasse Kaffee...“, sagte er nur und stützte seinen Kopf wieder auf die Hände. Ich sah auf die beiden leeren Kaffeetassen, die vor ihm standen, aber zog es vor, auf eine sarkastische Antwort zu verzichten. Ein Streit am frühen Morgen sollte möglichst vermieden werden. Ich stand seufzend auf und schlenderte allein zur Theke. Der dicke, bärtige Besitzer des Ladens schien sich nicht wirklich dafür zu interessieren, ob ich Kaffee wollte oder nicht, denn er hatte die Beine hochgelegt und las in einer Zeitschrift, die im Kiosk sicher auf der oberen Regalzeile stehen musste. Ich räusperte mich kurz und klopfte mit meiner Tasse auf den Tresen. Der Mann sah desinteressiert auf und legte die Zeitschrift weg. „Kaffee?“, fragte er und ich hörte einen Dialekt heraus, den ich nicht zuordnen konnte. Ich nickte nur und schob die Tasse zu ihm rüber, die er rasch füllte. Ich bedankte mich und ging zurück zum Tisch, an dem sich Jake inzwischen eine Zigarette angezündet hatte. Ich setzte mich und stellte den Kaffee vorsichtig auf der Tischplatte ab. Ich wollte gerade etwas davon trinken, als ich doch noch einmal aufsah und Jake angrinste. „Kennst du ihn?“, fragte ich und er zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Wen?“, wollte er wissen und aschte in den Plastikaschenbecher, den er vor sich hingestellt hatte. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und lächelte scheinheilig. „Na, den Typen, der in zwei Minuten um die Ecke da vorne biegen und danach dieses Diner betreten wird!“ Jake zuckte mit den Schultern. „Wie sieht er denn aus?“, fragte er und zog an seiner Zigarette, als würde ihn die ganze Angelegenheit gar nichts angehen. Ich seufzte. Sein Desinteresse macht die Arbeit manchmal wirklich nicht einfach. Aber er war eben der beste in seinem Job. „Langes blondes Haar, ziemlich auffällige Augenringe und ein sehr hageres Gesicht...“, antwortete ich und stellte die Tasse wieder ab. Jake überlegte kurz. „Kling vielversprechend!“, sagte er endlich und legte die Zigarette im Aschenbecher ab. Ich stöhnte entnervt. „Sonst hätte ich doch wohl kaum was gesagt, oder?“, raunte ich ihn an und trank schmollend meinen Kaffee. „Es ist ja nicht so, als wäre ich vollkommen überflüssig in unserem Team, oder? Ich arbeite auch hart und schon ziemlich lange in dieser Branche! Langsam könntest du mir echt mal vertrauen!“ Jake warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Und du könntest langsam echt mal die Fresse halten, Chestnut! Es ist wirklich nicht einfach sich zu konzentrieren, wenn ich ständig dein Geblubber im Ohr habe!“, fuhr er mich an. Er sprach jetzt so laut, dass die einzig anderen Kunden des Diners – ein alter Mann mit Zeitung und ein junges Ehe- oder Affärenpaar – uns entsetzt ansahen. Mir war schon aufgefallen, dass man in dieser Stadt selten die Stimme hob. Ich warf einen Blick nach draußen und lächelte wieder. „Er ist da“, sagte ich leise und nickte in Richtung Eingangstür, die in diesem Moment von außen geöffnet wurde. Ein hagerer, großer Junge betrat das Diner mit schlurfenden Schritten. Sein fettiges langes Haar hing ihm in das eingefallene Gesicht und seine Augen hatten einen glasigen Ausdruck. Ich schätzte ihn nicht älter als 19, doch seine Haltung war die eines alten Mannes. Der hölzerne Fußboden knarrte unter seinen durchgelaufenen Schuhen und er steuerte zielstrebig auf den Tresen zu ohne die anderen Gäste zu beachten. Jake stand langsam auf; wie in Zeitlupe. Sein Gesichtsausdruck gefiel mir nicht, doch ich war mir sicher, dass er dem jungen Blonden noch weniger gefallen würde. Dieser war mittlerweile beim Tresen angekommen und sprach mit dem Besitzer. Sein Auftreten und seine Stimme ließen auf Drogen oder etwas Schlimmeres schließen, doch ich hatte das Gefühl, dass es noch etwas anderes gab, was diesen umgab. Er hatte sie so fest an der schwarzen Marmorplatte festgekrallt, dass die Fingerknöchel seiner linken Hand weiß herausstachen. Ich warf Jake einen bedeutungsschweren Blick zu und er nickte. Mit langen Schritten ging er auf den Jungen zu und packte ihn bestimmt an der Schulter. „Hey!“, sagte er und zwang ihn sich umzudrehen. Dem Jungen fiel die Tüte mit den Bagels aus der Hand, die er noch nicht einmal bezahlt hatte. Der Besitzer des Diner starrte Jacke wütend an, doch sagte nichts. Der Junge sah Jake aus leeren Augen an. Ich schluckte bei diesem Anblick. Jake ließ sich nichts anmerken. „Sind die Bagels gut?“, fragte er den Blonden und ließ seine Schulter los. Der Junge brauchte ein paar Sekunden bis das Gesagte bei ihm abgekommen war. „J-Ja, ich vermute schon...“, sagte er. Seine Stimme klang einer durchsoffenen Nacht mit viel Wodka und wenig Schlaf. Jake sah ihm lange in die Augen bevor er sich langsam bückte und die Tüte aufhob. Mit einem matten Lächeln gab er sie ihm und der Blonde nahm sie zögernd. Ich erwartete, dass Jake irgendetwas tat, doch er lächelte nur weiter. Eine unangenehme Stille hatte sich im ganzen Laden ausgebreitet. Keiner der anderen Gäste sprach mehr und auch ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Der Junge legte ein paar Scheine auf den Tresen und schickte sich an zu gehen. Endlich raffte Jake sich auf und erhob noch einmal seine Stimme. Der Junge hatte schon fast die Tür erreicht. „Kennst du jemanden namens Drake Dawson?“ Der Blonde drehte sich um und legte die Stirn in Falten. „Jaah...“, sagte er langgezogen und musterte Jake misstrauisch. „Bist du mit ihm verwandt, oder so?“ Jake antwortete nicht. Der Junge zuckte mit den Schultern. „Drake wohnt in der Cohen Road...“ Er dachte kurz nach. „Haus Nummer 3, glaube ich!“ Er packte seine Tüte fester, die leise knisterte. Ich fragte mich, worauf Jake mit dieser Frage eigentlich hinaus wollte. „Danke“, sagte Jake und der Junge verließ entgültig den Laden. Lächelnd kam mein Partner zurück an unseren Tisch. „Was sollte das?“, zischte ich ihm zu als er sich endlich wieder setzte. Jake drückte seine heruntergebrannte Zigarette aus und zündete sich eine neue an. „Er war keiner von ihnen...“, sagte er seelenruhig und rauchte. Ich konnte mich kaum noch beherrschen. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fuhr ich ihn an und hätte ihn am liebsten angeschrieen. Ich hasste seine überhebliche Art mehr als alles andere. Besonders an Tagen wie diesen. „Dieser Junge war nur besoffen und auf irgendwelchen Drogen, Chestnut. Wenn hier etwas vorgeht, dann hat er sicher nichts damit zu tun!“ Ich stöhnte und lehnte mich zurück. „Du glaubst mir also immer noch nicht, dass hier irgendetwas nicht stimmt! Ich glaub es nicht! Wie kannst du nur so ignorant sein? Merkst du denn nicht, was hier abgeht?“ Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, den er nicht erwiderte. Seufzend drehte ich mich zum Besitzer des Diners um, der seinen Tresen putzte. „Passen sie mit den Gläsern hinter sich auf, Mister!“, rief ich ihm zu und wandte mich dann wieder zu Jake um. „Beruhig dich mal wieder, Kleines...“, sagte er und kippelte etwas mit seinem Stuhl. „Es gibt keine Anzeichen, dass in dieser Stadt überhaupt etwas passiert. Du hast mich hier her geschleppt ohne mir Beweise zu liefern und jetzt sitze ich hier im hintersten Kaff dieser Welt nur wegen meiner verdammten Gutmütigkeit!“ Ich sah erstaunt auf. Ich hätte nicht erwartet, dass Jake wusste, wie man Gutmütigkeit buchstabierte, geschweige denn was es bedeutete. „Ich weiß, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, mein Lieber!“, sagte ich und nickte bekräftigend. „Und du weißt es auch. Du wolltest nur nicht nach Caven’s Hill, weil dein Bruder hier wohnt!“ Ich hatte ins Schwarze getroffen und Jake verzog das Gesicht. In diesem Moment klirrte es laut hinter mir und etwas ging geräuschvoll zu Bruch. Ich brauchte mich nicht einmal umzudrehen. „Ich habe ihnen doch gesagt, sie sollen aufpassen!“, rief ihr über meine Schulter hinweg dem fluchenden Diner-Besitzer zu, der mit seinem Hinterteil die Gläser von der Spüle gestoßen hatte. Jake warf mir einen entnervten Blick zu. „Es gibt keinen Grund, die arme Seele noch mehr zu verwirren, Chestnut. Glaubst du nicht, unsere Vorstellung von vorhin hätte gereicht um ihn zu verschrecken?“ Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Hey! Ich bin nicht der schlechtgelaunte Gruftie mit Nirvana-Shirt und Sieben Tage Regenwetter-Miene!“, zischte ich. „Wenn hier jemand seltsam rüberkommt, dann ist das sicher nicht das süße, unschuldige Mädchen in Jeansrock und Wollpullover...“ Jake zog eine Augenbraue in die Höhe. „Welches unschuldige Mädchen?“ Ich funkelte ihn an und stand langsam auf. „Wir gehen jetzt zu deinem Bruder!“, sagte ich bestimmt und nahm meine Jacke vom Haken neben der Tür. „Seit wann entscheidest du hier?“, fragte Jake aufrichtig verdutzt und aschte wieder. „Seit ich weiß, dass in genau drei Minuten hier ein dicker, kahlköpfiger Polizist auf der Matte stehen wird, Schaumeier!“ Ich versucht mich zurückzuhalten, doch konnte mir eine weitere Bemerkung nicht verkneifen. „Schon scheiße, wenn man auf sein Anhängsel angewiesen ist, weil man selber ja nichts kann, he?“ Jake drückte die Zigarette aus und stand ebenfalls auf. „Du musst es ja wissen, Chestnut...“ Ich hätte ihm den Plastikaschenbecher am liebsten in sein dämliches, überhebliches Gesicht geworfen. Stattdessen schnaubte ich nur und stieß die Tür des Diners auf. Kalte Luft kam mir entgegen, doch ich wollte keine Sekunde länger mit Jake in einem Raum bleiben. Warum war dieser Typ nur immer so verdammt kühl? „Wohin müssen wir?“, fuhr ich ihn an, als er hinter mir durch die Tür trat. „Du hast doch deinen kleine Junkie gefragt, oder?“ „Cohen Road 3“, sagte Jake ruhig und steckte seine Hände in die Taschen seiner Daunenjacke. „Und wo genau soll das sein? Hat er dir das vielleicht auch verraten, Mr. Oberschlau?“ Ich wollte mich nicht mit ihm streiten, aber ich konnte nicht aufhören ihn zu beleidigen. Ich hätte sogar auf ihn eingeschlagen, solange das auch nur die geringste Gefühlsregung in seinem versteinerten Gesicht gezeigt hätte. Ich wollt etwas Lebendiges von diesem Mann sehen. Doch meine Bemühungen waren umsonst. „Ich bin in dieser Gegend aufgewachsen, Chestnut“, erklärte er so ruhig, als hätte ich keine Ahnung von seinem Leben bevor wir uns getroffen hatten. „In dieser Stadt gibt es vielleicht fünfzehn Straßen. Sechs davon kennen wir schon. Bleiben also noch neun lächerliche Straßen, die wir kontrollieren müssen. Das ist weder viel noch schwer, so dass selbst du das schaffen müsstest...“ Ich warf ihm einen völlig entnervten Blick zu. „Ich hasse dich!“, seufzte ich und steckte meine Hände ebenfalls in die Taschen. „Ich weiß...“ Wir machten uns auf den Weg zur Cohen Road. Kapitel 2: Coffee on the marble top ----------------------------------- 2. Kapitel Coffee on the marble top Mein Plan hatte nie vorgesehen, dass ich irgendwann einmal mit einem absoluten Arsch von Partner durch ein kleines ausgestorbenes Kaff am Ende der Welt laufen würde, auf der Suche nach dem Bruder meines besagten Arschloch-Partners. Mein Plan hatte nie vorgesehen, dass ich dieses Leben führte, dass ich nirgends zuhause war oder nie sicher sein konnte, was als nächstes passieren würde. Ich hatte, wie jedes kleine naive Mädchen, geplant, nach meinem High School Abschluss eine Reise nach Europa zu machen, um danach in einer der besten Universitäten des Landes zu studieren. Danach einen guten Job und vielleicht heiraten. Das war mein Plan, doch es kam alles anders. Ich hatte nie meinen Abschluss an der High School gemacht und alles, was ich von Europa gesehen hatte, war ein verregnetes London, wo wir einen Verdächtigen jagen mussten und danach sofort wieder ins Flugzeug zurück in die Staaten gestiegen waren. Ich hatte noch nie in meinem Leben den Campus einer Uni betreten und würde es wahrscheinlich auch nie tun. Ich hatte das alles nie gewollt, doch als es soweit war, eine Entscheidung zu treffen, hatte ich keine andere Wahl. Und jetzt war das hier mein Leben. Ich war sechzehn Jahre alt, Vollwaise und Partnerin des berühmtesten und bescheuertsten Vampir- und Monsterjäger der Welt. Ich seufzte auf und warf Jake, der schweigend neben mir hertrottete, einen kurzen Blick zu. Seine Haut war bleich und wächsern unter seinen schwarzen Bartstoppeln. Er war dünn geworden in letzter Zeit. Aus unerklärlichen Gründen sah er noch kränklicher aus als sonst und ich fragte mich, ob dieser Besuch in seine alte Heimatstadt ihn wirklich so sehr mitnahm wie es den Anschein hatte. „Was für eine Straße ist das hier?“, fragte ich, nur um das unangenehme Schweigen zu brechen. „Downer’s Mill“, sagte er ohne mich auch nur anzusehen und zog seinen Kopf tiefer zwischen seine Schultern bis der Kragen seiner khakifarbenen Jacke sein Gesicht bis zur Nasenspitze verdeckte. Ich bemerkte, dass die Häuser in dieser Gegend allesamt gleich aussahen. Klein, schmutzigweiße Fassade, ungepflegte Veranda und verwahrloster Vorgarten, in dem oft noch ein rostiges Kinderfahrrad oder eine alte Schaukel standen. Nur selten sah man ein blasses Gesicht hinter den schmutzigen Fensterscheiben hervorblitzen. Niemand war auf den Straßen und langsam beschlich mich das Gefühl, dass Fremde hier nicht gerade willkommen waren. Ich reckte die Schultern und schritt stärker aus; von dem Gedanken besessen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Jake schien von der angespannten Stimmung in der Stadt nichts mitzubekommen oder er zeigte es nicht. „Sieht es in dieser Stadt überall so aus wie hier?“, wollte ich wissen und rückte unbewusst etwas näher zu meinem Partner. Jake warf mir einen Blick zu, als hätte ich eine unglaublich dumme Frage gestellt. „Nein“, sagte er und deutete in östliche Richtung. „Da hinten stehen ein paar größere Einfamilienhäuser und weiter nördlich auch einige Villen, die aber zum größten Teil nicht das ganze Jahr bewohnt sind. Na, was haben wir denn hier?“ Er blieb abrupt stehen und grinste. Ich folgte seinem Blick. Wir waren an der Einmündung eine weiteren Straße angekommen. Ich sah auf das Straßenschild, das vor lauter Schmutz und Schlieren kaum zu lesen war. „Cohen Road“, sagte ich. Jake nickte und zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten leicht und sein Blick blieb auf dem dritten Haus der Straße hängen, das sich vor allem durch den gemähten Rasen davor von den anderen Häusern abhob. Mit einem Seufzer wandte er sich zu mir um. „Hast du deine Baby Eagle dabei?“, fragte er und deutete auf meine Tasche. Ich nickte und zeigte ihm die Waffe. „Warum?“ Ich zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Ich gebe dir hiermit die Erlaubnis, meinen Bruder zu erschießen, wenn er anfängt zu nerven...“ Jake stöhnte und fuhr sich durchs Haar. „Ich hasse gemähten Rasen...“, murmelte er und ich warf ihm einen leicht amüsierten Blick zu. „Du hasst doch Gras und Gärten allgemein, Jakey-Boy!“ Ich lachte und mein Partner sah mich wütend an. Mit einem leichten Seufzer dachte ich daran, dass ich die nächsten paar Stunden mit zwei Männern dieser Sorte verbringen musste. Jake ging mit langen Schritten über den schmalen Weg, der zur Haustür führte und, wie ich erstaunt bemerkte, fein säuberlich von allem Unkraut befreit worden war. Ich hätte einem Dawson niemals zugetraut so penibel Gartenarbeit zu erledigen. Jake ging die wenigen Treppenstufen zur Veranda hinauf und schnippte die Zigarette in den Busch, der daneben gepflanzt war. Ich folgte meinem Partner. Die weißlackierten Stufen knarrten leise unter unseren Füßen und verschwommene Erinnerungen an mein Elternhaus flogen an meinem inneren Auge vorbei. Jake zögerte nur einen kurzen Augenblick bevor er die Haustürklingel betätigte, doch ich bemerkte es trotzdem. Es war nicht seine Art zu zögern und erneut kam mir der Gedanke in den Sinn, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Ich sah, dass hinter der Glasscheibe, die in die Tür eingesetzt war, das Licht anging und hörte Schritte, die schnell näher kamen. Schließlich wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Der Mann vor uns sah Jake so unglaublich ähnlich, dass es mir für einen kurzen Moment die Sprache verschlug. Er hatte dieselbe Figur, dieselbe Größe, dasselbe markante Kinn, dieselben strahlend blauen Augen. Und doch war er anders. Sein von natur aus schwarzes Haar war von helleren Strähnen in der verschiedensten Brauntönen durchzogen, sein Gesicht sah gesund und gebräunt aus und er trug einen engen Rollkragenpullover in dunklem Rot, den Jake niemals angefasst hätte. Ein Blick auf seine Hände verriet mir außerdem, dass bei diesem Mann die für seinen Bruder typische Narbe am Zeigefinger fehlte. Neben mir räusperte sich Jake vernehmlich und der Mann sah ihn endlich direkt an. Mit einem Keuchen riss er die Augen auf und ich wusste in diesem Moment, dass er ihn erkannt hatte. „Jake?“, fragte er fassungslos und seine narbenlose Hände suchten Halt an Tür und Rahmen als könnte er nicht alleine stehen. Jake nickte langsam und versuchte eines seiner Lächeln, die bei ihm immer so verdammt einstudiert aussahen. Ich verzog das Gesicht bei diesem Anblick. „Äh“, begann Jake und fuhr sich erneut nervös durchs Haar. Ich hatte ihn erst sehr selten so erlebt. „Hi Drake!“ Für einen Moment lang sah es so aus, als würde Drake uns die Tür einfach so wieder vor der Nase zuschlagen, doch schließlich seufzte er nur laut. Sein gebräuntes Gesicht hatte einen ungesunden Farbton angenommen, der mich an eine unreife Frucht erinnerte. „Was...“, begann er und seufzte erneut als würde ihm jedes Wort körperliche Schmerzen bereiten. „Kommt rein...“ Er ging einen Schritt zur Seite und gab die Tür frei. Die Entscheidung uns einzulassen schien ihm unglaublich schwer gefallen zu sein. Ich zögerte kurz, aber betrat schließlich das Haus. Jake folgte mir und Drake schloss die Haustür hinter sich. Trotz meiner Unsicherheit war ich neugierig darauf, wie das Haus eines Dawsons aussehen mochte. Da Jake keinen festen Wohnsitz hatte, war ich nie zu der Ehre gekommen eine Wohnung zu besichtigen, die er länger als drei Wochen bewohnt hatte. Drakes Wohnzimmer war erstaunlich hell und freundlich. Allerdings konnte ich nirgends Kitsch oder etwas wirklich ausgefallenes finden. Die Ausstattung und die Möbel waren vermutlich allesamt von IKEA und hatten diesen gewissen Yuppiestil, der mich an die Wohnungen aus amerikanischen Sitcoms erinnerte. Am auffälligsten waren allerdings die vielen Drucke von bekannten Gemälden, welche die weißgetünchten Wände schmückten. Kunst hätte ich nie bei jemandem erwartet, der auch nur annähernd mit Jake verwandt war. Ich warf meinem Partner einen vielsagenden Blick zu, doch er bemerkte ihn nicht einmal. Er sah sich mit einer gewissen Verachtung im Raum um, die ich oft bei ihm beobachtete hatte, wenn er über seine Familie sprach. Drake schien jetzt wirklich unsicher und ich war mir sicher, dass er sich überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, uns nicht ins Haus zu lassen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. „Wollt ihr etwas trinken?“, fragte er mit der Stimme eines erfahrenden Gastgebers. „Vielleicht einen Kaffee?“ „Kaffee wäre toll!“, sagte ich und lächelte so bezaubernd wie ich nur konnte. Jake schüttelte den Kopf. „Ich hasse Kaffee...“, murmelte er leise und verschränkte die Arme vor der Brust. Drake zog eine Augenbraue hoch und verließ den Raum. Als ich sicher war, dass er außer Reichweite war, warf ich Jake einen wütenden Blick zu. „Kannst du dich nicht mal ein bisschen zusammenreißen?“, zischte ich, doch Jake zuckte nur mit den Schultern. „Wir sind auf die Hilfe von deinem Bruder angewiesen! Ich weiß ja nicht, was zwischen vorgefallen ist, wenn überhaupt etwas war. Vielleicht hatte er auch nur dein ewiges Genörgel satt!“ Ich hätte ihm am liebsten eine geklebt, aber hielt mich zurück. Angeblich war Gewalt ja nicht die beste Lösung. „Ich bin doch hier!“, erhob Jake seine Stimme und sah mich drohend an. „Was willst du denn noch mehr? Ich habe mich von dir hier her schleppen lassen, obwohl ich diesen Ort hasse! Ich hasse alles hier und trotzdem bin ich hier, nur weil du irgendwas von seltsamen Vorgängen in Caven’s Hill gehört hast!“ Seine Stimme triefte vor Spott. Wütend wandte ich mich um und ging einige Schritte durch das IKEA-Wohnzimmer. Auf dem Kaminsims aus weißem Marmor standen zwei gerahmte Fotos und ich trat näher, in der Hoffnung mich so etwas von meiner Wut auf Jake abzulenken. Ich bemerkte, dass die Rahmen der beiden Fotos identisch waren; weiß mit schwarzen Zierschrauben an allen vier Ecken. Ein Bild zeigte einen jungen blonden Mann, der lächelnd eine makellose weiße Zahnreihe zeigte. Das Foto wirkte professionell, wie aus einem Fotostudio. Portrait plus Rahmen, $11,50. Ich musste schmunzeln und dachte an die verrückte Fotografin, die meine Passfotos geschossen hatte als ich noch ein Kind war. Auf dem zweiten Foto waren drei Jungen zu sehen und ich erkannte sofort, dass es sich um die jüngeren Ausgaben von Jake und seinen beiden Drillingsbrüdern Drake und Blake handeln musste. Sie hatten alle drei dunkles Haar und trugen dieselben T-Shirts. Das Foto sah aus wie ein ganz normaler Familien-Sommer-Schnappschuss, denn die drei Brüder sahen mehr überrascht als lächelnd in die Kamera. Sie saßen an einem Art Gartentisch und sie hatten die Augen zugekniffen als würde sie die Sonne blenden. Ich drehte mich um und wollte Jake nach dem Foto fragen, doch mein Partner stand immer noch mit verschränkten Armen vor einem der Fenster des Wohnzimmers und sah nach draußen. Sein Gesicht sah im fahlen Winterlicht wie versteinert aus und die Züge um seinen Mund waren hart und verbittert. Ich musste bei diesem Anblick schlucken. Es war kaum noch Ähnlichkeit zwischen diesem Mann und dem Jungen auf dem Foto. Sie schienen wie zwei verschiedene Personen. Drake kam zurück und trug in der Hand zwei Tassen Kaffee, die er krampfhaft fixierte um nichts zu verschütten. Er gab mir eine und lächelte unsicher. „Ist schwarz okay?“, fragte er und ich nickte. Lächelnd bedankte ich mich und wagte es mich auf einem der beiden Sofas niederzulassen. Drake setzte sich ebenfalls, doch Jake blieb stehen. Sein Bruder warf ihm einen fragenden Blick zu. „Warum genau seid ihr hier, Jake?“ Seine Stimme klang kräftig, doch ich hörte ein leichtes Zittern heraus. Er war direkt, schien keine Zeit verlieren zu wollen. „Ich kenne dich gut genug. Du hast dich seit Jahren weder bei mir noch bei Blake gemeldet. Also muss es schon einen guten Grund dafür geben, dass du plötzlich vor meiner Tür stehst...“ Jake rieb sich nachdenklich das Kinn und seufzte dann. Er warf mir einen kurzen Blick zu bevor er sprach. „Wahrscheinlich sollte ich mich jetzt dafür entschuldigen, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich bin nicht so der reumütige Typ, wie du weißt. Vielleicht war es sogar das beste keinen Kontakt zu euch zu halten. Ehrlich gesagt, ist es mir auch ziemlich egal gewesen.“ Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Doch vor zwei Wochen haben wir von verdächtigen Vorgängen hier in Caven’s Hill erfahren. Menschen verschwinden, Geschäfte schließen, Grundstücke verwahrlosen. Darum sind wir hier. Wir wollen herausfinden, was es damit auf sich hat. Und da du der einzige bist, den ich in dieser Stadt noch annähernd kenne, wollten wir dich fragen, ob dir etwas Auffälliges aufgefallen ist, das... in unseren Zuständigkeitsbereich fällt...“ Eine kurze Pause entstand und Drake stand langsam auf. „Du bist also hier um mich zu fragen ob mir etwas Seltsames aufgefallen ist? Unnatürlich große Schwärme von Fledermäusen oder Männer in Umhängen mit spitzen Zähnen? Monster mit sieben Köpfen oder Tote, die aus ihren Gräbern steigen? Darum bist du hier? Um mich so was zu fragen?!“ Drakes Stimme klang hoch und hysterisch. Seine Wangen waren leicht gerötet und ich stand instinktiv auf, als ob ich Angst hätte, er könnte sich auf Jake stürzen. Doch der stand vollkommen ruhig und immer noch mit verschränkten Armen da und sah ohne eine Miene zu verziehen in das wütende Gesicht seines Bruders. Ich konnte dennoch die Spannung zwischen den beiden spüren bis Jake den Augenkontakt abbrach und zu mir sah. „Würdest du uns kurz allein lassen, Chestnut?“ Ich war einen Moment vollkommen baff. Ich hatte alles erwartet, nur das nicht. Jake wollte mit seinem Bruder alleine sprechen? Und schickte mich aus dem Raum? Ich war wütend, doch meine Verblüffung siegte schließlich. Ohne ein weiteres Wort verließ ich das Wohnzimmer durch die Tür, die Drake benutzt hatte um den Kaffee zu holen und schloss die Tür hinter mir. Wie nicht anders zu erwarten fand ich mich in Drakes Küche wieder, die ebenso wie das Wohnzimmer in Weiß und wenigen hellen Tönen gehalten war. Wie auch der Kamin war die Arbeitsplatte aus hellem Marmor gefertigt und nicht zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass Jakes Bruder besser verdiente, als alle seine Nachbarn zusammen. Entweder das oder er hatte einen spendablen Bekannten, der ihn sehr mochte... Ich stellte meine halbleere Tasse auf dem Marmor ab und drehte mich seufzend um. Ich war immer noch verwirrt und normalerweise hätte ich mir sicher sein könne, dass Jake mir nachher erzählen würde, was er mit seinem Bruder besprochen hatte. Doch das hier waren keine normalen Umstände. Und das lag nicht nur an dem Ausdruck in Jakes Augen als er mich gebeten hatte zu gehen. Darum entschied ich mich dafür ausnahmsweise einmal zu lauschen... Kapitel 3: Gay Vampires cause slaps ----------------------------------- 3. Kapitel Gay Vampires cause slaps Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Jake und Drake, den ich erst bemerkte, als ich in dort in der Küche vor der Tür zum Wohnzimmer hockte, war ihre Stimme. Sie klangen ähnlich wenn sie sprachen, doch man hörte bei Jake den jahrelangen Raucher stark heraus, während Drakes Stimme wirkte, als hätte er noch nie eine Zigarette berührt. Wenn ich mich so in seinem Haus umsah, stimmte diese Vermutung wahrscheinlich sogar. Die Küchentür war dick, doch wenn ich mich konzentrierte, konnte ich verstehen worüber die beiden Brüder sich unterhielten. „Was willst du von mir?