Blood Holidays von Angie_Cortez (Suicide Apartment) ================================================================================ Kapitel 5: Snow White Death --------------------------- -Snow white death- 18ter August Tony zog seine Jacke enger um seinen Körper. Er fror, die Nacht war klirrend kalt. Noch vor ein paar Stunden war es sommerlich warm gewesen, wie schnell das vergehen konnte. Hastig kramte er nach seinem Haustürschlüssel. Er nahm den Seiteneingang der Nr. 10, steckte den Schlüssel in das automatische Schloss und die Tür öffnete sich ganz von allein. Tony trat in den dunklen Gang. Hier war es nicht mehr so kalt. Er entspannte sich ein wenig und setzte seinen Weg fort, als er die Gestalt eines Mannes erblickte, der sich nicht weit von ihm von der Wand löste. Tony schaute ihn etwas benommen an. Etwas wie Angst kribbelte in seiner Brust. Er musste aufhören so panisch zu sein. Das war bestimmt nur irgendein Nachbar, nichts weltbewegendes … Er kannte die Umrisse des Typen bestimmt und würde ihn gleich erkennen … klar alles halb so wild. Und tatsächlich erkannte Tony die Umrisse auch. „Hallo Tony“, sagte der Mann und Tony war einen Augenblick völlig verwirrt. „Schön dich wieder zu sehen.“ Er kannte die Stimme, aber irgendetwas passte nicht, etwas passte überhaupt nicht. Hätte er