“, fragte Drake und er klang immer noch verärgert. „Ich will mit dir etwas besprechen.“ Jakes Stimme war ruhig und er sprach leiser als sein Bruder. Ich hatte Probleme ihn zu verstehen. „Darum habe ich Chestnut hinaus geschickt...“ Eine kurze Pause folgte bevor Drake wieder sprach. „Chestnut heißt sie? Ist sie nicht ein bisschen jung für dich? Die ist doch höchstens 17!“ Ich stellte mir vor wie Jake eine Augenbraue hochzog und seinen verächtlichen Blick aufsetzte. Ich verbrachte eindeutig zu viel Zeit mit diesem Mann. „Sie ist sechzehn. Und sie ist meine Partnerin, sonst nichts...“ Sehr nett. „Sie hat gewissen Fähigkeiten, die bei der Jagd nützlich sein können...“ Ich dachte daran, wie oft ich ihm schon den Arsch mit meinen gewissen Fähigkeiten gerettet hatte und knirschte mit den Zähnen. „Du lässt eine Minderjährige für dich arbeiten?“, fragte Drake und ich konnte die Verwunderung aus seiner Stimme hören. „Sie hat sonst niemanden, Drake“, sagte Jake leiser, als ob er wissen würde, dass ich lauschte. „Ihr Eltern sind gestorben, als sie elf war und ich habe sie von der Straße geholt...“ „Oh ja! Du bist ja auch sonst immer bekannt dafür, dass du bedürftigen Kindern in der Not hilfst und beistehst!“ Drake lachte dreckig. Irgendwie passte das nicht zu ihm. „Du weißt, dass hier etwas nicht stimmt...“, sagte Jake darauf nur und etwas in mir protestierte wegen des plötzlichen Themawechsels. „Du spürst es genauso wie ich und auch Chestnut!“ Ich musste tief durchatmen um nicht erstaunt aufzuschreien. Jake hielt diese Sache also doch für ernst! Warum hatte er mich angelogen und mir gesagt, dass ich zu viel in das Problem dieser Stadt hineininterpretieren würde? „Wie kommst du auf diesen ganzen Schwachsinn?“ Drakes Stimme klang wieder aggressiver. Ich bekam langsam wirklich das Gefühl, dass er mehr wusste oder zumindest ahnte als er zugab. Auch Jake schien nicht von seinem Bruder überzeugt. „Ach komm schon, Drake!“, rief er und ich hörte wie er auf und ab ging. „Es ist nicht nur die Tatsache, dass Menschen verschwunden sind und Häuser leer stehen! Es ist diese ganze Atmosphäre in dieser Stadt. Ich habe auf dem ganzen Weg zu deinem Haus nicht einen einzigen Menschen draußen auf der Straße gesehen! Die Leute verschanzen sich in ihren Häusern. Vielleicht wissen sie nicht wieso, aber sie haben Angst!“ „Aber was habe ich damit zu tun?!“, schrie Drake nun leicht panisch und verstärkte so nur meinen Verdacht. „Ihr habt ein gewaltiges Problem! Eine so starke Veränderung in der gesamten Aura einer Stadt habe ich noch nie erlebt! Das hier ist nicht nur ein kleines Problemchen, sondern etwas viel, viel Größeres!“ Jake machte eine kurze Pause. „Ich habe Chestnut nichts von meinen Vermutungen erzählt und die Sache heruntergespielt, weil ich mit dem Gedanken spiele sie zurück zu schicken. Das alles hier ist eine Nummer zu groß für sie...“ Ich hörte Drake leise lachen. „Du bist ja doch nicht so ein Arschloch, wie du es alle glauben machen willst. Du machst dir Sorgen um die Kleine!“ „Nein“, sagte Jake trocken. „Aber ich habe nicht vor, eine gute Vampirjägerin wegen irgendeinem Scheiß in einem verfuckten Scheißkaff wie Caven’s Hill sterben zu lassen!“ Fluchen war eines von Jakes größten Lastern; außer dem Rauchen und dem chronischen Arschlochsein. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da hörte! Hielt er mich etwa für schwach? Zu schwach um einen einfachen Job zu erledigen? Ich lehnte mich zurück gegen die Anrichte und zog die Knie bis unter mein Kinn. Alle Anzeichen in dieser Stadt sprachen für ein normales Vampirproblem. Besonders das Verschwinden von Menschen. Ich tippte hier auf eine stetige Verwandlung von Menschen in Ghule, was auf längere Zeit gesehen Caven’s Hill zwangsläufig zu einer Geisterstadt gemacht hätte. Zumindest tagsüber... Warum traute Jake mir nicht zu, das Problem zu beiseitigen? Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass wir mit einem Vampir in einer Kleinstadt kämpfen mussten. Was machte meinem Partner jetzt solche Angst? Oder ging es nur darum, dass Caven’s Hill seine Stadt war? Seufzend stand ich auf. Ich hatte für meinen Geschmack genug gehört. Ich strich mit der linken Hand langsam über das Foto des jungen Blonden und sah Drake fragend an. „Wer ist das?“, wollte ich wissen und hob das gerahmte Bild hoch. Ich war wieder zurück im Wohnzimmer, nachdem Jake mich aus der Küche geholt hatte. Ich hatte nichts zu ihm gesagt obwohl mir eine passende Bemerkung schon auf der Zunge gelegen hatte als er zur Tür herein gekommen war. Doch ich war mir nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt darauf ansprechen wollte. Drake lächelte als erkannte, welches Bild ich in den Händen hielt. „Das ist mein Freund Benjamin!“, sagte er und ein seliger Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Er arbeitet leider zur Zeit in Boston. Darum können wir uns nicht so oft sehen!“ Ich warf einen weiteren Blick auf das Foto und wurde rot. Drake war schwul? Das hatte ich nicht erwartet. Allerdings wohl eher, weil ich Drake irgendwie immer noch mit Jake gleichstellte. Und bei dem konnte ich mir nicht mal vorstellen, dass er überhaupt schon mal Liebe für jemanden entwickelt hatte – egal ob männlich oder weiblich. „Wie hast du dich jetzt entschieden, Drake?“, fragte Jake und durchbrach damit das entstandene Schweigen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte ungeduldig als würde ihm der Aufenthalt in diesem Haus von Minute zu Minute weniger behagen. „Was meinst du?“ Drake schien schon wieder vollkommen vergessen zu haben worum es bei unserem Besuch eigentlich wirklich ging. „Hilfst du uns jetzt oder nicht?“ Aus Jakes Stimme hörte ich die Ungeduld, die auch sein Körper ausstrahlte. Ich ignorierte die flüchtigen Bilder, die in Fetzen an meinem inneren Auge vorbeihuschten. Drake runzelte die Stirn und lachte nervös auf. „Was willst du das ich tue?“, fragte er und sah Jake direkt an. „Soll ich losziehen, bewaffnet mit Pfahl und Kruzifix, und anfangen Vampire zu jagen? Willst du das?“ Jake antwortete nicht und ich biss mir aufgeregt auf die Unterlippe. Ich hasste solche angespannten Situationen wie die Pest. „Ich glaube nicht, dass Jake das damit sagen wollte!“, sagte ich leise und versuchte ein versöhnliches Lächeln aufzulegen. „Aber die Leute in dieser Stadt kennen dich und vertrauen dir wahrscheinlich auch eher als mehr oder weniger Fremden wie uns. Du könntest dich für uns ein wenig umhören. Wir wollen dich auch gar nicht in die ganze Sache reinziehen, Drake!“ Ich warf Jake einen wütenden Blick zu und er nickte schnell. Drake schien trotzdem noch nicht sonderlich überzeugt. „Ich will mir hier keine Feinde machen, okay?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Leute in dieser Stadt mögen es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischt!“ „Willst du mich verarschen?“, fragte Jake unwirsch. „Die Leute werden spätestens dann deine Feinde sein, wenn sie alle zu willenlosen Sklaven eines Vampirs und ihrer eigenen Blutgier geworden sind! Du hast gar keine andere Wahl, Drake!“ Drake wurde tiefrot im Gesicht und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Ich habe keine andere Wahl?!“, brüllte er und ich wich ungewollt ein Stück zurück. „Du willst wohl mich verarschen! Ihr taucht hier einfach auf und labert irgendeine Scheiße von wegen Vampire und Monster und so ein Schwachsinn. Was erwartest du? Dass ich vor Freude in die Luft springe, weil die Hirngespinste meines Bruders meine Heimatstadt bedrohen?“ „Ich will, dass du nachdenkst!“ Jake ballte die Fäuste. „Oder willst du, dass dein kleiner Freund seinen nächsten Besuch nicht überlebt? Wenn er gebissen wird kann er dich ja auch gleich zum Ghul machen, Bruderherz. Schwule Vampire sind in Hollywood sehr gefragt!“ Ich wusste im selben Moment, dass Jake zu weit gegangen war. Drake sah aus, als würde er jeden Moment platzen. Ich machte mich auf den Knall gefasst. Doch plötzlich schüttelte Drake den Kopf und stand ruhig auf. Seine Hände zitterten, aber seine Stimme war klar und gefasst. „Bitte verlasst sofort mein Haus“, sagte er nur und deutete in Richtung Haustür. "Ich schätze, ihr findet allein nach draußen?" Es klatschte laut als ich Jake eine Ohrfeige verpasste. In seinem Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen und das machte mich noch wütender. Ich setzte zu einem zweiten Schlag an, aber er griff blitzschnell nach meinem Handgelenk und packte es so fest, dass ich aufkeuchte. „Einmal lass ich mich schlagen, wenn ich es verdient habe, aber wenn du das noch mal tust, breche ich dir alle Finger, Chestnut...“ Seine Stimme klang kalt, doch er ließ mich los. „Du bist ein verdammtes Arschloch, Dawson!“, sagte ich und rieb mir das Handgelenk. Wir standen wieder auf der Straße. Genauso dumm wie vorher, allerdings jetzt noch der einzigen Chance beraubt an Informationen heranzukommen. „Und du hast ein sehr beschränktes Repertoire an Schimpfwörtern...“ Jake steckte wieder seine Hände in die Taschen. „Wir sollten zurück zum Motel gehen. Diese ganze Sache...“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. Mit langen Schritten lief er die Straße entlang. Ich blieb verdutzt stehen. „Was ist mit dieser ganzen Sache?“, rief ich ihm hinterher. Dabei wusste ich schon, was er sagen würde. Langsam drehte er sich um und zuckte mit den Schultern. „Das ist deine dumme Idee gewesen. Es ist deine Schuld!“ Ich war sprachlos. Jake war ein wirklicher Arsch. „Meine Schuld?“ Meine Stimme klang zu hoch und kratzig um wirklich meine zu sein. „Du denkst es ist meine Schuld, dass mein Plan nicht funktioniert hat, weil du deinen Bruder als Schwuchtel beschimpfen musstest?!“ Es schien, als würde Jake wirklich kurz überlegen. Dann nickte er. „Ja, es ist deine Schuld. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nämlich überhaupt nicht mit ihm geredet. Und dann hätte ich ihn nicht um Hilfe bitten und ihn nach seiner Verweigerung nicht beschimpfen und verletzen müssen! Also ist es, so gesehen, allein deine Schuld, Chestnut!“ Mit immer schnelleren Schritten entfernte er sich von mir. Ich musste rennen, um ihn einzuholen. „Was ist eigentlich dein verdammtes Problem, Jake?!“, schrie ich ihn an und packte ihn am Arm. Endlich blieb er stehen und sah mich an. „Warum wolltest du nicht mit deinem Bruder reden?“ Jake schwieg und riss sich los. In diesem Moment erschien er mir eher wie ein beleidigtes Kind, zu dem man Nein gesagt hatte. Ich sah ihn eindringlich an und zog eine Augenbraue fragend in die Höhe. Er seufzte entnervt. „Ich wollte ihn nie mit reinziehen, okay?“, fuhr er mich an. „Ich wollte nicht einmal, dass er weiß was ich tue und wo ich mich aufhalte. Ich wollte nicht, dass er weiß, dass es so abgrundtief Böses auf dieser Welt gibt. Ich will nicht, dass er verletzt wird. Ich will nicht, dass irgendjemand wegen mir stirbt!“ Ich war baff. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Für einen Moment hatte ich etwas von Jake gesehen, das ich vorher nicht einmal geahnt hätte. Doch genau so schnell wie er gekommen war, verschwand dieser Moment auch wieder. Ich hatte erneut den alten, verschlossenen Jake vor mir; wie eh und je. „Ich wollte das nie und ich will es jetzt nicht...“, sagte er leise, aber bestimmt. „Verstanden?“ Ich nickte vorsichtig und er ging weiter. Schweigend folgte ich ihm. In meinem Kopf hallten seine Worte wieder. Mir ging der Ausdruck seiner Augen nicht mehr aus dem Sinn, den er in jenem kurzen Moment gehabt hatte. Die alte Dame am Empfang, der eher ein alter, ausgedehnter Tresen mit neun Schlüsseln an zehn Haken war, warf mir einen bösen Blick zu. Ihre Augen waren eingebettet in ihrem Gesicht, das hauptsächlich aus zu viel faltiger Haut bestand. Sie passte perfekt hinter diesen hässlichen Tresen und sah aus, als hätte sie in ihrem Leben noch nie etwas anderes getan. Jake nickte ihr kurz zu und verschwand dann im Gang, der zu unserem Zimmer führte. Ich blieb am Empfang stehen und setzte mein unwiderstehlichstes Lächeln auf, das bei der Alten allerdings nicht einmal bewirkte, dass sie sich mir zuwandte. Mit großen Stielaugen sah sie Jake hinterher; beziehungsweise seinem Hintern. Ich räusperte mich laut und vernehmlich. Sie drehte ganz langsam ihren Kopf und sah mich entnervt an. „Ja?“ Ihre Stimme klang, als hätte sie ein Pfund Kreide verschluckt. Ich lächelte wieder und versuchte wie jemand auszusehen, der jeden Sonntag in die Kirche geht und niemals über Drogen und Alkohol nachdenken würde. „Haben sie hier vielleicht so etwas wie einen Stadtplan, den ich mitnehmen könnte?“, fragte ich und sie entblößte grinsend zwei gelbe Zahnreihen. „Erstens, Schätzchen, gibt es nicht nur so etwas wie einen Stadtplan, sondern auch einen richtigen. Und zweitens, ja, den können sie sich mitnehmen. Allerdings nur für 2,99$!“ Ich zog eine Grimasse und suchte in meiner Rocktasche nach etwas Geld. Es war knapp, aber schließlich kramte ich die 2,99 zusammen und bekam die Karte. Es war eine von diesen zusammengefalteten Touristenkarten, die besonders Sehenswürdigkeiten und Wanderwege einer Gegend aufzeigten. Wenn tatsächlich ein Vampir in Caven’s Hill sein Unwesen trieb, hoffte ich allerdings, dass sie in nächster Zeit keine Touristen die Stadt ansehen wollten. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Vampirplage über ganz Amerika verteilt. Ich steckte die Karte ein und folgte Jake in unser Zimmer, das noch geschmackloser eingerichtet war als das Haus meiner Großmutter. Diese trostlosen Blümchenmuster machten mich total nervös. „Ich hab uns eine Karte von Caven’s Hill besorgt“, sagte ich und versuchte versöhnlich zu klingen. Jakes Offenbarung von vorhin hatte mich beunruhigt. Er saß auf seinem Bett und sah von seinen Händen auf, als ich das Zimmer betrat. Vor dem geblümten Hintergrund wirkte eher wie ein unwirklicher Geist oder ein Schatten. „Wozu brauchen wir eine Karte?“, fragte er und ich setzte mich neben ihn, weil er ausnahmsweise einmal nicht feindselig klang. „Ich bin doch hier geboren worden. Ich kenne mich hier aus!“ „Ja, aber wir können wichtige Gebäude oder Straßen markieren, wenn wir einen Plan aufstellen!“ Ich warf Jake einen Blick zu. „Denn diesmal machen wir es nicht wie in Oregon. Dein Plan einfach keinen Plan zu haben, hat nämlich nicht sonderlich gut funktioniert!“ Jake lachte. „Ich fand meinen Plan super!“ „Ja, natürlich, weil du nicht denken musstest!“ Ich grinste – froh, dass die Spannung zwischen uns verschwunden war. „Außerdem können wir mit dieser tollen Karte eine zweistündige Wanderung zur ältesten Eiche der Stadt machen! Klingt doch verlockend!“ Jake stöhnte. „Alles, nur das nicht! Ich glaube, ich musste diese Wanderung als Kind fünfzehn Mal mitmachen! Und jedes Mal dasselbe langweilige Gelaber...“ Ich lachte laut und legte die Karte beiseite. Seufzend ließ ich mich rückwärts aufs Bett fallen und streckte alle vier von mir. Wir schwiegen eine Weile, aber ich bemerkte, dass Jake mich beobachtete. Seit wir in Caven’s Hill waren, benahm er sich noch komischer als sonst schon. Ich starrte an die Decke und versuchte mir vorzustellen, wie der Nachmittag verlaufen wäre, wenn Jake nichts Unpassendes zu seinem Bruder gesagt hätte. Doch ich schaffte es nicht. Drake hätte uns nicht geholfen... „Wir haben ein Problem, nicht wahr?“, fragte Jake plötzlich und ich setzte mich auf. „Was meinst du?“ „Naja, wir haben keine Ahnung, was wir als nächstes machen sollen. Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, ob es hier überhaupt einen Vampir gibt!“ Ich sah ihn lange an und lächelte dann. „Diesmal ist es schwieriger, aber wir haben doch bis jetzt immer alles geschafft. Oder willst du schon aufgeben? Ich dachte, du wärest der größte und genialste Jäger überhaupt...“ An sein Ego zu appellieren half eigentlich immer. „Schon...“, sagte er gedehnt und fuhr sich durch sein schwarzes Haar. „Aber ich will auch nicht meine Zeit damit verschwenden, den ganzen Tag durch eine Kleinstadt zu rennen, auf der Suche nach weiß Gott was!“ „Negative Energien!“, flötete ich und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. Er stieß sie unwirsch beiseite. „Lass den Scheiß!“, sagte er, aber ich konnte sehen, dass er ein Grinsen unterdrücken musste. Lächelnd ließ ich mich wieder zurückfallen und rollte mich auf der Seite ein. Ich schloss die Augen und nach wenigen Minuten fühlte ich, wie der Schlaf mit übermannte. Kapitel 4: As cold as brasses ----------------------------- 4. Kapitel As cold as brasses „Chestnut?“ Ich wurde unsanft gerüttelt und ich fuhr blitzschnell aus meinem Schlaf hoch. Jake stand neben dem Bett und sah auf mich hinunter. „W-Was ist los?“, fragte ich verschlafen und sah gähnend auf meine Uhr. Es war kurz nach 16 Uhr. Ich hatte so gut wie den ganzen Nachmittag verschlafen. Heute Nacht würde ich wach liegen. Stöhnend fuhr ich mir durch mein zerzaustes Haar. „Mir ist eine Idee gekommen!“, sagte Jake und warf mir meinen Mantel zu. „Zieh dich an. Wir müssen los!“ Ich rappelte mich mühsam auf, denn ich hatte kaum Kraft in meinen Armen. Ich hasste es einfach so geweckt zu werden und verspürte den dringenden Wunsch nach Kaffee – wie eigentlich immer. Jake sah mich ungeduldig an. „Was?“, fragte ich mürrisch und stand auf. „Du könntest mir wenigstens sagen, wo wir hingehen!“ „Nein“, sagte er nur und ich zog mir den Mantel an. Jake verließ das Zimmer und ich folgte ihm widerstrebend. Die alte Frau saß nicht mehr am Empfang und hatte die Klingel rausgestellt. Jake sah aus, als wäre er ganz froh darüber. Ich wusste, dass er es vorzog, nicht jedem zu verraten wo er sich aufhielt. Die Luft draußen war noch kälter, als sie es am Mittag gewesen war und ich verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Es gab kaum etwas, das mich mieser stimmen konnte, als geweckt und danach in die Kälte geschickt zu werden. Ich sah, dass Jake meinen Stadtplan in der Hand hielt und musste nun doch lächeln. Die Karte sah so aus, als hätte Jake meinen Rat in den Stunden, in denen ich geschlafen hatte, befolgt, denn die Zeichnungen von Häusern und Straßen war übersäht mit bunten Strichen, Kreuzen und anderen Markierungen. „Du hast einen Plan?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Jake zuckte mit den Schultern. „Naja, nein. Es ist eher eine vage Idee wie wir anfangen könnten...“ Es war ja klar, dass er meinen genialen Vorschlag nicht als solchen würdigte. „Besser als gar nichts!“, sagte ich strich mir das wirre Haar aus dem Gesicht. Ich musste furchtbar aussehen. Wieder wünschte ich nichts mehr als einen Kaffee. Jake zündete sich eine Zigarette an und tat einen tiefen Zug. Ich musterte ihn neidisch. Warum konnte ich keine Kaffeemaschine in meiner Tasche mit mir herumtragen? „Wir gehen zum Rathaus.“ Jake war wieder einmal kurz angebunden. „Und was wollen wir da?“, fragte ich geduldig, doch ich konnte eine gewisse Genervtheit nicht aus meiner Stimme verbannen. „Du tippst auf Vampire. Ich tippe auf deine geistige Unzurechnungsfähigkeit. Also werden wir deinen Verdacht ganz einfach damit überprüfen, indem wir zum Rathaus marschieren und uns dort die Todesanzeigen der letzten Wochen genauer ansehen. Wenn wir dort eine stetige Steigerung der Todesrate dieser Stadt sehen, wissen wir, dass du Recht hattest. Und wenn nicht, dann fahren wir nach Hause...“ Ich schnaubte und schlang meinen Mantel fester um meinen Körper. Der Wind war eisig und schneidend. Ich hatte angefangen diese Stadt zu hassen. „Und dafür hast du mich geweckt?“ Jake antwortete nicht und trottete los. Ich seufzte und ging ihm hinterher. Ich drehte mich noch einmal zu dem großen Neonschild des Motels um, dass mir immer ein Gefühl von Kettensägermörderfilm gab. Das grelle Licht spiegelte sich in den dreckigen Fensterscheiben unter dem Schild wieder und mir war so, als würde ich kurz das Gesicht der alten Frau vom Empfang hinter einem der Fenster aufblitzen sehen... Der Platz vor dem Rathaus war, abgesehen von dem massigen Steinbrunnen, der sich in der Mitte erhob, vollkommen leer. Die Pflastersteine waren alt und abgetreten und in ihren Ritzen hatten es sich Dreck und Unkraut gemütlich gemacht. Jake zündete sich eine Pall Mall an und fuhr sich durchs Haar. Mein Magen knurrte laut. Ich hatte seit über einem Tag nichts mehr gegessen. Seufzend überlegte ich, ob Jake überhaupt je Essen brauchte. Wahrscheinlich war er selbst schon ein Übermensch – überlebensfähig ohne Nahrung zu sich nehmen zu müssen. Er lebte von Zigaretten und davon mich zu nerven. Ich lächelte bei diesen schwachsinnigen Gedanken. Vermutlich fantasierte ich schon vor lauter Hunger. „Die Stadt ist wie ausgestorben...“, sagte Jake plötzlich und ich sah ihn verwundert an. Sein Blick schweifte über die Fassaden der umliegenden Häuser. Ich konnte eine Besorgnis daraus lesen, die ich selten bei ihm gesehen hatte. „Was hast du gesagt?“ Ich fröstelte im kalten Wind trotz meines Mantels. Vielleicht war es auch nur die Stimmung, die in dieser Stadt herrschte. „Ich habe in der gesamten Zeit, in der wir hier sind noch keine zehn Menschen in Caven’s Hill gesehen. Das ist wirklich ungewöhnlich...“ Ich warf Jake einen triumphierenden Blick zu. „Ich habe doch gesagt, dass hier etwas nicht stimmt!“, rief ich und stemmte die Hände in die Seiten. Jake schnaubte. „Das wollte ich damit nicht sagen!“ Ich seufzte entnervt und fuhr mir durchs Haar, das sich strähnig anfühlte. Angewidert ließ ich von ihnen ab und steckte meine Hände in die Manteltaschen. „Wollen wir nicht endlich mal da rein gehen?“, fragte ich und nickte in Richtung Rathaus. Jake zuckte mit den Schultern. „Wenn du nicht so viel labern würdest, wären wir schon längst wieder draußen...“ Er ging zügig auf diese große, weiße Eingangstür des Gebäudes zu und ich folgte ihm widerwillig, weil mir keine passende Antwort einfiel. Die Tür führte zu einem langen, kühlen Korridor, der mit dunklen schmierigen Fliesen verlegt war. Ich war mir nicht ganz sicher, ob hier überhaupt irgendwann einmal geputzt wurde, aber wenn doch, dann sicher nicht mit Putzmittel. An den weißgetünchten Wänden hingen gusseiserne Gedenktafeln und Portraitfotos von ehemaligen Bürgermeistern, die in meinen Augen alle gleich aussahen. Jake schien weder den Fußboden noch die Fotos bemerkt zu haben, denn er schritt ohne aufzusehen auf eine Glastür zu, die mit Plakaten und Aushängen zugeklebt war. Ich trat näher und entdeckte zwischen einem Poster für eine Schulaufführung von „Ein Sommernachtstraum“ und einer Anleitung für das richtige Passfoto ein kleines Schild, das den dahinterliegenden Raum als Stadtbüro auswies. Jake blieb davor stehen und warf mir einen kurzen Blick zu. „Ich frage nach den Todesanzeigen und du bleibst hier!“, befahl er und ich zog eine Grimasse. „Warum das denn?“ „Weil ich der Jäger bin und du nur... Chestnut!“, sagte er und runzelte die Stirn als müsste er selbst über seine Antwort nachdenken. Ich schnaubte wütend. „Er wird dir eh nichts geben!“ Ich lächelte triumphierend und Jake sah mich verwirrt an. „Woher willst du das denn...“ Er stöhnte. „Ach ja... Das ist aber Schwachsinn. Auch du kannst dich irren!“ Mit diesen Worten ließ er mich einfach auf dem Korridor stehen und trat durch die Tür, die er hinter sich wieder schloss. Ich starrte einen Moment lang wütend auf die Tür und war kurz davor ihm zu folgen, doch dann fiel mein Blick auf etwas anderes am Ende des Korridors. Ein Kaffeeautomat! Ich hätte am liebsten laut gejubelt, aber ich hielt mich zurück. Schnell lief ich zu der sperrigen Maschine, die jemand versucht hatte im Schatten von zwei langen, mottenzerfressenden Vorhängen zu verstecken. Ich wühlte in der Tasche meines Mantels und fand tatsächlich ein paar Münzen, die ich einwarf. Mein Finger glitt unentschlossen über die Tasten der Maschine und drückte schließlich doch auf Schwarz. Es klackte und mahlte laut. Die Geräusche des Automaten durchschnitten die kühle Stille des Raumes und ich schreckte unmerklich zusammen. Warmer Dampf stieg aus dem kleinen Plastikbecher und der Duft nach billigem Kaffee stieg mir in die Nase. Besser als gar nichts. Mit kalten Fingern griff ich nach dem Becher und zog ihn aus der Verankerung. Der Automat piepte laut und die digitale Anzeigetafel neben dem Geldeinwurfschlitz verkündete wieder, dass es die richtige Zeit für einen Kaffee sei. Ich schlenderte mit dem Becher in der Hand zu der gegenüberliegenden Wand und mein Blick fiel auf einige Steinplatten, die in das Mauerwerk eingelassen worden waren. Zu meinem Erstaunen erkannte ich, dass es sich um alte Grabplatten handelte. Ich kniff die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen um die Inschriften lesen zu können, von denen durch das dämmrige Licht tiefe Schatten geworfen wurde. Ich trat weiter vor und legte meine linke Hand auf eine der Platten. Der Stein fühlte sich kalt und feucht an. „Yordan Younge“, las ich leise. Was für ein bescheuerter Name. Ich sah auf die beiden Daten darunter und stutzte. Dieser Younge war schon über hundert Jahre tot. Ich fragte mich, warum gerade seine Grabplatte hier war. In diesem Moment flog hinter mir die Tür des Stadtbüros auf. Ich fuhr herum und sah, wie Jake wütend aus dem Raum rauschte und die Tür hinter sich zuschlug. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und grinste ihm entgegen. „Was habe ich dir gesagt?“, lachte ich und ging auf ihn zu. Die Grabplatten waren vergessen. Jake ignorierte meine Frage geflissentlich und zündete sich wütend eine neue Zigarette an. „Dieser verspießte Beamtenarsch will die verdammten Informationen nicht rausrücken!“, fluchte er und ich musste schmunzeln beim Anblick seinen beleidigten Gesichtsausdruckes. „Soll ich es mal versuchen?“, bot ich ihm an und legte fragend den Kopf zur Seite. Jake warf mir einen skeptischen Blick zu und schnaubte verächtlich. „Als ob du etwas daran ändern könntest, dass dieser Typ ein Arsch ist!“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Vielleicht nicht, aber ich kenne mich im Umgang mit Arschlöchern gut aus...“ Jake antwortete nicht und ich jubelte innerlich, dass ich auch endlich mal einen verbalen Treffer verbuchen konnte. Mein Partner schien zu überlegen und seufzte schließlich laut auf. „Meinetwegen. Versuch es nur. Ich wette, dass du es nicht schaffst...“ Ich lächelte zuversichtlich, übergab meinen Kaffeebecher an Jake und betrat das Stadtbüro durch die Glastür. Edward „Ed“ Randall, der Mann hinter dem Schalter des Stadtbüros, war ein schmieriger Typ, der mit seiner Frau Jenny und seinen beiden Kindern Marshall und Suzie in Caven’s Hill lebte. Marshall würde bald seinen Abschluss machen und die kleine Suzie besuchte erst seit wenigen Monaten die High School. Nichts davon wusste ich bevor ich das Büro betrat. Doch nach fünf Minuten mit Randall in einem Raum, hätte ich ein Buch über ihn schreiben können. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Jake sogar einen mitteilungsbedürftigen Mann wie Randall zum Schweigen bringen konnte. Ich vermutete, allein durch den ewig genervten Ausdruck in seinem Gesicht. Anders als ich wusste Jake nicht, wann es mal besser war Interesse zu heucheln... „So Ed...“, sagte ich lächelnd und lehnte mich weit über den Schreibtisch, der zwischen mir und dem Beamten stand. „Ich bin mir sicher, ein so verantwortungsvoller Mensch kann mir bestimmt helfen. Sie sehen aus wie ein hohes Tier bei der Stadtverwaltung, nicht wahr?“ Ich zwinkerte ihm zu und er fuhr sich nervös immer wieder durchs Haar. In Wirklichkeit sah er aus wie der Typ Mann, dem die hohen Tiere immer die Aufgaben zuteilten, die sonst niemand machen wollte. Wenn Ed überhaupt schon einmal einen seiner Vorgesetzten zu Gesicht bekommen hatte. „Ich bin schon ziemlich wichtig...“, sagte er leise und seine Augen zuckten immer wieder unruhig, damit er keinen Blickkontakt halten musste. Ich hätte die Psyche dieses Mannes analysieren können, aber ich versuchte mich aufs Schleimen zu konzentrieren. „Nun, ich hab da nämlich ein kleines Problemchen, bei dem sie mir sicherlich helfen können, nicht wahr? Wenn nicht sie, dann kein anderer!“ Ich lächelte gewinnend und Randall begann zu schwitzen. „W-Worum geht es denn?“, fragte er und seine Stimme wurde immer leiser. „Sehen sie, ich arbeite für einen kleinen Floristen aus der Gegend und ehrlich gesagt ist mein Arbeitsplatz dort sehr gefährdet...“ Ich sah zu Boden als wäre ich beschämt, aber fuhr dann fort. „Nun, mein Chef sagte mir, ich müsse mindestens eine gute Werbeidee für den Laden entwickeln, damit ich bleiben darf. Und mir kam da die Idee mit den Gratisblumengestecken für die Familien von Verstorbenen!“ Ich warf Randall einen vorsichtigen Blick zu um seine Reaktion abzuschätzen, doch noch schien er nicht sonderlich abgeneigt zu sein. „Die Sache ist nur, dass ich dafür eine Liste mit den Verstorbenen der letzten 3 Wochen bräuchte, obwohl ich weiß, dass sie mir die bestimmt nicht geben wollen. Aber dann werde ich gefeuert!“ Ich stimmte ein niedergeschlagenes Wimmer an und beobachtete Randall aus dem Augenwinkel. Sein Gesichtausdruck war einen Moment unlesbar und ich fragte mich ob Jakes Aktion von vorhin meine Chancen gemildert hatte. Ich fragte mich, ob meine Werbeidee geschmacklos war. Doch all das schien Randall nicht zu stören, denn er schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. „Natürlich, ich verstehe sie vollkommen!“, sagte er und tippte etwas in seinen Computer. „Jeder einzelne muss in diesen schweren Zeiten um seine Zukunft bangen. Eigentlich darf ich keine Adressen rausgeben, aber bei ihnen mache ich einmal eine Ausnahme. Sie scheinen mir sehr vertrauenswürdig zu sein!“ Der Drucker rechts von mir begann laut zu arbeiten und ich zuckte kaum merklich zusammen. Dankend lächelte ich Randall an und versuchte mich zu bedanken. Doch Randall winkte ab. Ich war froh darüber, dass mein Schleimen geholfen hatte. Immer noch lächelnd übergab Randall mir die ausgedruckten Papiere und hätte laut jubeln können. Auch wenn ich natürlich keine Minute daran gezweifelt hatte, dass ich bekommen würde, was ich wollte. Jake stand an die Wand gelehnt unter einem Rauchverbotsschild und zündete sich grade eine Zigarette an, als ich das Stadtbüro verließ und die Tür hinter mir schloss. Ich wedelte triumphierend mit den bedruckten Zetteln, doch Jake rollte nur mit den Augen. „Ich will gar nicht wissen, wie du das geschafft hast...“, sagte er und zog an seiner Zigarette. Ich grinste und stellte mich neben ihn. „Wirklich nicht? Ich fand mich verdammt gut!“ Ich konnte es einfach nicht lassen ihn zu ärgern. Dafür war er einfach einmal zuviel selbstgefällig gewesen. „Hast du die Früchte deiner Arbeit denn schon betrachtet?“, fragte er und ich hörte, wie genervt er war. Von mir oder von meinem Erfolg. Ich sah leicht erstaunt auf die Ausdrucke, die Randall mir gegeben hatte und schüttelte dann den Kopf. „Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu. Vielleicht sollten wir besser rausgehen. Hier ist ein furchtbar schlechtes Licht...“ Jake rollte erneut mit den Augen und in seinem Gesicht stand geschrieben, wie wenig ihn die Lichtverhältnisse eines Raumes interessierten. Trotzdem folgte er mir hinaus auf den Rathausplatz und ich war verspürte eine seltsame Erleichterung, das Gebäude verlassen haben zu können. Ohne weitere Umschweife nahm Jake mir die Papiere aus der Hand und studierte sie aufmerksam, während ich ihn ungeduldig betrachtete. Eine seiner dunklen Augenbraue bewegte sich merklich in die Höhe und ich sah, wie die Muskeln an seinem Hals sich anspannten. Doch er sagte nichts und blätterte weiter zum nächsten Blatt. Ich stöhnte, aber er reagierte wie erwartet nicht. Er beherrschte die Kunst des Chestnut-Ignorierens einfach perfekt. Ich fröstelte leicht im kalten Wind und verschränkte die Arme vor der Brust um die letzte Wärme meines Körpers festzuhalten. „Es scheint, als hätte ich mich geirrt...“, sagte Jake plötzlich ohne von den Ausdrucken aufzusehen. Ich warf ihm einen verwunderten Blick zu. „Was meinst du?“ Vorsichtig trat ich näher um meinem Partner über die Schulter gucken zu können, bzw. an seiner Schulter vorbei. „Siehst du das?“ Er deutete auf fünf Namen mit zugehörigen Daten. „Das sind die Leute, die in dieser Stadt vor ungefähr vier Wochen ihr Leben lassen mussten. Und das hier“ Sein Finger glitt einige Zeilen weiter. „sind diejenigen, die allein in den letzten beiden Wochen gestorben sind...“ Ich schnappte hörbar nach Luft. „Das sind über fünfundzwanzig Menschen!“, rief ich lauter als gewollt aus und meine Hand wanderte ohne dass ich es merkte zu meinem Gürtel, an dem meine Baby Eagle steckte. Jake nickte und sah mich an. In seinen Augen flackerte kurz so etwas wie Besorgnis auf, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass ich später nicht mehr zu sagen vermochte, was er wirklich gefühlt hatte. „Jaah“, sagte er langgezogen. „Und zwanzig von ihnen waren unter dreißig...“ Schon zu diesem Zeitpunkt hätte ich wissen müssen, dass von nun an nur noch Probleme auf uns zukommen würden. Selbst der Teil von mir, der sich freute, dass ich trotz Jakes Zweifel Recht gehabt hatte, wurde von einer Welle von Beklemmung erstickt. Ich begann zu begreifen, dass diese Sache nicht mit ein paar Pflöcken zu beseitigen sein würde... Kapitel 5: Blood on our hands ----------------------------- 5. Kapitel Blood on our hands Ein paar wenige Blätter wurden über den grauen Asphalt gewirbelt, doch der Wind schien schnell die Lust an diesem Spiel zu verlieren und hinterließ das welke Laub im Rinnstein, wo es sich traurig zu seinen Brüdern und Schwestern gesellte, die in einer dreckigen Pfütze ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Eine schwere dunkle Wolkendecke hatte sich über die Stadt gelegt und tauchte die Häuser in ein trübsinniges Licht. Es war, als ob sie alle daran erinnern wollte, dass der Sommer vorbei und auch vom Herbst nicht mehr viel übrig war. Es wurde Winter. Jake lehnte an einem Auto, das neben dem Rathausplatz geparkt hatte und sah wieder und wieder die Ausdrucke durch. Ich kickte einen Stein quer über die Straße und er schlitterte bis kurz vor die Füße meines Partners. Dieser sah kurz von den Papieren auf und zog die Stirn in Falten. „Wo ist mein Kaffee?“, fragte ich – teils um überhaupt etwas fragen zu können, teils weil es mich wirklich interessierte. Seit ich ihn Jake gegeben hatte, war der kleine Plastikbecher spurlos verschwunden. Wenn ich gestresst war, konnte ein Kaffee manchmal Wunder wirken. „Woher soll ich das wissen?“, gab Jake genervt zurück. Er war kein Freund von einfachen, klaren Antworten. „Weil ich ihn dir gegeben habe, Jake...“, sagte ich und stellte mich neben ihn. „Also? Wo ist er?“ „Weiß nicht...“ Er war sah wieder auf die Papiere und kramte mit einer Hand in der Tasche seiner Jacke – vermutlich auf der Suche nach einem Kugelschreiber um etwas zu unterstreichen und einzukringeln. Ich ergriff blitzartig seinen Arm, stellte mich auf die Zehenspitzen, führte mein Gesicht ganz nah an seines und starrte ihn so böse wie möglich in die Augen. Er fuhr nicht zurück, aber sein Arm zuckte leicht. „Ich habe deinen verdammten Kaffee nicht!“, sagte er unwirsch und versuchte mich wegzudrücken. Doch ich schnüffelte nur leicht und trat von selbst wieder einige Schritte zurück. „Natürlich nicht. Du hast ihn ja auch getrunken...“, erklärte ich entrüstet und sah ihn vorwurfsvoll an. „Du riechst nach ihm!“ Jake verengte seine Lippen zu einem schmalen Strich, als ob er damit ungeschehen machen könnte, dass ich seinen Kaffeeatem gerochen hatte. „Ich hasse Kaffee...“, sagte er, rollte die Papiere zusammen, drehte sich um und ließ mich einfach stehen. Verdutzt blieb ich stehen und sah ihm hinterher. Fünf Jahre und dieser Mann war mir immer noch ein Rätsel... Das Motel schien immer noch nicht wirklich gut besucht zu sein – eine Tatsache, die von den neun verbliebenden Schlüsseln an den Haken nur unterstützt wurde. Die alte Frau war immer noch nicht wieder an ihrem Platz hinter dem Tresen. Ich erwähnte den Gedanken, dass sie vielleicht tot in ihrem kleinen Büroraum liegen könnte, der sich hinter dem Tresenbereich befand – abgetrennt durch eine Glasscheibe mit billiger Jalousie dahinter. Jake lief immer noch vor mir her. Auch nachdem ich mich aufgerappelt hatte und ihm gefolgt war, hatte ich ihn doch trotzdem nicht einholen können. Vielleicht wirkte das Koffein so bei ihm. Er schloss die Tür zu unserem Zimmer auf und betrat den trostlosen Raum. Ich verriegelte die Tür hinter mir und warf mich auf eines der beiden Betten. Ich bekam in der letzten Zeit einfach zu wenig Schlaf. „Was willst du tun?“, fragte ich meinen Partner und schälte mich im Liegen aus meinem Mantel, was sich als nicht so einfach herausstellte. Jake setzte sich an den kleinen Tisch, der neben dem Fenster mit den schmierigen Scheiben stand, und breitete die ausgedruckten Papiere aus dem Stadtbüro vor sich aus. Der alte Stuhl knarrte bedenklich unter seinem Gewicht. „Ich schmiede einen Plan...“, sagte er ruhig und bestimmt. Mit einer Hand zog er sich seine Jacke aus, während er mit der Rechten weiter etwas auf den Zetteln unterstrich. Ich hatte mich unterdessen meines Mantels entledigt und drehte mich auf den Bauch, damit ich Jake beobachten konnte. „Du tust was?“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Schmieden ist ein furchtbares Wort...“ Jake sah mich nur einmal kurz an und wandte sich dann wieder den Ausdrucken zu. „Wenn du meinst...“ Ich schwieg und stützte mein Kinn auf die Handflächen. Jake begann jetzt Straßen und Häuser auf dem von mir gekauften Stadtplan einzukreisen. Dabei handelte es sich vermutlich um die früheren Residenzen der Verstorbenen. Ich kannte die Arbeit zu Genüge. Vampire jagen war nicht so romantisch und einfach wie es in diversen Filmen und Serien gezeigt wurde. Vampire jagen bedeutete akribische Planung und eine präziseste Vorgehensweise – wenn man von kleinen Ausnahmen wie der Sache in Oregon oder der in New York oder der in Texas mal absah.... „Wenn wir davon ausgehen, dass die Toten inzwischen Ghule sind...“, murmelte Jake zu sich selbst und runzelte die Stirn. Hektisch und ruckartig strich er etwas durch. Er lehnte sich seufzend zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Ich brauche ganz dringend eine Zigarette...“ Er warf mir einen fragenden Blick zu. „Was ist los?“, fragte ich ihn und rappelte mich auf, so dass ich sitzen konnte. Jake zuckte mit den Schultern. „Es passt nicht!“ Ich hob eine Augenbraue und schickte mich an aufzustehen. Doch Jake war schneller und warf mir den Stadtplan aufs Bett. „Was passt nicht?“ Ich faltete den Plan auseinander und versuchte aus dem Gewirr von Jakes gemalten Linien schlau zu werden. „Alles!“, rief mein Partner aus und stöhnte noch einmal. „Ich stimme dir ja zu, dass diese Todesrate nicht normal ist, aber sie dir bitte mal den Bereich an, in dem diese Menschen gestorben sind!“ Ich erkannte, was Jake meinte. Er hatte mit Rot die Häuser der Toten markiert. Sie lagen alle in einem Umfeld von ungefähr fünf Meilen um die Hayden Street verteilt. Ich stöhnte ebenfalls. „Keine Ghule...“, sagte ich leise und Jake nickte. „Jap, du hast es erfasst. Ghule würden sich niemals auf so einen kleinen Radius beschränken! Es könnte also sein, dass wir es hier mit einem Vampir zu tun haben, der seine Opfer sofort zu vollwertigen Vampiren macht. Von dieser Sorte gibt es nicht viele, aber erinnerst du dich noch an den Vampir aus Maine?“ Ich nickte bedächtig. Dann ließ ich mich wieder zurück fallen und starrte nachdenklich an die ehemals weiße Decke. Durch die Klimaanlage hatten sich schwarze Streifen auf die weiße Farbe gelegt und zeugten davon, dass das Motel renoviert werden sollte. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte ich mit gepresster Stimme, obwohl ich schon wusste, was Jake antworten würde – auch ohne in die Zukunft gesehen zu haben... „Wir gehen zur Hayden Street!“, sagte Jake, genau wie ich befürchtet hatte, und stand von dem wackeligen Stuhl auf. „Dann sehen wir uns dort mal genau um. Wenn es keine Ghule gibt, dann ist es vielleicht etwas weniger gefährlich für uns. Das würde nämlich heißen, dass sich der Virus nicht so schnell verbreitet. Die Umwandlung zu einem wirklichen Vampir, der auch von selbst töten kann, dauert mindestens einen Monat...“ „Obwohl wir nicht wissen, wie lange dieser Vampir schon in Caven’s Hill ist...“, sagte ich und versuchte eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen, doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Jake zog eine Grimasse und fuhr sich mit einer unbestimmten, raschen Bewegung durchs Haar. Es zögerte eine Sekunde lang – zumindest schien es so – doch dann zog er seine Jacke wieder an und sah mich kurz an. „Lass uns gehen, Chestnut...“ Auf eine seltsame Art hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob mein Name etwas schrecklich Endgültiges hätte, als ob Jake jetzt schon daran dachte, dass wir vielleicht nicht zurückkehren würden. Wir mussten nicht wirklich weit laufen bis wir die Hayden Street erreichten. In diesem Punkt hatte eine kleine Stadt wie Caven’s Hill ihre Vorteile. Trotzdem erschien es mir, als würde der Marsch zu der kleinen Straße am Rande der Stadt ewig dauern. Jake war die ganze Zeit schweigend neben mir hergelaufen, doch ich hatte aus dem Augenwinkel beobachtet, wie er immer wieder in seine Tasche griff, in der er ein geweihtes Kruzifix aufbewahrte. Ich war mir nicht sicher, ob Jake besonders religiös war, aber er glaubte an sein Kruzifix, denn das war wie Gift für Vampire. Ich hatte dem alten Klischee lange keinen Glauben schenken wollen, doch das kleine Eisenkreuz hatte uns schon mehr als ein Mal das Leben gerettet. Mittlerweile hatte ich mich dafür entschieden selbst immer eins mit mir zu tragen. In der Hayden Street standen zwar einige Autos und ich konnte auch kurz den Blick auf eine grau-getigerte Katze erhaschen, doch sonst war die Straße wie alle anderen in Caven’s Hill wie ausgestorben. Vielleicht war sie das sogar. Wir befanden uns in der nobleren Gegend, die Jake schon erwähnt hatte, denn die Häuser waren prächtig und waren von gepflegten Vorgärten und protzigen Auffahrten gesäumt. Ich erinnerte mich daran, dass Jake gesagt hatte, die Villen wären nicht das ganze Jahr bewohnt und fühlte so etwas wie Erleichterung. Vielleicht war das der simple Grund für die dunklen Fenster und leeren Straßen. Doch irgendetwas in der letzten Ecke meines Verstandes hörte nicht auf Zweifel zu säen und mir zu sagen, dass ich doch langsam gelernt haben müsste, dass es in diesem Leben für nichts eine einfache Erklärung gab. Die Hayden Street lag in einer gepflegten Gegend – anders als die Häuser die wir auf dem Weg zu Drake gesehen hatten – doch das graue Herbstlicht ließ selbst die weißverputzten Fassaden und den ordentlich gemähten Rasen trostlos erscheinen. Plötzlich blieb Jake stehen und packte mich am Arm, damit ich ebenfalls stoppte. „Was...“, begann ich, doch Jake brachte mich mit einem Kopfschütteln zum Schweigen und deutete mit ausgestrecktem Finger auf eine der Villen. Es mag wie ein Klischee erscheinen, aber ich hatte im Laufe der Zeit gelernt, dass die Dinge, die am verdächtigsten aussahen, es auch wirklich waren. Und dieses Haus war der Inbegriff des Verdächtigen. Es erhob sich auf einer kleinen Anhöhe, zu der eine gepflasterte Auffahrt führte, die links und rechts mit Töpfen aus rötlichem Terrakotta gesäumt war. Doch das erste, das mir wirklich auffiel, war der Garten, der sich vor und sicherlich auch hinter dem Haus erstreckte. Im Gegensatz zu allen anderen Anwesen in der Hayden Street war dies der erste Garten, der tatsächlich und wahrhaftig ungepflegt war. Das Gras wuchs wild und einige vorwitzige Pflanzen hatten sich die schmutzigweiße Hauswand hochgewunden. Die meisten der Töpfe bei der Auffahrt waren zerschlagen – ob durch Witterung oder mutwillige Zerstörung war nicht zu erkennen. Das Gebäude selbst schien seit längerem keinen neuen Anstrich verpasst bekommen zu haben und alle Fenster waren durch Jalousie oder eine schwere Gardine verhangen. Die Scheiben waren schmierig und grinsten schwarz in die Welt hinaus. Ich konnte nicht erkennen, ob am Dach vielleicht einige Ziegel fehlten, doch es hätte mich nicht gewundert. Um das Bild eines absolut verdächtigem Haus abzurunden erhob sich direkt hinter dem Anwesen der Wald, der Caven’s Hill von seinen beiden Nachbarorten trennte und der hauptsächlich aus dunklen Nadelbäumen bestand. „Ist es das?“, fragte ich leise und Jake zuckte mit den Schultern. Langsam zogen wir uns hinter einen Subaru zurück, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und gingen vorsichtshalber in Deckung. „Nun ja...“, sagte Jake langsam, als müsste er aufpassen, was er sagt. „Es ist zumindest ein Anfang, oder nicht?“ Ich nickte und Jake fuhr sich wiedereinmal durchs Haar. „Am besten teilen wir uns auf, Chestnut. Du schleichst dich von hinten an das Haus heran und sicherst dort. Ich versuche hier vorne einen Eingang oder so etwas zu finden. Du weißt, wie du vorgehen musst?“ Er warf mir einen fragenden Blick zu und ich nickte. Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich wieder an das Gespräch zwischen Jake und seinem Bruder, das ich belauscht hatte. Ich sah auf meine Armbanduhr und seufzte. „Es ist schon fast vier Uhr, Jake. Lange haben wir nicht Zeit bis es dunkel wird. Und du entschuldigst doch sicher meinen dringlichen Wunsch dann wieder im Motel zu sein...“ Mein Partner verdrehte die Augen auf eine Heul-nicht-rum-Art und winkte ungeduldig ab. „Warum stehst du denn dann noch hier rum? Geh endlich an die Arbeit!“ Ich streckte ihm genervt die Zunge raus und machte mich auf den Weg. Ich fand relativ schnell einen Weg durch die Gärten der umliegenden Häuser, bis ich den Waldrand erreichte und mich so von hinten an das Haus heranschleichen konnte. Das hohe Gras raschelte leise und umspielte meine Beine als ob es mich daran hindern wollte weiter zu gehen. Ich verscheuchte diesen Gedanken und schlich mich näher an das Gebäude heran. Die Bäume hinter mir warfen lange Schatten, die bis in den vernachlässigen Garten fielen. Ich blieb kurz stehen und kontrollierte Waffe und Kruzifix auf ihre Anwesenheit. Wie von selbst huschte meine Hand erst zu dem Gürtel um meine Hüften und dann in meine Manteltasche, wo sie das kühle Metall des Kreuzes umfasste. Es war eine Routine, die mir fast ein bisschen Angst machte. Ich konnte all die Momente wie diesen nicht mehr zählen. Es war für mich wie für andere Leute der letzte Blick in den Spiegel bevor sie das Haus verließen. Nur dass bei mir mein Überleben davon abhing. Hinter dem imposanten Haus war eine klapprige Art Hütte aus dunklem Holz direkt an der Wand aufgebaut worden. Ich vermutete, dass dort Holz oder Kohle gelagert wurde. Vielleicht auch Gartengeräte. Obwohl letzteres beim Anblick dieses Gartens unwahrscheinlich wurde. Ich näherte mich der Hütte und legte eine Hand auf das rostige Schloss, das mir den Zugang verwehrte. Ich besah es mir näher, aber trotz des Rostes schien es mir zu stabil, als dass ich es hätte zerschlagen können. Wütend ließ ich es los und es knallte gegen kleine Tür der Hütte. Ich wollte mich grade umdrehen und beginnen nach einem offenstehenden Fenster zu suchen, als ich plötzlich einen Geruch vernahm, der mich zusammenzucken ließ. Der Gestank nach Verwesung entwich der kleinen Holzhütte und ich ging einige Schritte zurück um dem Schlimmsten nicht ganz so ausgesetzt zu sein. Trotzdem suchte ich nach einer Stelle, an der dieser Gestank hätte austreten können. Zwischen zwei splittrigen Holzplatten klaffte eine harzige Spalte, durch die man in die Hütte sehen konnte. Ich hielt mir eine Hand vor die Nase und trat näher um einen Blick ins Innere zu werfen. Doch außer tiefster Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Der Gestank war furchtbar, also zog ich mich wieder zurück. Seufzend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Ich biss mir nachdenklich auf die Unterlippe. Dem Gestank nach zu urteilen lagen vielleicht eine oder zwei Leichen in dieser Hütte. Oder vielleicht befand sich hinter dieser verschlossenen Tür auch ein Kellereingang. Ein Kellerraum war immer ein guter Schlafplatz für einen Vampir. Das würde den Verwesungsgeruch ebenfalls erklären. Mit schnellen Schritten ging ich an der Hauswand entlang, um die Ecke und auf die Auffahrt zu. Ich musste Jake Bescheid sagen, vielleicht konnte er das Schloss aufbrechen. Ich passierte einige Fenster, die allesamt mit geschlossenen Vorhängen versehen waren. Ungefähr zwei Meter neben der Hauswand war eine Hecke hochgezogen, die mir den Blick auf das Nachbarhaus verwehrte und während ich die kurze Strecke bis zur Auffahrt entlang lief, konnte ich nicht umher mich eingeengt und bedroht zu fühlen. Ich beschleunigte meinen Gang bis ich fast rannte und versuchte mich krampfhaft davon abzuhalten mich ständig umzudrehen, als hätte ich Angst verfolgt zu werden. Vielleicht hatte ich das auch. „Jake?“ Meine Stimme klang irgendwie heiser und brüchig. Ich hatte die Auffahrt beinahe erreicht, doch meine Panik ließ nicht nach. Das Haus zu meiner Linken erschien mir immer bedrohlicher, dunkler, böser... Mit einem plötzlichen Knall zersprang das Fenster direkt neben mir. Ich kreischte laut und riss schützend die Arme über den Kopf. Mit einem Hechtsprung landete ich in der Hecke und spürte sofort, wie die Zweige mir Arme und Gesicht zerkratzten. Hinter mir prasselten Scherben auf den Rasen. „Scheiße!“, brüllte ich und versuchte panisch mich aufzurappeln. Ich war auf meinen rechten Ellenbogen gefallen und er schmerzte höllisch. „Was zum...“ In diesem Moment gab es einen zweiten Knall und begriff, dass er nur von einer Waffe stammen konnte. Jemand, der sich im Haus befinden musste, schoss auf mich! Fluchend befreite ich mich aus der Hecke, in der ich ein klaffendes Loch hinterließ und rannte los. Fast wäre ich in Jake hineingelaufen, der urplötzlich an der Hausecke aufgetaucht war. „Was ist los?“, schrie er, doch ich konnte ihm nicht antworten. Hektisch riss ich an seinem Arm und stürzte beinahe. Er hielt mich fest und ich keuchte. Mein Herz raste vor Schreck und ich war sicherlich total bleich. „J-Jemand... schießt...“ Mehr konnte ich nicht rausbringen und wie zur Bestätigung meiner Worte erklang ein weiterer Schuss. Wir zuckten beide zusammen und Jake stieß mich um die Ecke bevor er mir folgte. Er bedeutete mir still zu sein und ging vorsichtig zurück. „Das Fenster ist kaputt...“, stellte er flüsternd fest und warf mir einen Blick über die Schulter zu. „Ach nee!“, zischte ich und zog ihn am Arm zurück. „Lass uns verschwinden, Jake!“ Doch mein Partner schüttelte den Kopf. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, aber bevor es dazu kommen konnte, ertönte erneut Lärm aus dem Haus hinter uns. Diesmal schien etwas Großes umzufallen und kurz danach hörten wir einen erneuten Schuss. Ich warf Jake einen bedeutungsvollen Blick zu und er trat vorsichtig zurück. „Okay...“, sagte er langsam und bedächtig. „Vielleicht hast du Recht...“ Ich schnaubte und warf einen Blick auf meine Uhr. „Es ist gleich halb sechs. Wir sollten wirklich gehen!“ Ich hoffte meine Stimme klang so dringlich wie ich sie haben wollte. Jake nickte. „Ich habe au...“ Ein lauten Knall über unseren Köpfen ließ mich wieder ungewollt kreischen. Jake ergriff meine Hand und zog mich von der Hauswand weg bevor es wiederholt Scherben regnete. Ich hob den Kopf und sah, dass die Scheiben eines Fensters aus dem ersten Stock zersprungen waren. Eine der Glasscherben steckte in Jakes rechtem Unterarm und Blut tropfte von der Hand, mit der er meine hielt. „Jake!“, rief ich und sah meinen Partner vorwurfsvoll an, als hätte er das Fenster zerschossen. Er warf mir einen kurzen Blick zu und nickte dann noch einmal. „Lass uns gehen!“, sagte er bestimmt und ließ meine Hand los. Ohne ein weiteres Wort rannten wir die Auffahrt hinunter bis zur Straße, wo ich stehen blieb und noch ein letztes Mal hoch zur Villa sah. „Jake...“, sagte ich leise und er stoppte ebenfalls. Mit zitternder Hand deutete ich zu dem kaputten Fenster, aus dem jetzt einer der Vorhang im Wind flatterte. Für einen kurzen Moment erhaschten wir einen Blick auf eine dunkle Gestalt, die uns hinterher sah, bevor sie lautlos verschwand. Jake hob eine Augenbraue. „Na, wenn das mal keine Überraschung ist...“ Mit einem knirschenden Geräusch, das ich wohl nie vergessen werde, zog er sich die Scherbe aus dem Arm und warf sie auf die Straße, wo sie rot von seinem Blut liegen blieb. Kapitel 6: Here's to the Winners -------------------------------- 6. Kapitel Here’s to the Winners „Du musst das behandeln lassen!“ Ich wühlte weiter in meiner Reisetasche auf der bisher erfolglosen Suche nach einem Verband. Jake saß auf seinem Bett und hielt seinen Arm so, dass das Blut nicht auf seine Jeans lief. „In meiner Jacke ist ein Loch!“, sagte er nur und klang dabei wie ein trotziges Kind. Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Zum Glück stand ich mit dem Rücken zu ihm, so dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Die besagte Jacke lag neben mir und ich warf einen kurzen Blick auf das ausgefranste Loch am Ärmel, um das sich ein dunkler Fleck gebildet hatte. Dann suchte ich weiter nach etwas, mit dem ich Jakes Wunde hätte verbinden können. Schließlich erfühlten meine Hände die kleine Verbandsrolle zwischen zwei meiner Shirts und ich zog sie triumphierend hervor. „Hier!“, sagte ich und drehte mich. Jake sah nicht einmal auf. Er war damit beschäftigt ein grauweißes Stück Stoff um seinen Arm zu wickeln. Ich starrte ihn ungläubig an. „Was tust du da?“, fragte ich. „Ich hab doch den Verband gefunden!“ Jake sah mich kurz an und zog beide Augenbrauen erstaunt in die Höhe. „Mit so einer Socke geht’s doch auch!“ Ich stöhnte. „Mit einer Socke?! Bist du denn total bescheuert?“ Ich setzte mich neben ihn auf das Bett und schlug ihm die blutverschmierte Socke aus der Hand. Ich nahm mir ein Taschentuch aus der Box, die aus dem Nachttisch stand und wischte das Blut von seinem Arm, wobei ich versuchte den Schnitt in seiner Haut nicht zu berühren. Der Schnitt war nicht besonders tief und ich atmete erleichtert auf. „Du hast Glück gehabt...“, sagte ich leise und griff zu dem Desinfektionsspray, das ich ebenfalls auf den Nachttisch gestellt hatte. Ich sprühte etwas davon auf die Wunde und Jake zuckte kurz zusammen. Ich warf ihm einen mitleidigen Blick zu. „Tut mir Leid!“ Normalerweise hätte ich wahrscheinlich irgendeinen Spruch gebracht, aber das wäre zu fies gewesen, wenn man bedachte, dass er nur verletzt war, weil er mich gerettet hatte. „Ist schon okay...“, murmelte er und ich begann vorsichtig damit seine Wunde zu verbinden, indem ich die dünne Stoffbahn rund um seinen Arm abrollte. Zum Schluss fixierte ich den Verband noch mit einem Streifen Klebeband. „So...“, sagte ich. „Vielleicht nicht der beste Verband, aber es reicht erst mal. Ich glau...“ Ich verstummte und hob den Kopf. Jake sah mich mit einem seltsamen Blick an und erinnerte mich in diesem Moment unglaublich stark an das Foto in Drakes Wohnzimmer. Ich bemerkte, dass meine Hand immer noch auf seinem Arm lag und zog sie schnell zurück. Ein wenig befangen räusperte ich mich und stand auf um Desinfektionsmittel und Taschentücher wegzupacken. Jake blieb sitzen, doch ich spürte seine Blicke in meinem Rücken. Ich drehte mich um. „Was ist?“, fragte ich etwas gereizter als ich eigentlich wollte. „Nichts“, antwortete Jake und grinste. „Ich dachte nur grade, dass du bestimmt Krankenschwester werden könntest, wenn du keine Vampire jagen würdest...“ Er lachte, aber ich konnte nichts Lustiges daran finden. „Vielleicht...“, sagte ich leise und steckte die Flasche mit dem Desinfektionsmittel in die Seite meiner Reisetasche. „Was ist mit dir? Du bist auch verletzt...“, stellte Jake fest und deutete auf die blutigen Kratzer, die mir die Hecke beschert hatte. Er war ungewöhnlich aufmerksam heute. Und mir ungewöhnlich schlecht. „Es ist nichts!“, zischte ich und versuchte so sarkastisch wie möglich zu klingen. Warum war ich nur so gereizt? „Ich mag es nur nicht, wenn Leute auf mich schießen!“ Jake sah mich einen Moment lang verdutzt an und begann dann schallend zu lachen. „Wie in London!“, rief er und ich verdrehte die Augen. „Ja, und da sag noch mal einer wir Amerikaner würden schnell zur Waffen greifen! Die Europäer sind viel schlimmer!“ Jake lächelte nur und ich setzte mich neben meine Tasche auf das Bett. Mein Blick fiel auf den Verband an seinem Arm und meine Miene verfinsterte sich. „Wir... haben ein Problem, oder?“ Meine Stimme klang auf eine seltsame Weise belegt und leise. Ich räusperte mich, doch es wurde nicht besser. „Ich bin mir nicht sicher. Wir haben es hier anscheinend mit einem Vampir der Klasse 4 oder sogar 5 zu tun, wenn er einen Sterblichen für sich arbeiten lässt. Und der Typ, der auf dich geschossen hat, war ganz sicher ein Mensch. Wahrscheinlich hat er als Gegenleistung für seine Dienste besondere Fähigkeiten erhalten...“ „Ein menschlicher Helfer würde auch erklären, wie er nach Caven’s Hill gekommen ist. Wenn ihn jemand in seinem Sarg oder in einer Kiste transportiert hat, dann konnte er ja auch fließendes Wasser überqueren!“ Ich dachte nach den Caven’s River, der die Stadt wie eine Schleife umschloss. Für einen Vampir war es unglaublich schwer alleine zu reisen. Jake nickte langsam. „Also müssen wir erst an seinem Helfer vorbei...“ „Der übermenschliche Fähigkeiten und eine Waffe besitzt! Na, großartig!“ Ich seufzte und ließ mich aufs Bett zurückfallen. Es folgte eine lange Pause. Ich sah weiter an die Zimmerdecke und versuchte die Bilder zu ignorieren, die vor meinem inneren Auge um Aufmerksam buhlten. „Wir sollten die Leute der Stadt warnen...“, sagte ich schließlich und setzte mich ruckartig auf. Dieses ganze Rumliegen machte mich aggressiv. Jake lachte humorlos auf. „Ja, sicher. Wir gehen einfach zu allen Leuten hin und sagen ihnen, dass sie die Stadt verlassen müssen, weil du glaubst, dass sich hier ein Vampir eingenistet hat...“ Klar, jetzt war es wieder nur ein Hirngespinst von mir. „Als ob uns irgendjemand glauben würde!“ „Aber du weißt, wem sie glauben würden!“, sagte ich und hoffte, dass der Zaunpfahl ihn erschlagen würde. Jake warf mir einen bitterbösen Blick zu. „Ich werde Drake nicht um Hilfe bitten! Ich habe dir das schon mal gesagt! Also lass es einfach gut sein, okay?“ „Aber...“ „CHESTNUT!“, schrie er und ich zuckte zusammen. „Ich will nichts davon hören! Die ganze Sachen geht dich nichts an! Warum weißt du nie, wann man einfach mal den Mund halten sollte, Mädchen?“ Er stand auf und stürmte aus dem Zimmer. Ich zog den Kopf ein, als die Tür zuschlug um nicht wieder zusammenzuzucken. Seufzend sah ich zu der Uhr, die über Jakes Bett hing. Es war viertel vor acht. Ich konnte mir denken, was mein Partner jetzt tun würde. Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er durch die Straßen ging, rauchte und schließlich eine Bar fand, in der er sich betrinken konnte, bis sein Ärger verraucht war. Und morgen früh würde ich ihn dann schlafend in seinem Bett vorfinden, als wäre nichts gewesen. „Scheiße!“, fauchte ich und schubste wütend meine Reisetasche vom Bett. Das Desinfektionsmittel rollte mit einem blechernen Geräusch unter Jakes Nachttisch, wo es liegen blieb und ich konnte bei diesem Anblick nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Das Geräusch der rollenden Dose in der Stille machte mir bewusst, wie allein ich mich fühlte. Das erste, was ich am nächsten Morgen spürte, war ein beißender Hunger, der sich in meiner Magengrube breitgemacht hatte und mir unmissverständlich vor Augen führte, dass ich seit fast 24 Stunden nichts gegessen hatte außer den zwei Crackern, die ich in meiner Tasche gefunden hatte, nachdem Jake verschwunden war. Stöhnen und murrend rappelte ich mich auf und trat die Bettdecke von meinen Beinen, die mindestens fünfhundert Kilo wiegen musste. Ich ließ ein paar nicht ganz jugendfreie Flüche von mir und schaffte es schließlich mich so auf mein Bett zu setzen, dass ich meine Beine weit von mir strecken konnte um möglichst schnell die Hitze zu vertreiben, unter der sie während der Nacht hatten leiden müssen – dank der Daunendecken eines gewissen Motels... Wie erwartet lag Jake in seinem Bett und schlief. Er hatte sich nicht umgezogen und stank fürchterlich nach Bier. Ich stöhnte erneut und stand auf um das Fenster wenigstens einen Spalt breit zu öffnen. Ich vertrat schon seit längerem die Auffassung, dass nicht mehr als ein Mensch in einem Zimmer schlafen sollte um lästige Hitze und Gestank zu vermeiden. Jake stimmte mir bei diesem Thema wohl aus finanziellen Gründen nicht zu. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und das Parkett unter meinen nackten Füßen fühlte sich so staubig und krümelig an, als hätte man hier seit drei Jahren nicht mehr gesaugt. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich mich betrunken und nicht mein herzallerliebster Partner. Das war doch wirklich ein Unding. Ich schlurfte ins Badezimmer und entledigte mich dort meines durchschwitzen, grauen Frank Sinatra-Shirts, das ich nachts trug und kickte es in die Ecke unter das Waschbecken. Der Here’s to the Winners-Aufdruck mit den Spielkarten im Hintergrund blickte mich vorwurfsvoll an und ich warf meinen Slip so, dass er direkt darauf landete. Wenn dieser Ort für Gewinner war, dann war ich ganz eindeutig falsch hier. Ich betrachtete mein müdes Gesicht im Spiegel und mein strähniges Haar, das mir bis auf die nackten Schultern fiel. Ich war dünn geworden. Einen Moment lang erinnerte mich mein eigenes Gesicht an Jakes. Ich strich mir mit einer Hand über die bleiche Haut meiner Wange und die dunklen Ringe unter meinen verquollenen Augen. Die Kratzer, die immer noch von meinem Sprung in die Hecke zeugten, leuchteten rot. Ich hatte eine Dusche bitter nötig. Immer noch vollkommen verschlafen betrat ich die Duschkammer und drehte das Wasser auf. Während ich auf warmes Wasser wartete dachte ich an den Entschluss, den ich gefasst hatte, als Jake neben mir selig geschnarcht hatte. Ich würde zu Drake gehen und noch einmal mit ihm reden. Es war mir egal, was Jake darüber dachte. Es war das Richtige... Der Wind war noch kälter als am Tag zuvor und die Papiertüte mit den beiden Brötchen, die mir unterwegs gekauft hatte, knisterte leise in meiner Hand. Ich hatte eigentlich nicht allein zu der Tankstelle zurückgehen wollen, aber der Hunger hatte mich schließlich dazu getrieben, für meine Brötchen doch den unheimlichen Tankwart zu bezahlen. Auf dem Weg zu Drakes Haus hatte ich nur zwei Personen getroffen. Eine Frau, die zwei große Einkaufstüten schleppte, hatte mich geflissentlich ignoriert, während der alte Mann auf der Parkbank mich gar nicht gesehen haben zu schien. Ich stand einen Moment lang unschlüssig auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Drakes Haus und betrachtete die weiße Fassade und den ordentlichen Garten. Seufzend ließ ich mich auf der niedrigen Mauer nieder, die vor dem Haus gezogen war und den Vorgarten eingrenzte. Ohne wirklich nachzudenken griff ich in die Tüte und zog eines der kleinen Brötchen hinaus. Kauend blieb ich auf der Mauer sitzen, obwohl die Kälte des feuchten Steins sich langsam durch den Stoff meiner Jeans fraß. Ich sah auf meine Füße und bemerkte ein kleines Loch vorne an meinem rechten Stiefel. Wahrscheinlich hatte ich es mir bei der Flucht gestern zugezogen. Seufzend stopfte ich das halbe Brötchen zurück in die Tüte. Ein kaputter Stiefel war verdammt ärgerlich, wenn man insgesamt nur zwei Paar Schuhe besaß. Ich befühlte mein kaltes Hinterteil und unternahm dann einen kläglichen Versuch die Tüte, mit den angebissenen Brötchen in meine linke Manteltasche zu stopfen. Die Folge war, dass es aussah, als hätte ich einen riesigen Tumor an meiner Hüfte. Frustriert riss ich die Tüte wieder heraus und ließ sie kurzerhand einfach auf der Mauer liegen. Mit schnellen Schritten überquerte ich die Straße und betrat Drakes Vorgarten. Ich warf noch einen letzten unsicheren Blick über die Schulter zurück, als fürchtete ich, dass Jake jeden Moment neben mir auftauchen könnte. Dann ging ich die wenigen Stufen zu der Haustür hinauf und klingelte. Einen Moment lang geschah nichts, doch wie gestern ging plötzlich das Licht hinter der Glasscheibe an und ich erkannte einen Schatten, der sich näherte und mit Schwung die Tür öffnete. Drake sah furchtbar müde aus. Sein hübsches Gesicht wurde von dunklen Augenringen verunstaltet und sein Haar stand wild in alle Richtungen ab. Er war blasser als gestern und um die blauen Iriden seiner Augen schlängelten sich kleine rote Adern. „Hi...“, sagte ich unsicher und bei dem Anblick dieses Mannes, der unverkennbar kaum geschlafen hatte, wünschte ich mir, nicht hergekommen zu sein. Drake sah mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger an und wie bei unserem ersten Besuch dachte ich, er würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch stattdessen blieb er einfach in der Türöffnung stehen – nicht sicher, ob er mich hineinlassen sollte, aber zu höflich um die Tür einfach zu schließen. „Was willst du?“, fragte er. Seine Stimme klang gefasst, doch die Hand, die er auf das weißlackierte Holz des Türrahmens gelegt hatte, zitterte leicht. „Kann ich reinkommen?“ Ich versuchte meine Stimme geduldig und freundlich zu halten, obwohl ich schon wusste, dass er mich einlassen würde. Mein Gegenüber schien sich da noch nicht ganz sicher zu sein. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar – eine Eigenschaft, die er mit seinem Bruder gemein hatte – und seufzte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch einmal hierher kommen würdest...“, sagte er leise und ging einen Schritt zurück, damit ich eintreten konnte. „Glaub mir, ich auch nicht...“ Drake schloss die Tür hinter mir und ich ging vor ihm her ins Wohnzimmer, das immer noch genauso aussah wie wir es verlassen hatten. Doch ich bemerkte, dass Foto der drei Brüder auf dem Kaminsims verrückt worden war und jetzt so stand, dass sich das bleiche Licht, das durch das Fenster schien, sich in ihm spiegelte. Ich vermutete, dass Drake sich das Bild in den letzten 24 Stunden vermehrt angesehen haben musste, doch ich sagte nichts und ließ mich schweigend auf dem Sofa nieder. Drake stand einen Moment lang unschlüssig vor mir und nagte an seiner spröden Unterlippe. „Ich... Ich habe mir grade Kaffee gemacht...“, sagte er und machte eine fahrige Bewegung mit der Hand. „Willst du eine Tasse?“ Ich nickte. Ich ahnte, dass er mich nur aufgrund seiner guten Manieren gefragt hatte, aber ich konnte einen Kaffee nicht ablehnen. Drake verschwand für einen Moment in der Küche und kehrte dann mit zwei Kaffeetassen in der Hand zurück, von der er mir eine gab. Anschließend ließ er sich auf den Sessel fallen, der dem Sofa gegenüber stand und sah mich aus seinen geröteten Augen an. „Warum bist du hier?“ Er redete wohl nicht gern um den heißen Brei herum. Ich nahm einen Schluck Kaffee und versuchte zu lächeln. „Ich weiß, Jake hat dich gestern beleidigt, aber ich muss dich trotzdem noch mal darum bitten, uns zu helfen...“ Ich atmete tief durch und begann ihm dann zu erzählen, was gestern geschehen war, nachdem wir sein Haus verlassen hatten. Drake hörte mir zu, doch ich konnte aus seinem Gesicht beim besten Willen nicht lesen, was er dachte. Ich endete mit der Erklärung, dass wir seine Hilfe bräuchten um die Stadtbewohner zu retten. Es folgte eine lange Pause, in der Drake mit nur ansah und immer wieder an seinem Kaffee nippte. Nervös drückte ich mir meine Tasse auf den Oberschenkel und fuhr mit den Finger am lackierten Rand entlang. „Hat Jake dich geschickt?“ Die Frage kam völlig unerwartet. Eigentlich hatte ich nicht wirklich überlegt, was Drake antworten könnte. In meiner Fantasie hatte er mich immer sofort aus dem Haus geschmissen. „Ähm, nein...“, sagte ich und wusste, dass es, obwohl es die Wahrheit war, nicht wirklich überzeugend klang. „Warum bist du dann hier?“ Drakes Stimme klang ruhig und auf eine seltsame, äußerst unpassende Art gelassen. „Das habe ich dir doch schon erklärt!“, brauste ich auf. Ich wusste nicht was diese ganzen Fragen sollten. „Ich braue deine Hilfe!“ Drake schüttelte den Kopf. „Nein, warum bist du wirklich hier?“ Ich sah ihn einen Moment lang verwirrt an. Dann seufzte ich und wischte mir mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht...“, sagte ich leise und fühlte mich, als hätte ich die Frage eines sehr strengen Lehrers nicht beantworten können. Drake lächelte breit und stand auf. „Du weißt, dass nicht einmal ich die Leute von Caven’s Hill dazu bringen könnte, ihre Stadt zu verlassen!“ Er stellte seine Tasse auf den kleinen Tisch, der zwischen Sessel und Sofa stand, und ging einige Schritte durch den Raum bis er den Kamin erreichte. Vorsichtig nahm er das Foto von sich und seinen Brüder in die Hand und betrachtete es. „Warum bist du bei Jake, Chestnut?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Er hat mir angeboten, mit ihm zu gehen, weil ich in die Zukunft sehen kann. Zumindest in die nächsten fünf Minuten Zukunft...“ Drake warf mir einen interessierten Blick zu und stellte das Foto zurück auf den Sims. „Wirklich? Wie funktioniert das?“ Ich hatte erst ein einziges Mal eine Reaktion wie diese auf die Offenbarung meiner Fähigkeiten gehört. Und wieder war es ein Dawson, der ein gewisses Interesse zeigte. „Du scheinst nicht wirklich überrascht zu sein.“, stellte ich fest und Drake lachte auf. „Weißt du, ich habe meine Kindheit mit Jake Dawson verbracht. Ich denke nicht, dass mich noch irgendetwas auf dieser Welt überraschen kann...“ Ich verstand nicht wirklich, wovon er sprach, doch ich wollte ihn nicht danach fragen. Er setzte sich seufzend zurück in den Sessel. „Also? Wie funktioniert Hellsehen?“ Er lächelte mich an und ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Ich stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es ist eher immer ein ständiger Fluss von vorbeirauschenden Bildern in meinem Kopf. Und wenn ich konzentriere, dann sehe ich was geschehen wird. Allerdings eher wie bei einer Erinnerung. Als hätte ich das schon vor wenigen Minuten erlebt...“ Drake zog eine Augenbraue in die Höhe. „Und wie nützt es Jake?“ Ich lachte, doch es wusste, dass das Lächeln meine Augen nicht erreichte. „Sagen wir mal so...“, sagte ich. „Jake hat noch nie einen Zweikampf verloren, wenn ich dabei war. Ich weiß, was sein Gegner tun wird, bevor er es selbst weiß...“ Wieder einmal wurde mir bewusst, wie stolz ich auf meine Gabe war. Drake nickte und lehnte sich langsam in die Kissen des Sessels zurück. Er sah immer noch furchtbar müde aus, doch schon etwas besser als vor einer halben Stunde. Seine geröteten Augen schweiften immer wieder von mir ab und blieben an dem Foto auf dem Kaminsims hängen. „Du willst eigentlich nur wissen, was Jake getan hat, seit du ihn zum letzten Mal gesehen hast, oder?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Drake seufzte leicht und warf mir einen schwermütigen Blick zu. „Ja...“, sagte er langsam. „Aber du wirst mir nichts erzählen...“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke, das ist nicht meine Aufgabe...“ Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen uns aus. Die Uhr rechts neben dem Kamin tickte laut und irgendwo im Haus knackte es leise in den Wänden. „Willst du wirklich wissen, warum ich mit Jake arbeite?“ Ich wusste selbst nicht, warum ich Drake das fragte. Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus bevor ich sie aufhalten konnte. Vielleicht hatte ich auch nur damit angefangen um das Schweigen zu durchbrechen. Ich wusste es nicht. Drake sah mich so verwundert an wie ich mich fühlte. „Oh, ja... Okay...“ Ich atmete tief durch und grub die Fingernägel meiner geballten Fäuste in meine Handflächen, auf denen kleine, rote Sicheln zurückblieben. „Er hat mich aufgenommen, nachdem es mir wirklich dreckig ging. Meine Eltern waren tot und ich wusste nicht wohin ich sollte. Da hat er mich gefunden und mir ein Angebot gemacht...“ Ich brauchte einen Moment um das auszusprechen. Ich hatte vorher noch nie jemanden davon erzählt. Noch nicht einmal mit Jake sprach ich über unsere eigenen Abmachung. „Ich sollte ihm helfen, Vampire und anderen Abschaum zu jagen und im Gegenzug würde er mir zeigen, wie ich mich verteidigen könnte. Und er würde mir helfen, Hazel zu finden...“ Ich lächelte bitter. Drake legte die Stirn in Falten. „Wer ist Hazel?“ Ich vermied es, Drake in die Augen sehen zu müssen und hielt meinen Blick daher so gut es ging gesenkt. „Hazel... Hazel ist meine große Schwester... Ich weiß nicht wo sie ist oder was sie tut. Ich weiß nur, dass sie nicht wie meine Eltern tot ist. Ich weiß es, weil ich gesehen habe, wie sie mit dem Auto verunglückt sind...“ Ich tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe und grinste schief. „Ich war zehn und habe vorrausgesehen, wie meine Eltern sterben. Danach wurde ich verrückt. Ich lief weg und habe alles hinter mir gelassen. Auch wenn ich mir heute sicher bin, dass Hazel nicht in diesem Auto saß...“ Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und brach meine Erzählung ab. Ich wollte nicht vor einem Dawson weinen. Egal ob vor Jake oder irgendeinem seiner Brüder. Drake sah mich an und ich erkannte eine Betroffenheit in seinem Blick, die ich kaum ertragen konnte. Warum erzählte ich ihm das alles? Warum vertraute ich ihm das Wissen über meine Gabe und meine Ängste an? Nur weil er aussah wie Jake? Weil er mich so verdammt an ihn erinnerte? Nur weil ich mit Jake niemals über so etwas hätte reden können? Die Erkenntnis traf mich ein Schlag. Drake war nicht Jake... Mit einer plötzlichen Bewegung sprang ich auf und schmiss dabei die Kaffeetasse um, die vor mir auf dem Tisch gestanden hatte. „Es...Es tut mir Leid...“, sagte ich und griff nach meinem Mantel. „Du kannst uns nicht helfen. Und ich weiß auch gar nicht, was ich hier wollte. Ich gehe besser...“ Drake stand auf und einen Moment lang dachte ich, er würde mich aufhalten. Doch stattdessen stand er einfach nur da und sah mir hinterher als ich den Raum verließ, durch den Flur hastete und die Haustür aufriss. Ich sprang die Treppe hinunter und rannte genau in Jakes Arme. Erschrocken wich ich zurück und riss die Hände wie zur Abwehr hoch. In Wahrheit versuchte ich mit ihnen die Tränen zu verbergen, die es doch geschafft hatten, sich durchzusetzen. „Chestnut, was zur Hölle...“ Jake packte mich an den Handgelenken. „Was ist passiert?“ In diesem Moment fiel sein Blick auf die offene Haustür, auf dessen Schwelle jetzt Drake stand. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah kühl auf uns hinab. Ich fühlte, wie Jakes Körper sich anspannte und der Griff um meine Handgelenke wurde stärker. „Jake, bitte!“ Meine Stimme klang leise und heiser. Jake schien mich nicht zu hören. „Was hast du gemacht?!“, brüllte er und ich war mich nicht sicher, ob er mich oder seinen Bruder meinte. Drake antwortete auf jeden Fall, doch ich verstand nicht was er sagte. Was immer es auch war, es machte Jake rasend vor Wut. Er ließ mich ruckartig los und ich stolperte einige Schritte nach hinten. Mir war furchtbar übel und ich hätte mich am liebsten übergeben. Dieser ganze plötzliche Stimmungswandel ließ meinen Magen rotieren. „Jake!“, sagte ich flehend und zog ihn von hinten an seiner Jacke. Doch er griff mich nur wieder – dieses Mal am Oberarm – und riss mich in Richtung Straße. „Wir gehen!“, zischte er. Ich blickte zurück zu Drake, doch dieser hatte die Haustür geschlossen und war verschwunden. Kapitel 7: Ash -------------- 7. Kapitel Ash Ich weiß nicht mehr genau, wie wir es bis zum Motel geschafft haben. Jake sprach nicht ein Wort mit mir und ich hatte nicht das Bedürfnis irgendetwas zu tun außer heulen. Ich war nicht wirklich nah am Wasser gebaut, doch wenn ich einmal angefangen hatte, konnte ich nur schwer wieder aufhören. Ungefähr auf der Höhe der Tankstelle waren alle meine Tränen versiegt und hatten sich in stetiges, aber trockenes Schluchzen verwandelt. Als wir das Motel betraten, saß die alte Frau wieder an ihrem Platz und grinste uns ihr zahnloses Lächeln entgegen. „Hatten sie einen schönen Vormittag?“, fragte sie gespielt freundlich und warf wie zur Betonung einen schadenfrohen Blick auf meine geschwollenen, verheulten Augen. „Er war... interessant...“, sagte Jake nur und lächelte so bitter, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Die Alte verlor ihr heuchlerisches Lächeln und ließ uns ohne einen weiteren Kommentar passieren. Jake schloss die Tür hinter uns und ging dann schnurstracks zu seinem „Schreibtisch“, auf dessen Stuhl er sich niederließ. Mit harschen, groben Bewegungen legte er einige Zettel zusammen, schob sie von einer Stelle zur nächsten, nur um sie dann wieder neu zu ordnen. Ein furchtbar gespanntes Schweigen schwebte zwischen uns, das mich beinahe zu erdrücken drohte. Ich stand mitten im Raum und starrte Jake an, der es vermied mich ansehen zu müssen. Alles, seine Bewegungen, die Art wie er sich sein Haar aus der Stirn strich, sein angespanntes Gesicht, seine Haltung; all das verriet mir, dass mein Partner kurz davor stand zu explodieren. Und ich stand einfach nur da und erwartete den großen Knall. Am liebsten hätte ich wieder losgeheult. „Ich habe dir was zu essen gekauft...“ Jakes Worte durchschnitten das kalte Schweigen wie ein scharfes Messer und ich zuckte zusammen. Jake deutete auf mein Bett und erst jetzt bemerkte ich die Dose Pepsi und etwas, dass aussah wie ein Brötchen eingewickelt in Alufolie. Ich war absolut verblüfft. Das war ja fast so etwas wie ein richtiges Frühstück! Ein eisiger Klumpen schien in meinem Magen zu liegen. Jake hatte mir Essen besorgt um sich für den Streit von gestern Abend zu entschuldigen. Und ich hatte ihn so schändlich hintergangen. Mir war schlecht. „Danke...“, sagte ich so leise, dass ich es selbst kaum verstehen konnte. „Oder hast du schon bei ihm gegessen?“ Jake spuckte diese Worte fast aus und für einen kurzen Moment war sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen. Ich fühlte mich noch schlechter und ging vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. Jake starrte mich wütend an und die Papiere in seiner zitternden Hand wiesen schon deutliche Knicke auf. „Jake...“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Es tut mir Leid...“ Jakes Gesichtsausdruck blieb unverändert. „Was tut dir Leid?“, fragte er harsch. „Du hattest Recht! Ich hätte nicht zu ihm gehen sollen. Es war eine dumme Idee und es tut mir Leid, dass ich nicht auf dich gehört habe...“ Wider Erwarten fiel es mir diesmal nicht besonders schwer meinen Fehler einzugestehen. Jake sah mich weiterhin an, doch er ließ die Papiere los, die leise raschelnd zurück auf den Tisch fielen. „Warum bist du zu ihm gegangen, Chestnut?“ Er klang immer noch wütend und ich fürchtete, dass meine Entschuldigung umsonst gewesen war. Und ich hatte befürchtet, dass er mir diese Frage stellen würde. Zischend sog ich die Luft durch meine geschlossenen Zähne und sah zu Boden. „Ich weiß es nicht...“, sagte ich leise. „Ich weiß es wirklich nicht...“ „Was soll das heißen, du weißt es nicht? Was ist das denn für eine Antwort?! Brichst du einfach mal so aus Langweile das bisschen Vertrauen, das ich in dich hatte?“ Gereizt strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und warf Jake einen wütenden Blick zu. Warum schrie er mich jetzt so an? Ich hatte mich doch schon entschuldigt! „Ich wollte dein Vertrauen nicht missbrauchen!“, sagte ich scharf, doch Jake lachte humorlos auf. „Du hast es aber getan! Der Punkt ist, dass ich dich gebeten habe, nicht zu ihm zu gehen und du es trotzdem getan hast!“ Er gestikulierte wild mit den Händen und trat bestürzt einen Schritt zurück. „Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe? Ich wache hier morgens auf und du bist weg! Ich denke mir also, dass du vielleicht frische Luft schnappen bist und gehe dir ein Frühstück kaufen, weil ich so was wie ein schlechtes Gewissen habe und ich komme wieder und du bist immer noch nicht da! Ich habe mir Sorgen gemacht nach all dem, was gestern passiert ist! Also laufe ich durch die Stadt und denke mir, dass du nie so dreist sein würdest, zu meinem Bruder zu gehen, während ich schlafe. Und wo finde ich dich? Bei besagtem Arschloch, wie du mir heulend in die Arme rennst! Was hast du dir nur gedacht? Hast du überhaupt gedacht?!“ Ich starrte Jake aus großen Augen an und konnte ihm einfach nicht antworten. Er atmete schwer und sah mich fragend und vorwurfsvoll an. Seine Bewegungen und seine Mimik waren so wütend, doch seine Wort waren nur voller Schmerz. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte. Dass ich nichts über ihn wusste. „Warum hasst du Drake so? Er ist dein Bruder und doch hasst du ihn. Warum?“ Die Worte waren ausgesprochen, bevor ich sie aufhalten konnte. Ich erwartete, dass Jake wieder schreien würde, doch er blieb ungewöhnlich ruhig. Vielleicht war das sogar noch schlimmer als Schreien. „Er hat mich allein gelassen als ich ihn brauchte. Er war der Älteste von uns, aber er hat sich trotzdem nicht gekümmert. Er hat mich verpönt und mich rausgeworfen. Er verdient nichts anderes als Hass!“ Jake fuhr sich durchs Haar. „Er wollte mir damals nicht helfen, als unsere Eltern starben und jetzt will ich seine Hilfe nicht mehr. Ich brauche ihn nicht. Ich habe ihn damals nicht gebraucht und ich brauche ihn auch jetzt nicht. Ich bin super alleine zurechtgekommen!“ Seine Augen waren von mir abgeschweift und sein Blick strich nun unruhig durch das Zimmer. Ich sah, dass die Erinnerung an seine Kindheit schmerzlicher war, als er zugeben wollte. „Für ihn werde ich immer der kleine dumme Bruder bleiben. Egal was ich tue...“ Ich schwieg betroffen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Es fiel mir oft schwer in solchen Momenten das Richtige zu sagen, also hielt ich lieber gleich meinen Mund. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas sagen musste und Jakes Augen schrieen geradezu nach einem verständnisvollen Blick. Für einen kurzen Augenblick wirkte so zerbrechlich, dass es ihn wohl nicht einmal gestört hätte, wenn ich ihn umarmt hätte. Doch ich zögerte und verpasste die Gelegenheit ihn zu trösten. Ruckartig straffte er seine Schultern und verschränkte die Arme abweisend vor der Brust. „Ich habe Holz besorgt!“, sagte er schroff, nahm den schwarzen Rucksack, der neben seinem Bett stand und kippte seinen Inhalt auf dem Boden aus. Polternd fielen vier Holzscheite und ein zerbrochener Baseballschläger auf das Parkett. „A-Aber warum?“, fragte ich verdutzt und vergaß für einen Moment unseren Streit völlig. Jake warf mir einen entnervten Blick zu. „Weil ich daraus Pfähle schnitzen will? Wir sind Vampirjäger, schon vergessen?“ Ich stöhnte. „Schon klar. Aber warum jetzt?“ Jake zog die oberste Schublade der Kommode auf, die neben dem Tisch stand und nahm ein kleines Beil und sein grobes Messer heraus. „Weil ich keine Lust mehr auf Rumgelaber habe. Dieses ewige Warten und Pläne schmieden geht mir auf den Sack!“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, rief ich und stellte mich schnell zwischen ihn und die Hölzer auf dem Boden. Er sah mich wütend an und mein Blick huschte über Beil und Messer. „Was soll das, Chestnut?“, fragte er und ging an mir vorbei ohne, dass ich ihn wirklich hindern konnte. Er bückte sich und nahm sich zuerst den Baseballschläger. Mit wenigen präzisen Schlägen hieb er mit dem Beil die ungefähre Form einer Pfahls. „Das ist ein Stufe 4-Vampir! Da kann man nicht einfach reinmarschieren und ihn einfach mal eben um die Ecke bringen! So etwas benötigt Vorbereitungszeit! Wir brauchen einen Plan!“ Jake legte den Schläger beiseite und fuhr fort die vier Holzscheite grob zu schlagen. „Ich habe einen. Hier ist mein Plan. Wir gehen zu dieser komischen Hütte, die du erwähnt hast. Ich breche die Tür auf und wir pfählen alle die da drin schlafen. Dann gehen wir ins Haus. Du erschießt den Diener mit einer der mittleren Silberkugeln. Dann suchen wir den Vampir, pfählen ihn und schlagen seinen Kopf ab. Danach holen wir uns auch noch die Köpfe von den anderen aus der Hütte, stopfen in alle Münder ein bisschen Knoblauch, Weißdorn und Silber und werfen die Köpfe dann in den Caven’s River. Meinetwegen kannst du dann auch noch zum Friedhof gehen und ein paar Dornen und Mohn verstreuen, wenn es dich glücklich macht...“ Ich starrte ihn fassungslos an. Die Wut stieg in mir auf. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und trat ihm den letzten Holzscheit aus der Hand, den er grade bearbeiten wollte. „Hast du sie noch alle?!“, schrie ich ihn an und riss ihm das Beil aus der Hand. „Stufe 4, Jake! STUFE 4! Hörst du mir überhaupt zu?!“ Jake wollte nach dem Beil greifen, doch ich zog es noch rechtzeitig zurück. „Was willst du denn noch von mir?“, stöhnte er und nahm den Baseballschläger in die Hand. „Hast du Ahnung von Baseball, Chestnut?“ Ich sah ihn verdutzt an. „Was?“ „Anscheinend hast du keine Ahnung...“ Jake schüttelte enttäuscht den Kopf. „In der amerikanischen Profiliga sind nur hölzerne Schläger aus einem Stück zugelassen. Und weißt du, aus welchem Holz die meisten Schläger hergestellt werden?“ Er hielt mir das behauene Stück unter die Nase. Am Griff war der Name der Firma eingestanzt und noch ein weiteres Wort. Ash. „Esche...“, murmelte ich und war ehrlich verblüfft. Esche war, ausgenommen von Rosenholz, das beste Material für einen Pflock, der zur Tötung eines Vampirs vorgesehen war. Besonders bei mächtigen und starken Vampiren war es nötig, einen Pfahl zu benutzen, der aus Rosen- oder Eschenholz war. Ein glühender Eisenstab tat manchmal jedoch auch seine Wirkung. „Du hast dir also doch Gedanken gemacht!“, stellte ich trocken fest und schob den Schläger beiseite. „Bekomme ich jetzt mein Beil wieder?“ Jake sah mich ungeduldig an, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein, weil es immer noch eine schwachsinnige Idee ist! Du kannst dir so viele Pflöcke hauen wie du willst, Jake! Es bleibt dabei, dass du ohne einen richtigen Plan dieses Vampir nicht töten kannst! Er würde dich umbringen!“ Jake verzog sein Gesicht zu einer bitteren Grimasse. „Kennst du die Geschichten nicht? Man sagt, kein Vampir könne mich töten...“ Ich schnaubte und setzte mich auf mein Bett. Das Beil hatte ein angenehmes Gewicht und war genau richtig um einen guten Pflock zu schlagen. Für ein normales Beil war es recht groß, doch in Jakes Händen wirkte es immer geradezu winzig. „Das mag sein“, sagte ich und warf ihm einen nichtssagenden Blick zu. „Ich würde es an deiner Stelle aber nicht ausprobieren. Man soll sein Unglück ja nicht herausfordern, nicht wahr?“ Jake antwortete nicht und stand mit hängenden Schultern mitten im Raum umgeben von Holzspänen und unfertigen Pflöcken. „Du hast keine Ahnung, Chestnut...“ Seine Stimme klang weniger verächtlich als ich es erwartet hätte. Ich legte das Beil neben mich und es stieß mit einem leisen Klock an die Pepsi Dose. „Seit wir hier sind, bist du irgendwie komisch!“, sagte ich ein wenig schärfer als ich es gewollt hatte. „Was ist mit dir los?“ Jake sah mich nur verständnislos an. „Nur weil ich dich nicht so oft anschreie wie sonst? Das ist doch etwas Positives!“ Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und sah ihn ungläubig an. „Nein, ist es nicht. Nicht wenn du es tust. Dann stimmt nämlich etwas nicht!“, stellte ich nüchtern fest und Jake zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nicht hierher kommen und ich mache daraus auch keinen Hehl. Ich hasse diese Stadt. Sie macht mich krank. Und ich habe keine Lust länger mit dir darüber zu diskutieren! Jetzt gib mir dieses verdammte Beil zurück! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“ Ich seufzte und Jake nahm sich das Beil vom Bett ohne, dass ich ihn hinderte. „Das wird nie funktionieren...“, sagte ich. „Vielleicht nicht. Aber hast du eine bessere Idee? Hast du irgendeinen Plan, Chestnut?“ Ich schwieg und Jake lächelte kühl. Er wusste, dass mir auch nichts besseres einfiel. So verbrachte ich die nächste Stunde damit, Jake zu beobachten, wie er aus klobigen Holzscheiten nur mit Beil und Messer spitze, perfekte Pflöcke schnitzte. Kapitel 8: Blood on dark wood ----------------------------- 8. Kapitel Blood on dark wood Während wir die Straßen entlang liefen, versuchte ich, Jake nicht anzusehen. Ich starrte verbissen auf meine Füße und auf das Stück Asphalt davor, der im Schatten der Wolkendecke fast schwarz wirkte. Langsam wuchs in mir der Wunsch, dass es regnen möge. Regen war etwas Befreiendes. Es hätte mir gezeigt, dass es so etwas wie Veränderung in dieser Stadt gab und nicht immer nur den gleichbleibenden Alltag, der so durchtränkt von der Angst vor dem Unbekannten war. „Guck nicht so!“, brummte Jake neben mir und ich sah fragend auf. Er trug seinen Rucksack, in dem er die fertigen Pflöcke verstaut hatte, und lief leicht gebeugt. „Was?!“ „Du guckst immer so schlecht gelaunt!“ Ich schnaubte. „Na, rate mal wieso! Außerdem sagt das genau der Richtige. Wer mault denn ständig rum, wenn ihm was nicht in den Kram passt?“ Jake zuckte mit den Schultern, was sich durch den Rucksack schwierig gestaltete. „Deine schlechte Laune motiviert mich aber nicht!“ Ich verdrehte die Augen und starrte wieder auf meine Füße. Ich wurde aus diesem Mann einfach nicht schlau. Weiß und bedrohlich erhob sich das Gebäude vor uns. Zwar waren wie bei unserem ersten Besuch wieder alle Fenster verhangen, doch ich glaubte nicht eine Sekunde, dass in diesem Haus niemand wohnte. Es schien eher so, als würde hinter den Vorhängen und Jalousien etwas auf uns lauern. Ich schauderte. Jake hingegen schien vollkommen ruhig. Vielleicht war ich einfach nicht die Richtige für diesen Job... „Wir gehen den Weg, den du gestern genommen hast und brechen dann die Tür zu der Hütte auf, okay?“ Ich antwortete nicht und Jake warf mir einen bösen Blick zu. „Okay...“, stöhnte ich entnervt und schickte mich an, weiter die Straße entlang zu gehen, um durch die Gärten der Nachbarhäuser zum Waldrand zu gelangen, doch Jake packte mich am Oberarm und zog mich zurück. „Hör mir zu Chestnut!“, flüsterte er direkt neben meinem Ohr und ich spürte seine andere Hand in meinem Rücken. „Ich weiß, wir haben ein paar Probleme, aber bei dieser Sache muss ich mich vollends auf dich verlassen können!“ Sein Griff war schmerzhaft und ich nickte hektisch. „Ich will, dass du genau tust, was ich dir sage. Und zwar genau dann wenn ich es sage! Hast du mich verstanden?“ Ich nickte erneut und er ließ mich los. Ich stolperte nach vorn und meine Hand fuhr sofort zu der schmerzenden Stelle an meinem Oberarm. „Du bist ein Arsch, Jake Dawson!“, keuchte ich und ging ohne mich noch einmal umzudrehen weiter. Auf irgendeine Art hatte mich seine kleine Ansprache an den ersten Auftrag erinnert, den wir gemeinsam erledigt hatten. Damals hatte er mich auch daran erinnern müssen, wer der Chef war. Es stimmte mich etwas traurig, dass wir wieder auf dieser Stufe angekommen waren. Missmutig stapfte ich weiter und überquerte nach wenigen Metern die Straße. Ich hörte Jake hinter mir und spielte einen Moment mit dem Gedanken, ihn in die falsche Richtung zu führen. Ich sah mich kurz um und seufzte. Entgegen meines Bauchgefühl führte ich Jake durch die hinteren Gärten der umstehenden Häuser und am Waldrand entlang bis wir bei der verwilderten Wiese des weißgestrichenen Hauses ankamen. „Das ist es?“, fragte Jake und ich nickte leicht. Ich konnte von hier aus den engen Durchgang zwischen dem Haus und er Hecke erkennen, in der ich gestern so unsanft gelandet war. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Willst du das wirklich, Jake?“ Statt einer Antwort reichte er mir einen der Pfähle aus seinem Rucksack und warf mir einen Blick zu, der wohl eine Mischung aus Mut und Pflichtgefühl vermitteln sollte, auf mich allerdings eher wie eine Morddrohung wirkte. Verdrossen nahm ich den Pfahl und nickte in Richtung Holzhaus. „Dann mal los!“ Jake stapfte durch das hohe Gras auf den Bretterverschlag zu und ich folgte ihm widerstrebend. Immer wieder warf ich nervöse Blicke hinüber zu den Fenstern über uns, die wie leblose Augen aus der weißen Fassade starrten. Doch nichts regte sich hinter den zugezogenen Vorhängen. Keine Schüsse wurden auf uns abgefeuert, keine Gestalt mit übermenschlichen Kräften stürzte sich auf uns herab. Und doch war ich mir nicht sicher, ob ich diese Szenarien der kleinen Holzhütte nicht doch lieber vorgezogen hätte. Die Hütte sah genauso aus, wie ich sie verlassen hatte. Das schwarze, alte Holz versperrte den Blick auf was auch immer diesen schrecklichen Gestank verursachte, der immer noch durch die Luft waberte, wie eine nicht greifbare Krankheit. Ich verzog angeekelt das Gesicht, doch Jakes Miene blieb ausdruckslos. Als hätte absolut keinen Geruchssinn ging er näher an die Hütte heran und besah sich, genau wie ich am Tag zuvor, das alte, rostige Vorhängeschloss. „Warum hast du es nicht zerschlagen?“ Er sah mich fragend an und ich lachte trocken. „Sehe ich aus wie Supergirl?“ Jake stöhnte entnervt. „Ich auch nicht, Chestnut...“, sagte er und riss mit einem Ruck das Schloss aus der morschen Holztür. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Holla, die Waldfee... Wie unauffällig!“ Jake beachtete mich nicht und stieß mit beiden Händen die Tür der Hütte auf. Der Gestank, der uns entgegenströmte war unbeschreiblich. Der schwere, süße Atem des Todes kroch mir in die Nase und ich hielt mir aus einem Reflex die Hand vors Gesicht. Ich wusste nicht, wie oft ich diesen Geruch schon in der Nase hatte, aber ich würde mich wohl nie ganz daran gewöhnen. Jake ließ sich wieder nichts anmerken. Ich sah, wie er mit der rechten Hand nach einem Lichtschalter tastete. Es war zu dunkel in der Hütte, als dass man wirklich etwas erkennen konnte. Jake beugte sich weiter vor und seine Hand fuhr suchend über das alte Holz. Die Strom an Bildern in meinem Kopf wurde schneller, eindringlicher. Ich biss mir auf die Unterlippe und konzentrierte mich auf die rasende Flut vor meinem inneren Auge. Ich sah... „Jake! NICHT!“ Mit einem leisen Klicken legte Jake den Lichtschalter um. Meine ausgestreckte Hand hing wie erstarrt zwischen uns und bei meinem Aufschrei war Jake merklich zusammengezuckt. Ich hatte das Gesicht zu einer angsterfüllten Grimasse verzogen und obwohl ich wusste, was mich im Inneren der Hütte erwarten würde, konnte ich nicht anders als hinsehen. Eine einzelne, nackte Glühbirne baumelte von der niedrigen Decke und erhellte den kleinen Raum mit einem schmutziggelben Licht. „Oh mein Gott...“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und die Worte kamen stoßweise. Ich konnte keinen vernünftigen Satz bilden. Es waren zwei Leichen. Zwei bleiche, aufgedunsene Gesichter. Zwei Paar leblose, hervorquellende Augen. Es waren zwei Frauen. Es waren zwei Frauen und er hatte sie kopfüber an die Decke gehängt. Ihre Brüste waren beinahe bis zu ihrem Halsansatz gerutscht und ließen sie noch grotesker aussehen. „Er hat sie ausbluten lassen...“, sagte Jake leise und sachlich. Ich erkannte die tiefen, mit Blut verklebten Schnitte an ihren Hälsen, die uns wie ein schrecklicher, zweiter Mund zuzugrinsen schienen. Schwarze, fette Fliegen saßen auf diesen Wunden und legten ihre widerwärtige Brut in sie. ‚Leben, den Toten entstiegen’, fuhr mich durch den Kopf. Ich konnte meinen Blick nicht von den beiden Leichen reißen. Ihre Arme baumelten nutzlos neben ihren Köpfen und ihre Finger reichten bis auf den mit Blut beschmierten Fußboden. Ich wusste genau was für ein Geräusch ihre Fingernägel auf dem schwarzen Holz machen würden, wenn ihre Körper von einem Windstoß erfasst werden würden. Eine der Frauen trug ein T-Shirt, auf dem eine lachende Maus mit einem Hammer in der Pfote abgebildet war. In einer Sprechblase stand: „Besser bauen mit Save’n’Pack!“ Über das feixende Gesicht der Maus hatte sich ein großer Blutfleck ausgebreitet. „Warum hat er das getan?“, fragte ich Jake, der mit vorsichtigen Schritten näher an die Leichen getreten war. „Warum hat er... sie nicht gebissen?“ Ich hatte schon genug Opfer von Vampiren gesehen um zu erkennen ob sie gebissen oder nur geschlachtet worden waren. Jake streckte die Hand aus um eine der Frauen zu berühren und ich stöhnte gequält auf. „Bitte...“, sagte ich und er ließ seinen Arm wieder sinken. Ich wischte mir mit dem Ärmel über Nase und Lippen. Der Gestank innerhalb der Hütte war unerträglich. „Ich weiß es nicht...“ Jake runzelte die Stirn. „Das ergibt keinen Sinn. Es sei denn...“ Ich nickte langsam. „Es sei denn, er wollte uns damit etwas sagen...“ Jake schwieg für einen Moment und umkreiste die leblosen Körper der Frauen. Plötzlich stieß er einen Laut der Verwunderung aus. „Ein Brief?“ Er riss etwas von dem Rücken der Save’n’Pack-Frau. Sie bewegte sie etwas, doch glücklicherweise nicht so viel, dass ihre Fingernägel über den Boden hätten schrappen können. Jake hielt ein Stück beschriebenes Papier in der Hand und überflog die Nachricht. Seine Augen wurden immer größer und er schnappte nach Luft. Ich besiegte widerstrebend meinen Ekel und trat neben ihn. „Was ist es?“, fragte ich, doch Jake antwortete nicht. Es drückte mir den Zettel in die Hand. Die Schrift war klein und sauber. Es stand nicht viel auf dem Blatt Papier, aber das, was darauf stand, raubte mir den Atem. Jake Dawson, Dein Bruder ist der Nächste, weil schwule Vampire in Hollywood doch so sehr gefragt sind. Ich sah auf und warf Jake einen verwirrten Blick zu. „Was zur Hölle...?“ Jakes Gesichtsausdruck war wie versteinert und er starrte auf die Rücken der beiden Leichen. Als er sprach, klang seine Stimme hohl und blechern. „Du hattest Recht, Chestnut. Wir haben ein Problem...“ Kapitel 9: Klick ---------------- 9. Kapitel Klick Jake nahm mir vorsichtig das Blatt Papier aus der Hand als wäre es giftig und kurz davor meinem Leben den Garaus zu machen. Ich sah ihn fast schon ängstlich an. „Was hat das alles zu bedeuten, Jake?“, fragte ich, doch er schüttelte nur den Kopf. Er knüllte das Papier zusammen und ließ sie auf den Holzboden fallen. Eigentlich war die Papierkugel zu leicht um wirklich eindrucksvoll zu klingen, doch ihr Aufschlag erschien mir ungeheuer laut und klingelte in meinen Ohren. „Wir müssen...“, begann Jake, doch wurde von einem lauten Krachen unterbrochen. Wir fuhren herum. Das Geräusch kam durch die Wand, die am Haus lag und ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Wer immer dieser Vampir war, er wusste, wie er sich in Szene setzen konnte. Ich will nicht, dass irgendjemand wegen mir stirbt... Ich fuhr mir mit einer Hand durch die Haare und sah wieder auf das zusammengeknüllte Papier am Boden. Ich konnte mir nicht annähernd vorstellen, was Jake grade durchmachen musste. Wieder krachte es. „Wir müssen hier weg...“, sagte ich leise, aber Jake verstand es trotzdem. Er nickte und ging mit langen Schritten aus der Hütte. Ich blieb einen Moment stehen und überlegte ernsthaft, ob wir die beiden Frauen hier einfach hängen lassen konnten. „Was ist?“, fragte Jake und er klang gereizt. „Kommst du oder willst du hier bleiben? Ich glaube allerdings nicht, dass diese beiden deine Gesellschaft noch wirklich zu schätzen wissen...“ Ich warf Jake einen wütenden Blick zu. Egal, ob er sich Sorgen machte oder nicht, es gab ihm kein Recht so geschmacklos zu sein. Doch ihn schien das wenig zu kümmern. Er sah mich fragend an. Ich seufzte und trat ebenfalls aus der Hütte. In diesem Moment knallte hinter mir etwas gegen die Wand. Es klang, als würde jemand versuchen die Mauer einzureißen. Ich zuckte zusammen und rannte die letzten Schritte geduckt, als hätte ich Angst, dass die Hütte über mir zusammenstürzen könnte. „Scheiße!“, fluchte ich und folgte Jake durch den Garten zurück zum Waldrand. Er sah sich nicht ein einziges Mal um. Ich hingegen konnte nicht anders als mich ständig umzudrehen und nach Gestalten an den dunklen Fenstern des Hauses Ausschau zu halten. Doch nichts rührte sich. Ich blieb stehen. „Jake!“, rief ich und er blieb stehen. Entnervt drehte er sich um. Sein blasses Gesicht war mit roten Flecken überzogen. „Was ist denn jetzt schon wieder?“ Ich deutete zum Haus hinüber. „Es wird noch lange nicht dunkel. Willst du wirklich schon gehen? Ich meine ja nur, weil...“ Jake sah mich scharf an. „Was?“ Ich biss mir auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. „Willst du ernsthaft warten bis es dunkel wird? Willst du ihm wirklich... eine Nacht geben?“ Eine Pause folgte und beobachtete Jake nervös. Sein Blick ruhte auf der weißen Fassade des Hauses. Er sagte kein Wort, aber er drehte ich um und ging in Richtung Waldrand. Ich brauchte keine Antwort. Anscheinend hatte Jake den Verstand verloren. Jake ließ seinen Rucksack auf sein Bett gleiten und öffnete mit einer harschen Bewegung den Reißverschluss. Mit beiden Händen zog er die zuvor gefertigten Pfähle heraus und einer nach dem anderen flog mit dumpfen Knallen in die Ecke des Motelraums. „Was tust du denn da?“, fragte ich und wich dem letzten Pfahl aus, der haarscharf an meinem Kopf vorbeisegelte. „Hey!“ Jake drehte sich um und warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Was ist denn jetzt schon wieder?“ Ich sah auf die Uhr – zum mindestens fünften Mal seit zehn Minuten. „Warum hast du deinen Plan aufgeben? Warum sind wir wieder zurück?“ „Ich dachte, mein Plan wäre so schwachsinnig und dass ich uns beide umbringen würde, wenn wir ihn durchzögen?“ Ich hörte nicht den leisesten Hauch von Selbstgefälligkeit in seiner Stimme und stutzte. Das hatte ich nicht erwartet. „Ja, aber das war bevor ich wusste, was er weiß!“, sagte ich mit Nachdruck und ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte, huschte über Jakes Gesicht. „Was weiß wer?“, fragte er und ich merkte, dass es mich verarschte. Das war mal wieder klar. „Der Vampir!“, zischte ich trotzdem und begann damit die Pfähle vom Boden aufzuheben. „Und du weißt ganz genau, dass wir zurück müssen! Ich weiß, du magst Drake nicht, aber wir können ihn nicht einfach sterben lassen!“ Ich stopfte die Pfähle zurück in den Rucksack und kontrollierte meine Baby Eagle. Jake stand einfach nur da und beobachtete mich. „Wir spielen nach den alten Regeln. Wir gehen rein und erledigen ihn!“ Wieder ein Blick auf die Uhr. „Zehn nach drei! Das ist spät, aber wir können es noch schaffen, bevor die Sonne untergeht!“ „Die Sonne...“, wiederholte Jake und etwas in seinem Gesicht brach. Ich bin nicht sicher, was es war, aber mir war fast so, als könne ich einen lauten Knall hören, als es geschah. All seine Gesichtszüge entgleisten und er sah für einen Moment wie ein Schwachsinniger aus. „Jaah“, begann ich unsicher. „Die Sonne... Das ist der Grund warum wir zurück müssen, Jake! Wenn es nacht wird, dann haben wir keine Chance mehr. Dann hat Drake keine Chance mehr...“ Jake ließ sich aufs Bett fallen und seine Brust hob und senkte sich schnell unter seinem schwarzen T-Shirt. „Wir können das nicht... Ich kann das nicht tun!“, sagte er leise und ich war vollends verwirrt. Was war los? „Jake?“, fragte ich und steckte meine Waffe vorsichtig zurück. „Was ist“? Er sah auf. „Wir können nicht gegen ihn kämpfen...“ Ich verzog mein Gesicht zu einer gequälten Grimasse. „Wir müssen! Was ist denn nur los mit dir?“ Ich hätte schreien können. Vor meinem inneren Auge sah ich immer wieder das Foto von Jake und seinen Brüdern. „Willst du ihn im Stich lassen?“ Jake schnaubte. „Besser als...“ Er stoppte und sein Gesicht nahm wieder den gewohnt wütenden Ausdruck an. Ich seufzte. „Besser als was?“ Jake antwortete nicht und starrte auf seine Hände. Ich konnte nicht glauben, dass er seinen eigenen Bruder sterben lassen wollte, obwohl noch die Chance bestand, ihn zu retten. Ein spontanes Foto. Ein Familienfoto. „DU HAST DOCH KEINE AHNUNG!“, schrie ich plötzlich und Tränen schossen mir in die Augen. Jake sah mich verwirrt an. „Du weißt nicht wie es ist, ein Geschwisterteil zu verlieren! Du hast noch die Wahl, ihn zu retten! Du hast es in der Hand und du sitzt hier nur rum? Was ist dein verdammtes Problem?“ Ich war mir sicher, noch nie so wütend auf Jake gewesen zu sein, doch er saß einfach nur da und starrte mich an. „Besser als wenn... als wenn einer von uns stirbt...“, sagte er leise und langsam. Ich ließ einen Aufschrei der Empörung hören. „Verdammte Scheiße!“, fluchte ich und grapschte den Rucksack vom Bett. „Dann mach ich es eben allein!“ Ich stürmte in Richtung Tür, doch ich hörte, wie Jake aufsprang. „Du kannst das nicht! Du kannst ihn nicht allein...“ „NEIN!“, brüllte ich und riss die Tür auf. „Wag es ja nicht!“ Ich rannte hinaus und den Motelflur entlang zur Rezeption. Ein Knall hinter mir verriet mir, dass Jake mir folgte, doch ich drehte mich nicht um bis er nach meinem Arm griff und mich zu halten zwang. Der Rucksack fiel mir aus der Hand und rutschte noch einige Meter weiter den Gang entlang. Ihr fuhr herum und versuchte mich aus Jakes Griff zu befreien, doch seine Hand war wie ein Schraubstock. „Du kannst nicht gehen!“, sagte er und sah mich eindringlich an. Durch den Tränenschleier sah ich, dass seine Augen hart geworden waren. „Er wird dich töten!“ Mit einem nicht sehr damenhaften Schnaufen holte ich aus und schlug zu. Die Ohrfeige hallte laut wieder und ich zuckte zusammen, als hätte sie mich selbst getroffen. Meine Hand schmerzte und ich zog sie schnell zurück. Jake sagte nichts und er griff schweigend nach der Hand, die ihn geschlagen hatte. Ich atmete schneller und mein Herz klopfte so stark, dass ich glaubte, er müsse es eigentlich hören können. „Das letzte Mal, als du mich geschlagen hast, sagte ich dir, dass ich die alle Finger brechen würde, wenn du es noch ein Mal tun solltest...“, sagte er leise und ich wollte meine Hand zurückreißen. Aber er griff sie stärker und hielt mich auf. „Doch ich werde es nicht tun...“ Seine Worte stachen in mein Herz wie einer der Pflöcke, mit denen er schon so unendlich viele Herzen durchbohrt hatte. „Du hältst mich für schwach!“, zischte ich und Tränen liefen über meine Wangen. „Darum willst du auch nicht, dass ich zu diesem Vampir gehe und ihn töte! Du glaubst, dass ich zu schwach bin, um gegen ihn zu gewinnen!“ „Nein...“ Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Hauchen. „Ich will nicht, dass du gehst, weil ich glaube, dass ich zu schwach bin. Ich bin zu schwach, um die Angst um dich zu ertragen... Ich hatte das Gefühl, jemand hätte mir ins Gesicht geschlagen. „W-Was?“ „Hast du es denn immer noch verstanden? Ich habe die Wahl, Chestnut. Das hast du selbst gesagt. Ich habe die Wahl. Du oder mein Bruder? Und meine Entscheidung stand schon lange fest, bevor ich überhaupt gefragt wurde...“ Mit einer blitzschnellen Bewegung, die ich später oft versuchte nachzuvollziehen, packte Jake mich und zog mich in seine Arme. Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, dass er mich umarmte! Ich hatte das Gefühl, mein Magen würde sich um 180° drehen. Diese ständigen Gefühlsschwankungen waren einfach nichts für. „Geh nicht, Chestnut...“, sagte er leise, direkt neben meinem Ohr. „Geh nicht zu ihm! Bleib bei mir und hilf mir diese Nacht zu überstehen...“ Die Tränen brannten heiß auf meinem Gesicht und ich hörte das Blut in meinem Kopf rauschen. Ich krallte meine Hände in den Stoff seinen Pullover und neue Tränen stiegen in meine Augen. „Jake...“ Ich schluchzte. Was war nur los mit ihm? Was passierte hier? „Ich kann ihn töten. Er... Wir können Drake nicht sterben lassen. Wir müssen...“ Ich löste mich aus der Umarmung und sah Jake direkt an. „Es geht hier nicht um Drake oder irgendeinen Vampir!“, sagte er plötzlich und klang fast beleidigt. Ich war immer noch verwirrt. „Nein?“ „Nein!“ Er war sichtlich empört. „Ich weiß, dass du es tun könntest. Du bist nicht schwach. Es geht nur um dich. Du warst immer die Einzige, die...“ Einem plötzlichen Impuls folgend küsste ich ihn. In dem Moment, als meine Lippen die seinen trafen, wusste ich, dass er mich nicht zurückstoßen würde. Sein Griff wurde stärker und ich schloss langsam die Augen. Einige Sekunden oder auch eine Ewigkeit vergingen bis wir uns lösten. „Liebst du mich?“, fragte er und ich konnte sehen, dass er diese Frage wirklich ernst meinte. „Ich... ich weiß nicht...“, sagte ich verwirrt. „Ich habe nur... Angst...“ Diesmal küsste er mich. Er nahm mein Gesicht in beide Hände und beugte ich zu mir hinunter. Ich spürte, wie all meine Wut, meine Angst, die Spannung zwischen Jake und mir aus den letzten Monaten, vielleicht Jahren, in diesen Kuss flossen und in meinem Kopf eine nie gekannte Klarheit hinterließen. „Liebst du mich?“, fragte er noch einmal und ich, während mir wieder Tränen das Gesicht hinunterliefen und auf seine Hände tropften, nickte. War das der Grund gewesen, warum ich immer so wütend gewesen war? War das der Grund für all den Streit, den Hass und die Unsicherheit zwischen uns? War es, weil ich ihn liebte? „Dann ist es gut...“, sagte Jake und lächelte. In diesem Moment hätte mich nichts dazu gebracht, zu gehen.. Ich wäre nicht gegangen, selbst wenn tausend Vampire auf mich gewartet hätten. Ich hätte ihn nicht verlassen können. Er nahm meine Hand und wir gingen gemeinsam zurück zu unserem Zimmer. Die Tür schloss sich und fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss... Kapitel 10: To go it alone -------------------------- 10. Kapitel To go it alone Im Schlaf sah er fast friedlich aus. Jakes dunkles Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, bis zu seinen eingefallenen Wangen, seinem leicht geöffneten Mund, seinen Lippen... Wie von selbst wischte ich mir mit dem Handrücken über meinen eigenen Mund – berührte ihn fast ungläubig. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Wie gern hätte ich ihn jetzt noch einmal geküsst. Doch ich wollte ihn nicht wecken. Ich durfte es nicht. Seufzend stand ich auf; langsam um die Matratze nicht zu sehr zu bewegen, damit Jake nicht doch wach wurde. Ich beobachtete ihn aufmerksam, doch er rührte sich nicht. Sein Arm lag immer noch dort, wo ich ihn hingelegt hatte, nachdem ich ihn zuerst von meinem Bauch hatte schieben müssen. Wie gesagt, eigentlich bin ich der Auffassung, dass nicht mehr als eine Person in einem Raum schlafen sollten und wenn doch, dann möglichst weit voneinander entfernt. Und doch hatte ich seit Monaten nicht so gut geschlafen wie in der vergangenen Nacht. Ich ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren und mein Herz wurde schwer. Ich glaubte nicht, dass ich jemals so viel mit Jake geredet hatte, in den ganzen fünf Jahren nicht, die wir jetzt schon miteinander verbracht hatten. Und falls doch, so war ich mir ziemlich sicher, dass wir beide zumindest noch nie so viel gesagt hatten, wie in dieser Nacht. Vielleicht war es einfach Zeit gewesen uns auszusprechen. Ich sah Jake beim Schlafen zu und biss mir auf die Unterlippe bis sie taub wurde. Das einzige, das ich Jake nicht gesagt hatte, war, dass ich meinen Entschluss schon getroffen hatte. Ich wusste, was ich tun musste und jetzt, da ich durch die zu dünnen Motelvorhänge sah, dass es draußen immer heller wurde, wusste ich, dass es an der Zeit war zu gehen. Ich hatte Arbeit zu erledigen. Als ich mir meine Stiefel anzog und mühsam meine Jeans in die Schäfte zu stopfen begann, fiel mein Blick auf Jakes provisorischen Schreibtisch unter dem Fenster, auf dem sich Papier und Schreibzeug stapelten. Ich hielt inne und ließ meinen Blick zwischen den Zetteln und Jake selbst hin und her wandern. Konnte ich wirklich einfach so gehen? Er würde nicht wissen, wo ich war und sich vermutlich Sorgen machen. Aber ihm eine Nachricht zu schreiben würde bedeuten, dass er mir würde folgen können, falls er früher aufwachte als erwartet. Und das war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. Ich sah ihn zweifelnd an. Wenn meine kleine Eigenaktion schon an so etwas zu scheitern drohte, dann war ich mir eigentlich schon sicher, dass ich diesen Tag nicht überleben würde. Ich musste das jetzt durchziehen. Ein Seufzer entwich meinen Lippen und ich wiegte meinen Oberkörper unsicher vor und zurück. Ich wollte ihn nicht verlassen, aber manchmal hatte man einfach keine Wahl. Ich hatte keine Wahl. Ich biss mir auf die Unterlippe und unterdrückte die Tränen. Ich musste es ihm beweisen. Ich musste es mir selbst beweisen. Mit zitternden Händen nahm ich Jakes Rucksack und schulterte ihn. In seinem Inneren klapperten die hölzernen Pfähle mit einem dumpfen Geräusch gegeneinander. Ich bückte mich und hob den großen Hammer mit dem dunkelblauen Gummikopf auf, den Jake schon seit ich mich erinnern konnte zum Pfählen benutzte. Heute würde es mein Hammer sein. Meine Aufgabe. Es gab kein Zurück mehr. Entschlossen stopfte ich das hässliche Teil zu den Pfählen in den Rucksack, den ich vorher von meiner linken Schulter gleiten ließ. Ich seufzte und warf einen letzten Blick auf den schlafenden Jake. Nein, es gab kein Zurück mehr. Auf leisen Sohlen schlich ich mich aus dem Motelzimmer und zog lautlos die Tür hinter mir ins Schloss. Wie ein grässlicher Götzen ragte das weiße Haus vor mir auf und starrte mich aus dunklen, leeren Fenstern erwartungsvoll an. Nervös beobachtete ich es von der anderen Seite der Straße, auch wenn ich das Gefühl nicht loswurde, dass es eher mich beobachtete als andersherum. Es beobachtete, wartete, lauerte. Mein Magen drehte sich um und zog eine schmerzverzerrte Grimasse. Es musste getan werden. Die dunkle Aura, die das ganze Gebäude zu umgeben schien, war stärker geworden. Eine schwarze, eiskalte Vorahnung des Bösen, das in diesem Haus nur auf die Nacht wartete, so schien es. Ich wagte mich hinter dem Auto hervor, hinter dem ich gekauert hatte und stand aufrecht. Man musste das Haus durch die Eingangstür betreten. Man durfte keine Angst zeigen. Jakes Worte, die er mir jahrelang eingetrichtert hatte, schienen nun endlich ihre Wirkung zu zeigen. Er hatte Recht gehabt. Ich durfte keine Angst zeigen. Mit schnellen Schritten überquerte ich die Straße und ging die Auffahrt zum Haus hinauf. Der Gedanke, wie jämmerlich es wäre, wenn er mich jetzt aus einem der Fenster erschießen würde, kam mir, doch ich schob ihn beiseite. Wenn es soweit war, dann war es eben soweit. Den Tod konnte man nicht verschieben. Irgendwann war es halt einmal vorbei. Nicht heute. Beinahe zufällig streifte meine Hand die Baby Eagle an meiner Seite und neuer Mut durchströmte mich. Eine Silberkugel für den Bastard, der auf mich geschossen hatte. Der auf Jake geschossen hatte... Im Laufen kramte ich mein silbernes Kruzifix aus der Hosentasche meiner Jeans und hängte es mir um den Hals. Die Kette war lang und das schwere Kreuz hing ein gutes Stück unter meinen Brüsten. Bei jedem Schritt wippte es leicht mit und sein vertrautes Gewicht um meinen Hals fühlte sich gut an. Ich passierte die zerbrochenen Blumentöpfe und erreichte die Haustür. Auf den Pflastersteinen davor lagen noch immer die Glasscherben und sie knirschten unangenehm unter den Sohlen meiner Stiefel. Das weißlackierte Holz der Haustür war an mehreren Stellen gesplittert und die alte Farbe warf hier und da gräuliche Blasen. Der eiserne Türknauf war grün angelaufen, doch das Yale-Schloss darunter war neu und schimmerte im blassen Morgenlicht. Ich fluchte leise. Ich hatte darauf gehofft, dass das Schloss ebenso baufällig wie die Tür um es herum war. Das hätte es einfacher gemacht. Ich seufzte und mein Blick fiel auf das kleine Metallplättchen unter der Klingel rechts neben der Tür. Wie auch der Türknauf war es fast vollständig grün, doch noch immer konnte man den Namen lesen, der darauf stand. Shawn Barton. Gedankenverloren fuhr ich mit dem Finger darüber. Ich hatte Mitleid mit der armen Seele namens Shawn Barton, der vermutlich sein Leben dafür hatte geben müssen, dass ein Vampir samt Leibwächter sich in seinem Haus einnisten konnten. Auf gut Glück griff ich nach dem Türknauf und drehte ihn versuchsweise. Mit den Gedanken war ich schon beim Türeintreten, als der Knauf nachgab und die Tür nach innen auf schwing. Erschrocken ließ ich von dem kühlen Metall ab und trat einen Schritt zurück. Was war das? Jemand ließ ein nagelneues Yale-Schloss einbauen und schloss dann nicht ab? Das schrie so laut nach einer Falle, dass ich spüren konnte, wie alle Farbe meine Wangen verließ. Ich schüttelte den Kopf. Ich durfte nicht so viel nachdenken. Obwohl alle Stimmen der Vernunft mich anbettelten kehrtzumachen, betrat ich das Haus. Während ich mit schlotternden Knien die Eingangshalle durchquerte, zog ich wie automatisch meine Baby Eagle aus dem Halfter, entsicherte sie und hielt sie mit der Lauföffnung nach unten gerichtet. Kein Grund sich im Schreck mit einem Schuss in einen Spiegel oder eine Glastür zu verraten. Alles schon passiert. Die Halle war leer und die Türen, die zu den anderen Räumen des Erdgeschosses standen, soweit noch vorhanden, offen wie leere, schwarze Augen. Eine breite, weiße Treppe führte in den ersten Stock und ich blieb an ihrem Fuße kurz stehen. Ich erinnerte mich an das Gesicht hinter dem Fenster und sah unsicher die Stufen hinauf. Statt planlos durch das Erdgeschoss zu wandern, konnte ich genauso gut dort mit der Suche beginne, wo ich den Mann gesehen hatte. Langsam und sehr bedacht stieg ich die Treppe hinauf. Ihr ging direkt am Rand, so dass mich kein Quietschen oder Knarren verraten konnte. Die Farbe des Geländers neben mir, warf dieselben Blasen des Alters wie auch schon der Lack an der Haustür. Jede Treppenstufe schien mich mehr Kraft zu kosten als ein Marathon und ich spürte, wie mir der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Ich schleppte mich bis zur obersten Stufe und blieb dort für einen Moment stehen. Vor mir baute sie eine große Tür mit Doppelflügeln auf. Auch sie war weißgestrichen und mit goldenen Türknäufen versehen. Der rechte Flügel war nur angelehnt. Ich schluckte und machte einen Schritt nach vorn. Ein letzter Blick auf meine Waffe.; jetzt keine Fehler... Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich der Tür und stieß sie auf. Es war ein großer Raum, beinahe ein Saal, mit hoher Decke und fast ebenso hohen Fenstern, die, wie ich vermutete, hinaus auf einen Balkon führen musste. Weiße, leichte Vorhängen flatterten im Wind, der durch die offenen Fenster hinein wehte. Es war eisig kalt. Der Raum war leer, bis auf ein großes, mit weißem Leinen verhangenes Gebilde auf der anderen Seite des Zimmer. Und den Mann davor... Die Waffe in meiner Hand zitterte und mir war klar, dass ich ihn nicht hätte treffen können, wenn ich in diesem Moment abgedrückt hätte. Es heißt, dass der Mensch immer das fürchtet, was ihm unbekannt ist. Ich kann diese Aussage dank eigener Erfahrungen ergänzen. Der Mensch fürchtet immer das, was er nicht erwartet hätte. Und dieser Mann war das letzte, das ich erwartet hätte. Er war noch jung – höchstens 26. Sein Gesicht war markant und doch auf eine seltsame Weise hübsch. Sein blondes Haar trug er and beiden Seiten nach oben gegelt, was ihm ein wolfsähnliches Aussehen verlieh, das von dem überheblichen Grinsen auf seinen Lippen nur noch verstärkt wurde. Doch das Auffälligste an ihm waren seine stechenden, hellblauen Augen, deren Anblick mir einen panischen Stich ins Herz versetzte und den Wunsch nach einer überstürzten Fluch in mir weckte. Er hatte noch kein Wort gesagt, doch schon jetzt erfüllt eine unheilvolle Aura den gesamten Raum. Eine Unsicherheit, die ich bisher nicht gekannt hatte, befiel mich und ich suchte in meinem Kopf vergeblich nach einer Vision, die mich beruhigen konnte. Doch der Strom vor meinem inneren Auge war versiegt und hinterließ nichts als eine gähnende Schwärze. Mein Atem ging schneller und unregelmäßiger. Was hatte das alles zu bedeuten? „Na? Keine Visionen mehr?“ Ich zuckte heftig zusammen. Seine Stimme war noch kälter und schneidender als ich sie erwartet hatte, doch eigentlich machte mir eher Angst, was er gesagt hatte. Woher wusste er von meiner Fähigkeit? Ich atmete durch und versucht krampfhaft mir nichts anmerken zu lassen. „Ich bin hier um dich zu töten!“, rief ich, doch meine Stimme versiegte und aus meinem selbstsicheren Ausruf wurde ein klägliches Wimmern. „Aber du wirst mich nicht töten, Jägerin. Du wirst es nicht können...“ Sein Lächeln war nicht verschwunden, doch es wirkte mehr und mehr wie eine verzerrte Fratze. Er löste sich langsam von dem, das aussah, wie ein riesiger Vorhang mitten im Raum und schritt mit schlenderndem Gang auf mich zu. „STOP!“ Der Pfropfen in meiner Kehle schien sich endlich gelöst zu haben und ich brüllte dieses Wort richtig. Er blieb stehen und wiegte leicht seinen Oberkörper wie eine Schlange kurz vor dem Angriff. „Was willst du tun, kleine Jägerin? Willst du mich töten? Einfach so? Willst du wirklich die einzige Person töten, die dir die Informationen geben kann, die du brauchst?“ Sein Lächeln hatte sich in ein widerliches Grinsen verwandelt. Ich wollte ihn wirklich erschießen, doch in diesem Moment ließ ich ohne es wirklich zu bemerken meine Baby Eagle sinken. „Ich falle nicht auf deine Tricks herein...“, sagte ich leise, doch ich wusste, dass ich es tun würde. Mit ausgebreiteten Armen ging er auf mich zu und legte seine rechte Hand schließlich auf meine beiden Hände, welche die nach unten weisende Waffe hielten als wolle er mich beschwichtigen. Die andere Hand legte er leicht auf meine Schulter und eine Gänsehaut breitete sich von dort aus, wo seine Finger den Stoff meines Shirts berührten. Er beugte sich vor und ich konnte seinen Atem auf meinem Hals spüren. Ich begann zu zittern, doch ich konnte mich nicht bewegen, geschweige denn gegen ihn wehren. Ich schloss die Augen und drehte meine Kopf leicht zur Seite – die einzige Bewegung, zu der ich noch imstande war. „Willst du denn gar nicht wissen, wo deine Schwester ist?“ Seine Worte waren nur ein leises Flüstern, doch ich konnte ihn trotzdem verstehen. „Wer zum Teufel bist du?“ Ich zitterte stärker. Warum wusste er alles über mich? Warum? Der Druck seiner Hände wurde kräftiger und seinen Lippen entwich ein kleines Lachen. „Nenn mich Shawn...“ Ich zitterte stärker. Shawn. Shawn Barton. Er ließ den Vampir in seinem eigenen Haus wohnen? Ich stutzte. „W-Was?“ Ich nahm all meinen Mut zusammen und entriss mich seinem Griff. Mit viel zu viel Schwung stolperte ich rückwärts und die Waffe fiel aus meinen Händen. Er lächelte und trat sie lässig fort. Mit einem kreischenden Geräusch rutschte sie in Richtung Tür. Ich sah ihr sehnsüchtig hinterher, doch schon spürte ich wieder seine Hand auf meiner Schulter. „Du willst doch nicht schon gehen, Verity?“ Ich warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Wie bitte?“ Er lachte. „Ich möchte dich einem besonderen Freund von mir vorstellen, meine Liebe...“ In diesem Moment regte sich in mir der Anflug von Widerstand. Ein besonderer Freund? „Nein!“, zischte ich und versuchte mich wieder aus seinem Griff zu befreien. „Lass mich! Lass mich los!“ Doch seine Hände waren wie Schraubstöcke und er schubste mich erbarmungslos zu dem riesigen, verhangenen Gebilde am Ende des Raumes. Er ging hinter mir, doch ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren. Ich wollte nicht zu ihm. Ich wollte nicht. Er würde mich einfach mit ihm zusammen einsperren und dann irgendwann würde die Sonne untergehen... Ich konnte den Gedanken nicht zuende führen. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken. Ich wollte nicht sterben... „Freu dich, Verity. Denn du bist die erste...“ Ich sah mit Schrecken, wie Shawn nach dem riesigen Tuch griff und es mit einem Ruck fortzog. Wie in Zeitlupe segelte der seidige Stoff in Richtung Boden und enthüllte Stück für Stück das, was es verborgen hatte. Ein Spiegel. Ich sah mich – blass, dürr, verängstigt. In dem riesenhaften, antik wirkenden Spiegel sah ich noch kleiner aus, als ich es eigentlich schon war. Ich sah mein strähniges Haar, mein fleckiges T-Shirt, meine kaputten Schuhe. Und der Punkt war, dass ich genau nur das sah. Ich sah nur mich. Doch Shawns Spiegelbild war nirgends zu erkennen. Erschrocken fuhr ich herum, doch Shawn stand immer noch hinter mir. Wieder blickte ich in den Spiegel. Dort stand ich allein. „W-Was geht hier vor?“, flüsterte ich. Ich hörte Shawn hinter mir lachen. „Was glaubst du denn, was hier vor sich geht?“ Ich starrte auf die Stelle, an der Shawn hätte stehen sollen und schluckte. „Du hast kein Spiegelbild wie ein Vampir, doch du bist keiner. Du kannst kein Vampir sein. Doch bist du auch kein Diener. Du bist... Was bist du?!“ Ich drehte mich erneut zu ihm um. Er kam auf mich zu und berührte mich leicht am Arm. „Willst du es wirklich wissen? Willst du mein Geheimnis erfahren?“ Ich wich zurück und wäre beinahe gegen den Spiegel gestoßen. „Nein!“, schrie ich. „Ich muss dich töten!“ Ich machte einen Satz und sprintete an ihm vorbei auf meine am Boden liegende Waffe zu. Er machte keine Anstalten mich aufzuhalten. Er brauchte nur ein Wort zu sagen. „Hazel...“ Ich hielt inne und meine Hand, die ich schon nach der Baby Eagle ausgestreckt hatte, hing nutzlos in der Luft. Ich drehte meinen Kopf, so dass ich ihn sehen konnte. Er stand mit ausgebreiteten Armen da und lächelte kühl. „Töte mich ruhig, Verity! Aber dann wirst du nie erfahren, wo deine Schwester ist...“ Ich richtete mich auf. Die Waffe war vergessen. Wie ausradiert aus meinen Gedanken. „Woher weißt du von ihr?“, fragte ich. Er zuckte mit den Schultern und erhob entschuldigend die Arme. „Das Problem ist, dass ich allwissend bin, Verity!“ Ich konnte mir ein trockenes Lachen nicht verkneifen. „Wenn du allwissend wärest, wüsstest du, dass ich nicht Verity heiße, Arschloch!“, rief ich und sah ihn triumphierend an. Doch Shawn grinste nur. „Nun, noch nicht...“ Er lächelte. „Ich will es dir gern erklären, meine Liebe. Schon als Kind...“ „Was kommt jetzt? Deine Lebensgeschichte?“ Ich war versucht, einfach die Waffe aufzuheben und ihn doch zu erschießen. Doch er hob einhaltend die Hand um mich zum Schweigen zu bringen. „Hör mir zu, wenn du verstehen willst, warum du mich nicht töten wirst. Schon als Kind wollte ich alles erfahren und alles lernen. Ich war nicht nur neugierig, sondern besessen von dem Wunsch allwissend zu sein. Und dieser Wunsch hat mich nie losgelassen. Ich habe immer nach neuem Wissen gestrebt. Und doch wurde mir irgendwann klar, dass niemand diesen Wunsch erfüllen konnte. Nur ich selbst konnte mir helfen. Im Laufe meiner Studien fielen mir einige Aufzeichnungen über Parallelwelten in die Hände. Ich weiß, ich weiß! Das klingt im ersten Moment seltsam, aber nach eingehender Untersuchung wurde mir bewusst, dass die Theorie über die Existenz von Parallelwelten durchaus nachvollziehbar war. Und sie erklärt auch deine Gabe!“ Ich runzelte die Stirn. „Was soll das alles?“, fragte ich. „Parallelwelten existieren. Und zwar weitaus mehr als nur eine. Einige verlaufen wirklich parallel zu der unseren. Einige verschieben sich in der Zeit. Und diese Verschiebungen sind der Ursprung deiner Kraft. Obwohl wir eigentlich keine Verbindung zu unseren Parallel-Ichs herstellen können, gibt es einen Kontakt zwischen dir und einer Parallelwelt, die unserer um wenige Minuten voraus ist!“ Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. „Soll das heißen, dass ich nicht die Zukunft sehe, sondern nur, was ein anderes Ich schon erlebt hat?“ Shawn nickte. „Exakt. Allerdings habe ich etwas herausgefunden, was für mich die Quelle zu allem Wissen ist. Es ist nicht so, dass verschiedene Ichs existieren, sondern verteilt sich unsere gesamte Existenz auf die Ichs der verschiedenen Parallelwelten... Nur zusammengenommen ergeben diese ganzen Ichs eine Person in ihrer gesamten Existenz!“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich verstehe nicht, was...“ „Ich weiß, ich weiß!“, rief er ungeduldig und seine Hände zuckten nervös. Ich biss mir bei diesem Anblick auf die Unterlippe. Dieser Mann war wahnsinnig. „Du kannst nicht alles verstehen, aber es ergibt alles Sinn! Wenn ein Ich stirbt verteilt sich sein Teil der Existenz auf die restlichen Ichs. Verstehst du das denn nicht? Ich habe einen Weg gefunden, meine Ichs in den anderen Welten zu töten. Ich vereine die gesamte Existenz einer Person in mir – einem einzelnen Ich!“ Er lachte laut auf. Ich zuckte zusammen. Er war verrückt. Vollkommen wahnsinnig. „Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht!“, sagte ich laut und Shawn hörte auf zu lachen. „Dummes Mädchen...“, murmelte er. „Ich habe kein Spiegelbild, weil ich mein Ich in der Spiegelwelt getötet habe. Ich bin allwissend, weil all meine anderen Ichs mir ihr Wissen vermacht haben!“ Ich schüttelte wieder den Kopf. „Das meine ich nicht. Ich verstehe nicht, was das alles mit den Leichen in deinem Garten zu tun hat. Warum mussten diese Menschen sterben?“ Shawn sah mich verdutzt an. Mein Blick fiel wieder auf seine Hände, die jetzt beinahe unkontrolliert zuckten und sich zusammenkrampften. „Sie...“, begann er und schien beim Sprechen den Faden zu verlieren. Verwirrt sah er sich um, als sei er nicht sicher, wo er sich befand. „Sie... Sie können mich nicht stoppen. Sie wissen nichts! NICHTS!“ Er fuhr beim Klang seiner eigenen Worte zusammen. „Es ist nicht wahr! Ich verliere niemals die Kontrolle!“ Seine Augen rollten in ihren Höhlen und ich entschloss mich, rasch das Thema zu wechseln. „Was haben Jake und ich damit zu tun? Was willst du von uns?“ Shawn stutzte einen Moment, doch dann erlangte er wieder Kontrolle über sich und seine zuckenden Hände. Er kam langsam auf mich zu. Wieder wirkte er bedrohlich und schlangengleich. Ich begann erneut zu zittern. „Ich wusste, ihr würdet kommen um mich zu töten. Ich wusste, dass ihr mich für einen Vampir halten würdet. Ich weiß alles über euch. Über dich und deinen kleinen Freund.“ Er lachte laut auf. Es war ein höhnischer, kalter Laut. „Ich weiß, warum er seine Brüder mehr hasst als die Vampire, deren Jagd er sein Leben verschrieben hat. Ich weiß, von jedem einzelnen Monster, das er je in dieser Welt gejagt und getötet hat. Und ich weiß, was manchmal nachts denkt, wenn du nur wenige Meter von ihm entfernt im Schlaf liegst. So verletzlich, so wunderschön, so unerreichbar...“ Ein süffisantes Lächeln lag auf seinen Lippen und ich spürte wie sich mir der Magen umdrehte. Das war einfach alles zu viel. Zu viel auf einmal. „Nichts weißt du!“, zischte ich und ging wütend auf ihn zu. Der Hass, der sich in meinem Bauch festgesetzt hatte, ließ mich beinahe meine Angst vergessen. „Du meinst, du wüsstest alles, aber eigentlich hast du keine Ahnung!“ Erneut erntete ich nichts als Gelächter. „Oh doch, kleine Verity, ich weiß alles. Glaub mir. Ich weiß, was sie über ihn sagen. Der große Jake Dawson. Der größte Vampirjäger aller Zeiten. Blablabla. Kein Vampir kann ihn töten, heißt es. Nun, wir werden sehen, ob es ein gewöhnlicher Mensch schafft. Naja, beinahe gewöhnlich...“ Es war, als würde mein Blut zu Eis gefrieren. Ich stoppte mit in meinen Bewegungen und riss die Augen auf. Es war still geworden – ich hörte das Rauschen in meinem Kopf. „Du... Du willst ihn töten...“, sagte ich mit monotoner Stimme. Shawn runzelte verwundert die Stirn. „Aber natürlich will ich das. Was glaubst du, warum ich zugelassen habe, dass du hier einfach hereinspazierst?“ Er warf einen fast beifälligen Blick zur Tür hinter mir. „Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich schätze, er ist schon auf dem Weg...“ Kapitel 11: Falling ------------------- 11. Kapitel Falling Dickflüssig, eiskalt und schrecklich langsam kroch sie meine Beine hinauf. Sie lähmte meine Glieder, brannte sich mit eisiger Bestimmtheit durch meine Haut, meine Muskeln, meine Knochen – hinterließ einen frostigen Film auf allem, das sie berührte. Wie mit feinen Nadeln bohrte sie sich den Weg durch meinen Schädel zu meinem Hirn, schwappte wie eine grausige Welle über meinen Kopf und brach über mir zusammen. Ich konnte sie schmecken; fühlte, wie sie in Nase, Mund und Ohren eindrang – tastend und gemächlich, jedoch gnadenlos. Auf meiner Zunge hinterließ sie den bitteren Geschmack nach Eisen. Es war die Angst und sie war grausam. Ich konnte nichts sagen, ich konnte mich nicht bewegen. Mit schreckensweiten Augen beobachtete ich, wie Shawn mit lässigem Schritt durch den Saal schlenderte. Seine alte Selbstsicherheit war wieder da. Nichts erinnerte noch an den zuckenden Wahnsinnigen, der noch vor wenigen Minuten vor mir gestanden hatte. Meine Gedanken rasten. Er wollte Jake töten. Jake, meinen Jake! Jake, der kommen würde um mich zu retten – dessen war ich mir sicher. Jake, der völlig ahnungslos. Jake, der immer noch glaubte, er hätte es mit einem Vampir zu tun. Jake. „Du kannst ihn nicht töten...“ Es war mehr ein Flüstern, doch Shawn hörte er trotzdem. Sein kehliges Lachen erfüllte den Raum. „Wer sollte mich daran hindern? Du?“ Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Ich wartete. Ich wartete auf den Strom von Bilder vor meinem inneren Auge. Doch er kam nicht. Die Schwärze, die an die Stelle von lebhaften Visionen getreten war, machte mir noch mehr Angst als der Gedanke, dass ein Wahnsinniger ohne Gewissen, aber dafür mit dem Wissen der Welt ausgestattet, im Begriff war, meinen Partner zu töten. Ich war nie ohne Visionen gewesen. Sie hatten mich nie im Stich gelassen. Egal, wie schlimm manche von ihnen gewesen waren, so hatten sie Jake und mir doch ein und das andere Mal das Leben gerettet. Doch das war nicht der einzige Grund, warum ich sie brauchte. Sie beruhigten mich. Ich hatte sie nie so gesehen, doch jetzt, da ich ohne sie war, wurde mir klar, dass ich ohne sie ein nervliches Wrack war. Die Tatsache nicht zu wissen, was passieren würde, machte mich unsicher. Sie machte mir Angst. Tränen stiegen unter meinen geschlossenen Lidern auf und ich spürte den Kloß in meinem Hals, der sich immer bildete, wenn ich weinte. „Ich hasse dich...“, sagte ich leise und ich erschrak beinahe über den Abscheu in meiner zitternden Stimme. „Du wirst ihn nicht töten, wenn ich es verhindern kann...“ Shawn lachte wieder. Es war diese kranke Art der Belustigung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Jake. Oh Gott, wie konnte ich ihn nur warnen? Ich spürte mit Erleichterung, dass meine Gedanken sich wieder in eine produktive Richtung bewegten. Die blinde Panik hatte sich gelegt und war einer verzweifelten Suche nach einem Ausweg gewichen. Was würde passieren, wen Jake hier auftauchte? Er würde keine Waffe bringen, denn er glaubte ja noch immer, dass er es mit einem Vampir zu tun hatte. Er besaß eine Schusswaffe – das wusste ich, auch wenn ich ihn noch nie hatte schießen sehen. Normalerweise übernahm ich diese Aufgabe. Also würde er nur mit Pfahl und Hammer kommen. Es konnten tödliche Waffen sein. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, die Wirkung eines Pflocks zu unterschätzen. Aber ich wusste genauso gut, dass Jake ein Stück Holz wenig nützen würde, wenn er den Saal betrat. Der Pfahl war eine Waffe, die höchstens für den Nahkampf lohnte. Vorzugsweise mit einem toten, unbeweglichem Gegner. Ich musste Jake warnen. Aber wie? Ich besaß kein Handy und solange ich hier war, hatte ich keine Möglichkeit, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich war mir sicher, dass er sich verteidigen konnte, wenn er wusste, mit was er es zu tun hatte. Wenn ich Jake nicht warnen konnte, so musste ich Shawn zumindest so lange ablenken, bis Jake die Möglichkeit hatte, die Situation zu durchschauen. Das war die einzige Lösung. Ich öffnete die Augen und wischte mir die Tränen von den Wangen. „Unsere Kräfte sind sich gar nicht mal so unähnlich...“, sagte ich in einem Ton, der, wie ich hoffte, beifällig und ruhig klang und nicht wie der klägliche Versuch Shawn auf ein Thema zu führen, das ihn alles andere vergessen ließ. Shawn schnaubte beinahe belustigt. „Deine Kräfte mit meinen zu vergleichen, ist, als würdest du einen Knallfrosch und eine Atombombe in eine Schublade packen!“, lachte er und ich gratulierte mir innerlich dazu, dass ich sein Interesse geweckt hatte. Ich überhörte die Beleidigung und setzte ein unverständliches Gesicht auf. „Warum?“, fragte ich etwas dümmlich. Shawn schlenderte zum Spiegel und legte eine seiner bleichen Hände auf die klare, kühle Oberfläche des Glases. Immer noch kein Spiegelbild. Es war unheimlich, ihn nicht im Glas sehen zu können, während ich mich selbst klein und verloren darin wiederspiegelte. Ich fragte mich, ob in den Parallelwelten, von denen Shawn gesprochen hatte, ich wirklich und wahrhaftig alleine vor dem Spiegel stand – in einer Welt, in der Shawn nicht mehr existierte. War mein gespiegeltes Gesicht in diesen Welten genauso von Angst und Sorge gezeichnet wie das meine? Wovor würden sich diese Chestnuts fürchten? Was konnte es in diesen Welten schreckliches geben, wenn Jake doch nicht dem Tode geweiht war, wie hier? „Nun“, sagte Shawn und seine schneidende Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Zum einen verstehe ich meine Kräfte und ihre Herkunft. Allein das lässt mich schon in einer völlig anderen Liga spielen als du!“ Er lächelte süffisant. „Du hingegen hast seine Kraft immer einfach hingenommen, ohne sie zu hinterfragen. Wissen ist Macht, Verity. Und das bedeutet, dass niemand mächtiger ist als ich!“ Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber während ich seinen Hinterkopf beobachtete, wusste ich, dass in diesem Moment wieder dieser irre Ausdruck durch seine Augen huschen musste. Vielleicht war Wissen Macht, aber sie war definitiv zu viel für ihn. Ich war mir nicht sicher, ob sein Körper sie halten konnte. Ob sein Geist sie halten konnte. „Du bist wahnsinnig...“, sagte ich nur noch. „Und du beginnst langsam, mich zu nerven!“ Shawn fuhr herum. Seine Augen funkelten tatsächlich mit so viel Wahnsinn, wie ich es mir vorgestellt hatte. Er ging mit zügigen Schritten durch den Saal auf mich zu und ich wich erschrocken einige Schritte zurück. Ich hatte ihn nicht so wütend machen wollen. War mein Plan nach hinten losgegangen? „Ich...“, setzte ich an, aber Shawn stoppte plötzlich und bückte sich. Ich folgte verwirrt seinen Bewegungen und dann sah ich, nach was er griff. Meine Baby Eagle. Als er sich aufrichtete, hielt er die schimmernde Waffe in den Händen und ich zuckte bei diesem Anblick zusammen. Wie hatte ich so unachtsam sein können? Warum hatte ich sie nicht früher aufgehoben? Und was jetzt? Wollte er mich mit meiner eigenen Waffe erschießen? Gab es etwas Würdeloseres? Ich wich noch einige Schritte zurück und es fühlte sich falsch an, vor meiner Baby Eagle Angst zu haben. Es war, als fürchtete ich mich vor meinem eigenen Schatten. „Du bist ein schreckhaftes Ding...“, murmelte Shawn und es klang beinahe wie ein leiser Singsang; wie der kranke Abklatsch eines Kinderliedes. „Jung und töricht. Genau wie dein Freund. Dein junger, törichter Freund...“ Shawn hatte mich bis zur Wand zurückgedrängt, die den hohen Fenstern und dem Balkon gegenüber lag. Ein kalter Windhauch, der durch die offenen Fenster hereinkam, schien ihn zu unterstützen – drückte mich gegen die Wand, als würden selbst die Elemente diesem Irren zu gehorchen. Es war die Stadt. Sie war krank, verseucht. Infiziert von dem Virus namens Shawn. Die Stadt war gegen uns gewesen. Vom ersten Tag an. Jake hatte es gemerkt und ich hatte es nicht wahrhaben wollen. Die Stadt hasste uns, weil Shawn uns hasste. Er war die Stadt. „Du weißt nichts über Jake. Selbst, wenn du glaubst, noch so viel zu wissen und wenn du die Legenden kennst und wenn du weißt, was er denkt und sagt und tut. Du kennst ihn nicht. Du wirst ihn nie kennen. Und er wird dich töten!“ Shawn lachte. Er hielt die Waffe immer noch in seiner Hand und strich mit der anderen sanft über das glänzende Metall. „Eine schöne Rede. Wunderschön...“, sagte er und seine Stimme triefte vor Spott. „Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er herkommen wird, um dich zu holen. Und wenn er das tut, werde ich ihn töten. Und du kannst nichts dagegen tun, Verity. Rein gar nichts!“ Er tippte mir mit dem Lauf der Waffe vor die Brust und ich hielt den Atem an. „Es wird nicht dazu kommen...“, sagte ich mehr zu mir selbst, als zu Shawn. „Das hier ist dein letzter Tag. Der letzte Tag, an dem du Menschen verletzen kannst...“ „Achja?“ In Shawns Stimme schwang eine gefährliche Ungeduld mit, die ich schon vorher von ihm gehört hatte. „Und wer wird mich davon abhalten, jetzt dich zu verletzen?“ „Ich werde das!“, erklang eine Stimme wenige Meter hinter uns. Shawn fuhr herum und ich duckte mich zur Seite, um aus seiner Reichweite zu sein. Mein Blick wanderte zur Tür des Saals und mein Herz blieb für einen Moment stehen. Jake. In mir kämpften Freude und Sorge miteinander, als ich ihn im Türrahmen stehen sah. Er sah müde aus, abgekämpft. Auch auf seinem Gesicht erkannte ich seine gemischten Gefühle. Die Erleichterung mich lebend gefunden zu haben und die Verwirrung über den Anblick, der sich ihm bot. „Das ist kein Vampir“, sagte er nüchtern und mein Blick folgte dem seinen. Shawn stand in der Mitte des Saals. Seine Augen hielt er auf Jake geheftet und der Griff um meine Baby Eagle hatte sich so verstärkt, dass seine Knöchel weiß hervorstachen. „Jake...“, sagte ich, aber meine Stimme war so leise und schwach, dass ich es selbst kaum hören konnte. „Das ist kein Vampir“, wiederholte Jake und runzelte die Stirn. Sein Blick huschte zwischen mir und Shawn hin und her und ich konnte ihn förmlich denken hören. „Jake Dawson!“, rief jetzt Shawn aus und wir sahen wieder auf ihn. „Der große Vampirjäger!“ Seine Stimme sollte spöttisch klingen, aber es gelang ihm nicht wirklich, die nötige Abneigung hineinzulegen. Mir wurde bewusst, dass er Jake nicht so erwartet hatte. Er war überrascht worden und ich sah in seinen Augen, dass er es nicht mochte. „Chestnut...“, sagte Jake jetzt und ignorierte Shawn völlig. Er sah mich an und bei dem Anblick seiner traurigen Augen, begann ich wieder zu weinen. „Es tut mir Leid, Jake!“, schluchzte ich und wollte auf ihn zulaufen, aber ein wohlbekanntes Geräusch, ließ mich auf der Stelle stehen bleiben. Shawn hatte die Baby Eagle entsichert und hielt den Lauf auf meinen Kopf gerichtet. „Stehen bleiben, Verity!“ Jake runzelte die Stirn und warf mir einen verwirrten Blick zu, aber auch er wagte es nicht, sich zu bewegen. „Was soll das?“, fragte er, aber es war mehr an mich gerichtet, als an Shawn, der die Waffe immer noch auf mich gerichtet hielt. „Er will uns töten...“, sagte ich. Ich konnte nicht aufhören zu weinen und versuchte verzweifelt, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Jakes Stirn glättete sich mit einem Mal und er nickte langsam. „Ja, das will er wohl...“ „Was willst du jetzt tun, Jäger? Willst du ihr Leben aufs Spiel setzen? Was wirst du tun?“ Shawn lachte. Er amüsierte sich köstlich, denn er hatte die Lage wieder unter Kontrolle. Jake warf mir einen Blick zu und mein Herz blieb stehen, als ich in seine Augen sah. Er warf mir diesen entschuldigenden Blick zu, der mehr als tausend Worte sagte und dann tat er etwas, was weder Shawn noch ich erwartet hatten. Er tat einen Schritt nach vorne. Shawn riss im selben Moment die Waffe herum, in der ich begriff, was Jake vorhatte. Der Blick, der Schritt. Die Frage war nicht, ob er mein Leben aufs Spiel setzen würde, sondern wie viel er dafür geben würde, es zu retten. „Es tut mir Leid, Chestnut...“ „Jake! NEIN!“ Mein Schrei war vergebens. Shawn drückte den Abzug und mit einem furchtbaren Geräusch, das ich mein Leben lang nicht vergessen sollte, löste sich der Schuss aus meiner Baby Eagle. Jake keuchte als die Kugel in seinem Bauch einschlug und für einen schrecklichen Moment lang schien die Welt still zu stehen. Er hatte seine Arme in die Luft gerissen, wie ein Kind, das sich beim Spiel ergibt, und einer seiner Füße schnellte nach vorn, als die Wucht des Schusses ihn zurückwarf. Mir entrang ein unartikulierter Schrei des Entsetzens und der Wut und ich stürzte nach vorn. Ein grausames Lächeln der Genugtuung umspielte Shawns Lippen als er erneut abdrückte. Diesmal traf die Kugel Jake direkt unterhalb der Brust und ein Heulen kam aus seiner Kehle. Ich kreischte und rannte auf Jake zu. Er drehte seinen Kopf zu mir und ich konnte sehen, wie viel Anstrengung es ihn kostete. Sein Gesicht war aschfahl. Seine Augen glitzerten und in diesem Moment las ich mehr aus ihnen, als ich in meinem ganzen Leben je erfahren hatte. Es war eine letzte Nachricht. Es ist vorbei. Mit einem lauten Knurren aus den Tiefen seiner Brust rappelte Jake sich auf und sah Shawn an. Und ich glaube, genau in dieser Sekunde, erkannte dieser, dass er Jake unterschätzt hatte. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden und einer Maske der Ungläubigkeit gewichen, als Jake begann zu rennen. Auf ihn zuzurennen. Es war vorbei. Es geschah in weniger als zwanzig Sekunden. Jake traf Shawn mit einer Kraft, die ich niemals für möglich gehalten hatte. Er hatte den Kopf gesengt und die Arme angewinkelt, so dass seine Ellebogen Shawn direkt in die Brust trafen. Er riss ihn mit sich, durch den Saal, durch das offene Fenster. Mit einem Aufschrei wurde er gegen das niedrige Geländer seines Balkons geworfen und ein lautes, scharfes Knacken verriet mir, dass Jake ihm die Beine gebrochen hatte. Die Waffe schleuderte aus seiner Hand und landete irgendwo in der Nähe des Spiegels, wo sie kreischend über den Boden schlitterte. Bevor er überhaupt die Gelegenheit hatte zu reagieren, war er auch schon rücklings über die Brüstung gestürzt und aus meinem Blickfeld verschwunden. Ein Schrei entwich meiner Kehle und ich stürzte nach vorn, doch er war zu spät. Für eine Sekunde schien Jake noch das Gleichgewicht am Rande des Balkons zu halten, doch sein eigener Antrieb war zu stark gewesen. Er schrie nicht, doch er fiel. Meine nach vorn schnellende Hand griff ins Leere. Ein dumpfer Knall ertönte aus der Tiefe. „JAKE!!“ Es ist vorbei. Kapitel 12: Colorblind ---------------------- 12. Kapitel Colorblind Er starb nicht in meinen Armen wie man es in einem Buch oder in einem Film erwarten würde. Keine romantische, tieftraurige Melodie im Hintergrund. Kein strömender Regen, der die Dramatik unterstrich. Als ich unten bei ihm ankam war er schon tot. Er lag einfach da. Ich ließ mich neben ihn fallen und legte ungläubig meine Hände auf seine Brust, in der sein Herz nie wieder schlagen würde. Unglaublich schnell sickerte das Blut aus der Schusswunde in seinem Bauch und durchnässte seinen Sweater innerhalb von Sekunden. Doch ich starrte nur auf die dünnen Rinnsale von Blut, die aus seinem Ohr und seinem Mundwinkel liefen. Sein Mund war leicht geöffnet – als wäre er erstaunt über seinen eigenen Tod. In dieser Sekunde dankte ich Gott dafür, dass seine Augen geschlossen waren. Laute besorgte Rufe ertönten von allen Seiten als die Bewohner der umliegenden Häuser auf die Straße stürmten. Die finalen Schüsse und meine Schreie schienen sie aus ihrer Lethargie gerissen zu haben. Vielleicht lag es auch nur daran, dass Shawn ebenfalls tot war. Erst jetzt bemerkte ich ihn. Er lag nur wenige Meter von Jake entfernt und sein Genick schien gebrochen. Er war tot, doch nichts Positives regte sich in mir. Nichts war mir in diesem Moment mehr egal. Eine Frau hinter mir kreischte laut und hoch. Aus irgendeinem Grund dachte ich daran, dass dieser Schrei das lebendigste und wirklichste Geräusch war, dass ich je von einem Einwohner Caven’s Hills gehört hatte. Jemand packte mich forsch am Arm und zog mich auf die Beine. Zwei stechend blaue Augen starrten mich und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Instinktiv wich ich zurück. Der Mann mit den blauen Augen schrie und fragte mich immer wieder wild gestikulierend etwas, das ich nicht verstand. In meinem Kopf rauschte es. Der Mann riss an meinen blutverschmierten Händen. Jakes Blut. Er ist tot. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in Magengrube. Er war unwiederbringlich fort. Jake, mein Partner, mein Freund, war tot. Und doch hatte sich nichts verändert. Warum hatte sich die Welt nicht aufgehört zu drehen? Warum schlug mein Herz noch? Seine Leiche auf dem Boden und dieses unglaublich schwarze Loch, die unglaubliche Leere, die er in mir hinterlassen hatte, erinnerten mich daran, dass nichts so war wie zuvor. Und der Schmerz beim Atmen, gerade weil ich noch atmete... Wieder stiegen mir heiße Tränen in die Augen und hinterließen ätzende Spuren auf meinen Wangen. Etwas erstaunt ließ der Mann von mir ab. Ich fiel auf die Knie und krallte mich mit den Händen in Jakes Sweater fest, der voll mit noch warmen Blut war. „Jake...“, wimmerte ich leise. „Warum tust du mir das an?“ Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und ich riss meinen Blick von Jakes bleichem Gesicht um aufzusehen. Der blauäugige Mann sah mich verwirrt an. „Jake?“ Seine Stimme war unsicher und leise. „Jake Dawson?“ In der Ferne heulten Polizeisirenen. Jemand musst sie gerufen haben. Ganz langsam begann ich zu nicken. Der Mund des Mannes verengte sich zu einem dünnen Schlitz und er zog mich erneut auf die Beine. Ich ließ nur widerwillig von Jake ab. „Was soll das?“, rief ich und schüttelte ihn ab. „Wer sind sie?“ Die Sirenen kamen näher. „Sie kennen mich nicht, aber ich weiß wer sie sind! Mein Name ist Benjamin Stroker!“ In meinem Gehirn regte sich etwas, doch ich sah ihn weiterhin verständnislos an. „Was wollen sie von mir?“ „Ich bin der Freund von Drake Dawson!“ Seine Stimme wurde leiser, aber nachdrücklicher. Ich verstand langsam. Der Mann vom Foto auf dem Kaminsims! Ich nickte leicht und sah wieder hinunter auf Jake. Doch Benjamin ließ mich nicht. Er packte mich am Arm und schob mich bestimmt von Jakes Leiche fort. „Du musst hier weg, Mädchen!“ Seine Stimme war eindringlich, doch ich riss meinen Arm zurück. „Was wollen sie von mir? Lassen sie mich in Ruhe!“ Ich fiel wieder auf die Knie und packte Jakes Hand, die immer kühler wurde. Ich wollte nicht von ihm fort. Ich wollte nicht, dass man uns trennte. Er war alles, was mir geblieben war. Benjamin hockte sich hastig neben mich und legte mir wieder eine Hand auf die Schulter. Ich hätte am liebsten geschrieen. Warum konnte er nicht einfach verschwinden? Warum konnten sie nicht alle gehen? „Lass ihn los. Das ist nicht mehr Jake; nur noch seine leere Hülle! Komm mit mir! Du kannst hier nicht bleiben. Die Polizei wird gleich hier sein! Was willst du denen erzählen? Für die sieht es doch so aus, als hättest du die beiden getötet!“ Ich dachte an meine Baby Eagle, die noch voll von meinen Fingerabdrücken war und von der zwei Kugeln in Jakes totem Körper steckten. Ich sah Benjamin an und wieder liefen Tränen meine Wangen hinunter. „W-Was soll ich tun?“, fragte ich bebender Stimme. „Wo soll ich hin?“ Ich fühlte mich wieder klein und hilflos. Wie damals, an jenem Tag vor fast sechs Jahren... „Ich bringe dich zu Drake. Dort kannst du erst mal bleiben. Ich regle dann alles weitere!“ Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie genau er das alles regeln wollte und stand langsam auf. Meine Beine waren wie aus Blei und ich hätte mich am liebsten wieder hingesetzt. Doch Benjamin war unbarmherzig. Er zog mich hinter sich her und drängte sich durch die Menge, die sich langsam um die beiden Leichen gebildet hatte. Schon nach wenigen Metern wurde mir der Blick auf Jake von den Leibern der gaffenden Bürger Caven’s Hills versperrt. Es war das letzte Mal, dass ich Jake in meinem Leben sah. Ich wusste nicht, wie wir es zu Drakes Haus geschafft hatten. Ich hatte keinerlei Erinnerung an die Dinge, die auf dem Weg zu dem kleinen weißen Gebäude mit dem ordentlichen Vorgarten passiert waren. Was ich gesagt oder ob Benjamin mit mir geredet hatte. Ich hob meine Augen erst, als wir vor Drakes Tür standen und Benjamin neben mir Sturm klingelte. Er hatte eine Hand auf meiner Schulter, als ob er fürchtete, dass ich jede Minute flüchten könnte. Er hatte lange, kräftige Finger und an der Art, wie er sie mir in die Haut grub, ahnte ich, wie angespannt auch er war. Ich spürte den Schmerz kaum. Es war eher ein entfernter Druck auf meiner Schulter – nichts verglichen mit dem Schmerz in meinem Inneren. Benjamin hielt seinen Daumen auf die Klingel gedrückt und das laute Schellen durchdrang meinen Körper bis aufs Mark. Ich musste zusammengezuckt sein, denn Benjamin warf mir einen verwirrten Blick zu und nahm dann die Hand von der Türklingel. Quälend langsam verstrichen die Sekunden bevor vor uns die Tür aufgerissen wurde. Drake sah besser aus als bei unserem letzten Zusammentreffen. Er hatte etwas Farbe im Gesicht und auch die Ringe unter seinen Augen waren verschwunden. Er sah Jake nicht mehr ganz so ähnlich, doch sein Anblick versetzte mir trotzdem einen Stich in mein Herz. Ich wimmerte leise wie ein verletztes Tier und die Tränen schossen mir in die Augen. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden – egal wie sehr es auch schmerzte. Ich wollte Drake seinen albernen Rollkragenpullover vom Körper reißen und ihn zwingen eins von Jakes alten T-Shirts zu tragen. Ich wollte nicht, dass er aussah wie Jake. Und gleichzeitig wünschte ich mir nichts sehnlicher. Als Drake sich mir zuwand, schlug ich eine Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der ihn mir aufstieg. Es waren Jakes Augen. Verwirrt, verängstigt, aber immer noch Jakes Augen. Endlich schaffte ich es, den Kopf zu senken. Ich wollte nicht so masochistisch sein. „Chestnut? Ben? Was geht hier vor?“ Drakes Blick huschte zwischen mir und Benjamin hin und her. „Drake...“, begann Benjamin, doch seine Stimme brach und er sah zu Boden. Es war das erste und letzte Mal, dass ich ihn so verletzlich und unsicher sah. Doch er hatte sich schnell wieder gefangen und schob mich an Drake vorbei ins Haus. Seinen Griff um meiner Schulter lockerte er nicht für eine Sekunde. „Was ist passiert? Benjamin!“ Drakes Stimme klang nun beinahe hysterisch, als er uns durch den Flur und ins Wohnzimmer folgte. „Wo ist Jake? Was soll das alles?“ Benjamin ließ mich los und beförderte mich mit einem leichten Stoß in Richtung Sofa. Ich ließ mich auf die ledernen Kissen fallen und vermied Drakes fragenden, beinahe panischen Blick. Benjamin griff nach Drakes Arm und zog ihn sanft, aber bestimmt an sich. Die Umarmung wirkte auf eine seltsame Art grotesk. Benjamin war ein steifer Mensch und so wie Drake sich an ihn klammerte, schien er ein kantiges Stück Holz zu umarmen. Nur mit einer Hand strich Benjamin seinem Freund beruhigend über den Rücken. Ich wagte einen Blick auf Drakes Gesicht, auf dem sich Panik und Verwirrtheit wiederspiegelten. Er war bleich geworden und er blinkte so häufig, dass ich vermutete, dass er die Tränen nur mit Mühe zurückhielt. Etwas in seinen Augen sagte mir, dass er bereits wusste, was passiert war. Doch ein kleiner, masochistischer Teil von ihm wollte es hören. Er wollte die Worte von mir hören. „Er ist tot, Drake...“, sagte ich und meine Stimme klang stumpf und erstickt. Erst jetzt spürte ich den dicken Kloß in meinem Hals. Etwas in Drakes Blick brach und ich senkte meine Augen, um seine Reaktion nicht sehen zu müssen. Ich hörte seinen markerschütternden Schrei und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er in Benjamins Armen zusammenbrach. Ich hatte in meinem Leben mit Jake viele Tote gesehen und noch mehr Angehörige erlebt, die trauerten. Drakes Schrei war nicht der erste dieser Art, den ich hörte. Und doch hatte sein Schmerz und seine Wut und sein Unglauben etwas an sich, das sich tief in mein Herz stieß. Denn seine Pein und seine Verwirrung waren auch meine und anders als bei all den zu beklagenden Opfern der letzten Jahre, war Jake ein Teil von mir gewesen. Er war ein Teil von uns beiden gewesen. Nun war er fort und er hatte uns etwas genommen, das vielleicht nicht überlebensnotwendig für uns war, aber uns doch verkrüppelt und unvollständig zurückließ. Ich hatte einmal gelesen, dass Delfine bewusst atmen müssen. Ihre Atmung wird nicht wie beim Menschen durch den Atemreiz gesteuert und wenn sie unglücklich sind, können sich einfach aufhören zu atmen. Das ist die einfachste Form von Selbstmord. Ich hatte unseren Atemreiz immer als gegeben betrachtet. Das Atmen als etwas Selbstverständliches. Doch als ich unter der Decke von Drakes Gästebett lag, wurde mir bewusst, wie schwierig Atmen sein konnte. Es schmerzte. Der Gedanke daran, dass Jake nicht mehr atmete und ich es noch tat, machte es beinahe unerträglich für mich, die Luft einzusaugen und meinen Brustkorb für den einströmenden Sauerstoff zu weiten. Das Wissen und die Trauer lagen so schwer auf meiner Brust, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich musste bewusst atmen. Langsam und vorsichtig. Und ich fürchtete mich vor dem Einschlafen, denn falls ich nicht mehr darauf achtete, würde ich ersticken. Ich würde einfach aufhören zu atmen. Es war eine billige Ausrede, um meine Augen offen zu halten. Ich hatte Angst vor den Bildern, die meine Erinnerung in der Dunkel projizieren würde. Ich hatte Drake noch lange im Nebenzimmer schluchzen hören können. Seine und Benjamins Stimmen waren zwar nur als leises Nuscheln zu verstehen, doch ich hörte den tröstenden Ton Benjamin, wenn ich angestrengt lauschte. Er war anders, wenn er mit Drake allein war. Nicht so kalt und distanziert, wie ich ihn sah. Ich war mir nicht sicher, ob es ihm gelungen war, Drake zu beruhigen, aber irgendwann um zwei Uhr herum wurde es ruhig im Nebenzimmer und eine kalte Stille legte sich über das Haus – nur unterbrochen von dem Knacken der Rohre in den Wänden. Ich strampelte mir die Decke vom Körper und stand vorsichtig auf. Die Haut meiner Wangen fühlte sich heiß und entzündet an und ich wusste, dass sie vermutlich ganz rot vom Weinen waren. Mit langsamen Schritten ging ich hinüber zum einzigen Fenster des kleinen Raumes, der wie der Rest des Hauses in hellen Farben gehalten war. Ich wollte Drake nicht durch das Knartschen der Bodendielen wecken. Das Fenster sah hinaus auf die Straße, die jetzt nur schwach erleuchtet von den Straßenlaternen, vor mir lag. Es musste Neumond sein, denn abgesehen von diesen Lichtern, war die Nacht pechschwarz. Die Cohen Road lag etwas abseits der Hauptstraßen von Caven’s Hill und bis auf einen Polizeiwagen am frühen Abend hatte ich kein Auto die Straße entlang fahren gesehen. Drake und Benjamin hatten erwartet, dass noch am selben Tag die Polizei vor dem Haus auftauchen würde. Zwar trug Jake niemals einen Ausweis bei sich, aber die Ähnlichkeit zu Drake war unübersehbar. In einer solch kleinen Stadt musste jemand Jake als Drakes Bruder erkennt haben. Aber es kam niemand. Ich legte eine Hand auf die kühle Steinplatte des Fensterbretts, das feucht vom Kondenswasser war. Das Haus war trotz seiner eindrucksvollen Ausstattung schlecht isoliert. Das Wasser zog in schmalen Bahnen über die beschlagenden Fensterscheiben. Ich blickte durch das Fenster und starrte auf die Straße. Die Welt da draußen schien grau – durchzogen von dem gelegentlichen gelblichen Licht der Straßenlampen. Es war eine kranke, fieberhafte Färbung, in der sich die Cohen Road zeigte und mir stiegen wieder die Tränen in die Augen. Das Loch, das Jakes Tod in mir hinterlassen hatte, lag in der Höhe meines Solar Plexus und jeder Atemzug schmerzte mich mehr, als ich es ertragen konnte. Ich senkte den Kopf und biss mir auf die Unterlippe, um ein lautes Schluchzen zurückzuhalten. Meine Hände krallten sich an der kalten Fensterbank fest. Warum weinte ich? Warum trauerte ich so? Es musste mir doch klargewesen sein, wohin unser Lebensstil führen würde. Es war schließlich nicht so, als hätten wir in unserem Job eine besonders hohe Lebenserwartung. Von der Sekunde, in der Jake mich zum ersten Mal traf und mich darüber aufklärte, welch ein Leben er führte und was meine Bestimmung sein sollte, musste mir doch klargewesen sein, dass einer von uns sterben würde. Früher oder später musste einer von uns getötet werden. All die Regeln, all die Vorkehrungen, all die langen Gespräche. Sie hatten mich nicht darauf vorbereiten können. Sie hatten mich nicht auf diesen Schmerz vorbereitet. Warum hatte mich nicht unsere erste Regel vor dem gewarnt, was unweigerlich kommen würde? Jake hatte mir schon bei unserem ersten Einsatz gepredigt, falls einer von uns es nicht bis Sonnenuntergang schaffen würde, müsse er vom anderen gepfählt werden. Kein Zaudern, keine Zweifel. Ein einfacher Stoß um die arme Seele vor der ewigen Verdammnis zu bewahren. Jake hatte keine Angst vor dem Tod gehabt, denn er wusste, was ansonsten auf ihn wartete. Natürlich würde kein Vampir in jemals töten. Es gab Schlimmeres, was einem nach dem Leben passieren konnte. Sie hätten ihn zu einem von ihnen gemacht. Die erste Regel lautete, dass kein Vampir in jemals töten konnte. Darum würde ich es tun müssen. Und obwohl nicht so geschehen war, wie erwartet, so war die Prophezeiung doch in Erfüllung gegangen. Jake war tot und ich hatte ihn getötet mit meiner Dummheit und meiner Eitelkeit. Wieder sah ich hinaus auf die graue Straße. Die Welt da draußen war schwarz-weiß. Ich war farbenblind. Ich wusste nicht, wie es weitergehen würde für mich. Wo sollte ich hin? Was sollte ich tun? Wie sollte ich mit der Schuld leben, die ich auf mich geladen hatte. Ich war keine starke Vampirjägerin. Ich war nicht einmal mehr die Partnerin eines starken Vampirjägers. Ich war nur ein Mädchen ohne Geld, ohne ein Zuhause und ohne ein Ziel. Und das Schlimmste an allem war, dass ich wieder allein war. Kapitel 13: Sunrise ------------------- Der nächste Morgen war mein letzter in Drakes Haus. Er gab sich Mühe, aber er und Benjamin konnten nicht verbergen, wie sehr sie mich loswerden wollten. Und auch ich war nicht gerade erpicht auf eine weitere Nacht unter einem Dach mit Jakes Bruder. Es war alles gesagt und die Stimmung war angespannt und eisig, als ich ihnen gegenüber auf der Couch saß. Drake lächelte schwach, doch seine Augen blieben matt. „Du solltest etwas essen bevor du gehst!“ Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Seine Stimme war Jakes so ähnlich... „Ich...Ich habe keinen Hunger...“ Meine Stimme klang brüchig und heiser, doch ich fühlte mich wirklich so, als würde ich nicht bei mir behalten können. Benjamin hatten die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich aus seinen blauen Augen unerbittlich an. Ich senkte den Blick um ihn nicht mehr sehen zu müssen. „W-Was wird mit ihm geschehen?“, fragte ich und musste kurz die Augen schließen. Der Schmerz in mir war unerträglich. Ein Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken und ich schluckte um nicht wieder brechen zu müssen. Benjamin warf Drake einen fragenden Blick zu, doch antwortete dann für seinen Freund. „Er wird vermutlich hier in Caven’s Hill begraben...“, sagte er und ich hörte aus seiner Stimme heraus, dass er sich Mühe gab, sanft und verständnisvoll zu klingen. Er tastete sich mit seinen Worten vorsichtig an mich heran um zu sehen, wie viel ich ertragen konnte. Ich nickte etwas zu prompt und heftig. Mein Versuch, Verstehen zu äußern, artete in ein Sinnbild meiner Hysterie aus. Benjamin zuckte fast unmerklich zusammen, als hätte ich laut und plötzlich gelacht. „Wo willst du jetzt hin ohne ihn?“, fragte Drake leise und die letzten beiden Worte hallten laut und lange nach in der Leere meines Herzens. „Ich bin nicht sicher...“, sagte ich schließlich und es kostete mich alle Kraft, die ich noch aufbringen konnte. „Vermutlich... mache ich weiter. Ich werde meine Schwester suchen...“ In jedem halbwegs guten Hollywoodfilm hätten Drake und Benjamin an dieser Stelle lächelnd vorgeschlagen, dass ich bei ihnen einziehen könnte und wir alle wie eine große, glückliche Familie leben und Jakes Tod verarbeiteten könnten. Doch das Leben war kein Hollywoodfilm und Drake nickte nur langsam. „Die Stadt ist ziemlich in Aufruhr wegen... der ganzen Sache. Du solltest vielleicht am besten sofort verschwinden, wenn du nicht noch in mehr Schwierigkeiten geraten willst!“, sagte Benjamin und aus seiner Stimme klang eher krasse Ehrlichkeit als Sorge. Das war seine Art, schätze ich. „Ja“, sagte ich und erhob mich vom Sofa. Es war eine verkrampfte Bewegung, als wäre ich vierzig Jahre älter als ich eigentlich war und mein leerer Magen wand sich über meinen heißen Gedärmen, die ich nur allzu deutlich in mir spürte. Als ich mich umdrehte, sah ich mein Spiegelbild in der dunklen Scheibe des Fensters. Mein Leben war wirklich kein Hollywoodfilm. Keine kunstvoll platzierten Kratzer, welche die natürliche, umwerfende Schönheit der Heldin nur noch unterstrichen. Ich sah aus, wie ich mich fühlte. Ausgekotzt. „Deine Tasche“, sagte Drake und deutete auf meine Tasche, die wie ein erlegtes Tier neben dem Sofa lag. Ich nickte und mein Blick fiel auf eine zweite Tasche, die wenige Meter daneben an der Wand lehnte. „Was ist das?“, fragte ich und Drake warf mir einen mitleidigen Blick zu, als wolle er sagen, dass ich wohl lieber nicht wissen wolle. „Jakes Sachen...“, sagte er dann doch leise und ich seinen Adamsapfel nervös auf und ab hüpfen. „Ich... Ich bin zum Motel gefahren und habe euer Zeug geholt...“ Ich nickte, doch Benjamin räusperte sich vernehmlich. „Willst du Jakes Sachen haben, Chestnut?“ Ich schüttelte den Kopf etwas zu heftig. „Nein!“ Es war beinahe ein Schrei. „Nein, wenn du willst, kannst du sie hier behalten...“ Ich sah Drake an und vermied bewusst Benjamins Blick. Ich konnte ihn nicht ansehen. Mit jeder Sekunde, die ich mit ihm in einem Raum verbringen musste, hasste ich ihn mehr. Drake nickte nur abwesend. „Ja, natürlich. Du könntest vermutlich eh nicht zwei Taschen mit dir herumschleppen, nicht wahr?“ Es war keine Frage. „Nur bitte“, sagte ich schnell und Drake sah mir zum ersten Mal wirklich in die Augen. „Bitte wirf sie nicht weg. Vielleicht...“ Ich stoppte, doch ich musste auch nicht mehr sagen. Wir wussten beide, dass, obwohl ich vielleicht im Moment nicht willkommen war, irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich nach Caven’s Hill zurückkehren würde. Es würde vielleicht Jahre dauern, doch der Tage würde kommen, unweigerlich. „Ich werde dich zu Busstation fahren. Mit der ganzen Polizei in der Stadt wäre es vermutlich zu auffällig wenn du allein gehst. Wahrscheinlich suchen sie dich auch schon...“ Drake versucht eine Lächeln. „Danke“, sagte ich, doch meinte es nicht wirklich ehrlich. Benjamin griff nach meiner Tasche und nickte Drake zu. „Wollen wir?“ Er konnte es nicht erwarten, mich auf dem Haus zu haben. Doch Drake schien andere Pläne zu haben. Bestimmt legte er eine Hand Benjamins, mit der er die Tasche hatte nehmen wollen. „Nein...“, sagte er. Seine Stimme war sanft, ließ aber keine Widerspruch zu. „Chestnut und ich fahren allein.“ Benjamin sah ihn an, als hätte Drake den Verstand verloren. „Das ist doch nicht dein Ernst!“, brauste er auf und schnaubte wütend. „Du kannst ihn ruhig mit mir alleine lassen, weißt du? Ich werde ihn schon nicht umbringen!“, keifte ich ihn an und Benjamin wirbelte herum, so dass er mich mit seinen erbarmungslosen Augen fixieren konnte, aus denen eine Mischung auf Verachtung und Wut sprach. „Ach wirklich? Woher wissen wir denn...“ „Es reicht, Ben!“, rief Drake und Benjamin stoppte mitten im Satz. Ich war dankbar dafür, obwohl ich doch eigentlich wusste, was er hatte sagen wollen. Mein Magen wand sich unter den Peitschenhieben seiner Worte. „Aber...“ „Es ist genug, Ben. Ich schaffe das schon, okay?“ Drake lächelte traurig, doch sein Freund schien nicht überzeugt. „Mir ist klar, warum du das tun willst. Aber du weißt ganz genau, dass dir das nicht gut tun wird. Es ist nicht, was dich auch nur in geringster Weise weiterbringen wird. Niemanden von uns!“ In seinen Augen schimmerte die Sorge. „Es wird dich nur verletzen!“ Drake schüttelte langsam den Kopf. „Es ist gut...“, sagte er leise und nahm die Tasche, nach der Benjamin zuvor gegriffen hatte. Ich hatte keine Ahnung worüber sie redeten, denn noch immer war ich von diesem Nebel des Unwirklichen umgeben, der nicht zuließ, dass mich etwas Reales berührte. Drake warf mir einen fragenden Blick zu. „Bist du fertig?“ Ich nickte und mein Blick fiel auf die Tasse vor mir, in der mein unberührter Kaffee kalt geworden war. Ich war mir sicher, noch nie etwas so Trauriges gesehen zu haben. Gewaltsam riss ich meinen Blick davon los. Gemeinsam gingen wir in den Flur hinaus. Benjamin folgte uns schweigend. Mit einer Bewegung, die schmerzhaft nach Gewohnheit schrie, griff Drake nach den Autoschlüsseln, die am Schlüsselbrett links von der Tür hingen. „Was... Was ist mit Jakes Wagen?“, fragte ich so plötzlich wie mir der Gedanke gekommen war. Es war wieder eine dieser Bemerkungen, die mir Schmerzen beim Atmen bereiteten und mir bewusst werden ließen, dass Jake wirklich tot war. Drake drehte den Autoschlüssel nervös in seiner Hand. „Du kannst doch nicht fahren, oder?“, fragte er, begleitet vom metallischen Klingeln der Schlüssel. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hatte nie Zeit und...“ Ich schwieg und senkte den Blick. Ich konnte ihm nicht erzählen, wie oft ich mich mit Jake über das Thema gestritten und er sich ständig über die Vorstellung von mir hinterm Steuer lustig gemacht hatte. Und wie er mich doch manchmal hatte fahren lassen, wenn die Strecke gerade und keine Polizei in Sicht war. Oder wie ich es einfach nur genossen hatte, neben Jake im Beifahrersitz zu sitzen und aus dem Fenster zu sehen, während er auf dem Lenkrad zu einem Lied aus dem Radio trommelte. Wie hätte ich es Drake erzählen können, wenn meine Worte es doch unwiederbringlich zu Vergangenheit hätte werden lassen? „Keine Sorge“, sagte Drake, der mein Schweigen falsch interpretierte. „Wir kümmern uns darum...“ Ich nickte und zwang mich zu so etwas wie einem Lächeln. Es fühlte sich an, als hätte ich meine Gesichtsmuskel seit Jahren nicht mehr benutzt. Die Fahrt in Drakes kleinem Volkswagen verlief schweigend. Ich sah aus dem Fenster, während Drake den Wagen durch die düsteren Straßen der verschlafenden Stadt lenkte. Es dämmerte grade erst, doch ich bemerkte, dass er sehr erpicht darauf war, nicht in die Nähe von Shawns Haus zu kommen. Wir sahen einen Polizeiwagen, doch niemand stoppte uns auf unserem Weg. „Wie ist er gestorben, Chestnut? Ich will es einfach nur wissen...“ Ich sah Drake an und verstand plötzlich, warum Benjamin nicht gewollt hatte, dass wir alleine fuhren. „Bist du dir sicher?“, fragte ich und sah ihn mit ernster Miene an. Er strich mit zitternden Händen über das abgegriffene Leder des Lenkrads und nickte ruckartig. „Es ist... Ich kann ihn nicht beerdigen, wenn ich nicht weiß, wie und warum er gestorben ist. Warum muss ich meinen Bruder zu Grabe tragen?“ „Ich habe ihn nicht getötet, falls du das meinst!“, rief ich und war selbst überrascht über die Angst, die dieser Gedanke in mir auslöste. Doch Drake schüttelte nur den Kopf. „Das weiß ich. Aber du warst bei ihm und...“ „Er hat ihn erschossen“, unterbrach ich ihn und versuchte dabei so ruhig zu bleiben wie möglich. Das Bild des fallenden Jakes schien sich in meinen Kopf gebrannt zu haben. Ich würde es mein Leben lang nicht vergessen. „Aber er hat nicht aufgeben, oder?“ Drakes Stimme klang schwach, mehr ein heiseres Flüstern. „Nein...“, sagte ich und das erste ehrliche Lächeln seit über 24 Stunden stahl sich auf meine Lippen. Es war ein Lächeln voller Stolz. „Er hat nicht aufgegeben und hat diesen Bastard erledigt. Er hätte niemals aufgegeben, auch wenn tausend Kugeln in ihm gesteckt hätten!“ Drake atmete auf und ich glaubte Erleichterung daraus zu hören. „Das... Das ist gut...“ Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und beim Anblick dieser wohlbekannten Bewegung wurde mein Gesicht wieder von Schmerz verzerrt. „Ich wollte nicht, dass er stirbt!“ Tränen stiegen mir in die Augen und ich sah noch, wie Drake mich entsetzt anstarrte. „Ich wollte nicht, dass er für mich stirbt!“ „Chestnut“, sagte er ruhig und ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. „Vielleicht hast du es nicht gewollt, doch ich denke, Jake wusste, was er tut...“ „Wie bitte?“ Ich warf ihm durch den Tränenschleier eine verwirrten Blick zu. Drake nickte nachdenklich. „Ich kannte Jake, verstehst du. Er hätte für niemanden sein Leben gegeben. Nicht für seine Brüder jedenfalls. Nur für dich, Chestnut. Für dich wäre er jederzeit gestorben...“ „Schwachsinn!“, herrschte ich ihn an und sah wieder aus dem Fenster. Drake seufzte und fuhr rechts ran. Ich hob den Kopf und erkannte, dass wir gegenüber des Busstops geparkt hatten. Eine rundliche Frau in einer geblümten Bluse hängte gerade die Schilder des Kiosks aus, an dem die Tickets für den Bus verkauft wurden. Es war vermutlich der einzige Laden in ganz Caven’s Hill, der schon um diese Zeit geöffnet war. „Ich muss dir etwas erzählen“, sagte Drake plötzlich und ich hörte aus seiner Stimme, wie viel Überwindung es ihn kostete. „Jake wollte, dass ich dir etwas gebe...“ Ich sah Drake verwirrt an. „Wie...“, begann ich, aber Drake unterbrach mich sofort. „Als ihr das erste Mal bei mir wart und Jake dich in die Küche geschickt hat, da hat er mit mir einige Dinge erzählt...“ Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich vor der Tür zum Wohnzimmer gelauscht hatte und an dem ich noch geglaubt hatte, mich vor Jake beweisen zu müssen. Ich konnte mich an jedes einzelne Wort der Unterhaltung erinnern, aber ich sagte nichts. Ich erwartete still, was Drake mir sagen wollte. Ich ahnte, was er sagen wollte und wappnete mich gegen die Bezeugungen von Jakes angeblicher Liebe zu mir. Doch was Drake dann sagte, brachte mich völlig aus dem Gleichgewicht. „Ich weiß nicht wieso, aber Jake hat Vorkehrungen getroffen“, sagte er und ich zog eine Augenbraue erstaunt in die Höhe. „Vorkehrungen?“ Drake nickte. „Ja, ich war mir zu der Zeit nicht sicher, warum gerade dann, aber er hat mir das hier für dich gegeben. Falls... falls ihm etwas zustoßen sollte...“ Drake schluckte und ich sah die Tränen, die wieder in seinen Augen aufstiegen. „Er sagte, er wollte, dass du es bekommst. Du würdest schon wissen, warum...“ Er zog einen zerknitterten Briefumschlag aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir mit zittrigen Händen. Ich nahm ihn und öffnete ihn langsam und vorsichtig. Es war das letzte Stück von Jake, das mir geblieben war. Was immer er mir auch hinterlassen hatte. Ich zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. Es war schwerer als es aussah und als ich es auseinander faltete, sah ich warum. Ein rechteckiges Stück Plastik war in die linke untere Ecke geklebt. Ich überflog den offiziell wirkenden auf dem Papier und runzelte verwirrt die Stirn. Wieder sah ich auf die Plastikkarte. „Eine Debitkarte?“, fragte ich laut und Drake nickte. „Zu einem Konto, das Jake für dich angelegt hat. Er hat all sein Geld dorthin verschoben. Es läuft alles auf deinen Namen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Wir hatten nie Geld. Wo soll das auf einmal herkommen?“ Mit dem Daumen strich ich über die glänzende Debitkarte, auf die mein Name gedruckt worden war. „Anscheinend schon“, sagte Drake und zuckte mit den Schultern. „Er sagte, du würdest nichts von dem Geld wissen. Aber es ist eine beträchtliche Menge. Genug, um ein neues Leben zu beginnen. Ich denke, das ist, was er für dich wollte. Ein Leben fern von all diesem Wahnsinn, dem ihr euer ganzes Leben hinterhergejagt habt...“ Ich strich erneut über die Karte und fühlte meinen Namen eingestanzt in das harte Plastik. Mir war klar gewesen, dass Jake Geheimnisse vor mir gehabt hatte, aber so etwas? Ich hatte es nicht erwartet und auch der Stich, den es meinem Herzen versetzte, kam plötzlich und unangemeldet. „Das ist der Busstop“, sagte Drake unvermittelt und erst als ich aufsah, bemerkte ich, dass er den Wagen rechts rangefahren hatte. Ich ließ meinen Blick über die leere Straße streifen und sah dann zu dem einzig beleuchteten Fenster. Es war das Schaufenster eines Reisebüros, in dem mit großen Pappausschnitten für die Buslinie geworben wurde, die aus der Stadt herausführte. Wir stiegen aus und nach der stickigen Luft im Wagen, traf mich die frische Brise wie ein Schlag ins Gesicht. Ich erkannte eine Gestalt am geöffneten Schalter, die sich beim Näherkommen als ältere Dame mit aufgetürmten, dunkel gefärbten Haare entpuppte. Ich hielt mich etwas im Hintergrund, nachdem wir den Laden betreten hatten, und überließ Drake das Reden. Die Frau warf mir einen interessierten Blick zu, aber sie schien keine Einwände zu haben. Sie wartete bis Drake ihr das Geld über den grünen Tresen hingeschoben hatte. Erst dann riss sie mit spitzen Fingern ein Stück Papier aus dem Drucker. Sie hielt es mir entgegen, so dass ich ein paar Schritte näher kommen musste, um es entgegenzunehmen. Ihre Fingernägel waren furchtbar lang und spitz und in diesem schrecklichen Rotton lackiert, der Hände bleich und ungesund aussehen lässt. Ich hielt das Ticket fest in meiner Hand und ging rückwärts zur Tür des Büros. Drake warf mir einen merkwürdigen Blick zu und bugsierte mich auf die Straße hinaus. „Sorry“, sagte er, als wir draußen standen, „der Bus kommt erst in 35 Minuten. Macht es dir etwas aus, alleine zu warten?“ Ich schüttelte den Kopf, obwohl sich in meiner Brust wieder das Loch auftat. Aber ich würde mich daran gewöhnen müssen, von nun an allein zu sein. Jake war fort und Drake konnte ihn nicht ersetzen. Ich war auf mich allein gestellt. „Es tut mir Leid“, wiederholte Drake, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob er immer noch die Busfahrzeiten meinte. „Ja, mir auch.“ Mit zittrigen Händen nahm ich das dünne Stück Papier, mein Busticket, in die Hand und begann sogleich es immer wieder zischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu ziehen. Drakes Offenbarung hallte noch immer in meinem Kopf nach und versuchte verzweifelt Sinn auf all dem zu ziehen. Warum hatte Jake solche Vorbereitungen getroffen, obwohl er sich seiner selbst doch immer so sicher gewesen war? War er nicht derjenige gewesen, dem kein Vampir dieser Welt etwas anhaben konnte? Ich starrte auf das Ticket in meiner Hand, Drake Worte im Ohr. Preis, Fahrziel und ein falscher Name standen ordentlich untereinander gedruckt. „Er sagte, er wollte, dass du es bekommt. Du würdest schon wissen, warum...“ Ja, warum denn nun? Weil er mich geliebt hatte? Oder etwa... Ich sah auf und in die Richtung, in die Drakes Wagen verschwunden war. „Ruf mich an, wenn du in New York bist!“, hatte er gesagt. „Sonst verlieren wir schon sofort am ersten Tag den Kontakt!“ Er hatte gelächelt und war ins Auto gestiegen. Ich ließ meinen Blick in die entgegengesetzte Richtung schweifen; die Straße entlang, die aus der Stadt hinaus nach Westen führte. Ich konnte sie mit meinen Augen bis zu einer scharfen Linkskurve verfolgen – alles, was dahinter lag, blieb mir verborgen. War es das, was Jake mir hatte sagen wollen? Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen. Ich erhob mich von der Bank, schob den Riemen meiner Tasche über die Schulter und begann zu laufen. Die Straße hinunter. Nach Westen. Das Busticket flatterte traurig im aufkommenden Wind – zurückgelassen am einsamen Busstop. Meine Schritte waren schwer, wurden jedoch mit jeder Sekunde leichter. Es war, als würde ein dunkler Schatten von mir genommen, schwerer als ein normaler Mensch ihn hätte tragen können. Ich ging am Straßenrand, obwohl kein Auto weit und breit zu sehen war, und meine Tasche schlug immer wieder gegen mein rechtes Bein. Ich spürte es kaum. Ich hatte keine Eile. Ich hatte die Linkskurve fast erreicht, hinter deren Biegung Caven’s Hill für immer verschwinden würde, wenn ich denn so wollte, als ich zum ersten Mal bemerkte, dass es heller geworden war. Mit großen Augen und leichtem Herzen drehte ich mich ein letztes Mal um und warf einen Blick auf die Stadt. Die feuchte, kalte Dunkelheit, die meinen gesamten Besuch überschattet hatte, wich ganz allmählich etwas, das ich, so glaubte ich, seit langen, dunklen Jahren nicht gesehen hatte. Die Sonne ging auf über Caven’s Hill. Hosted by Animexx e.V. 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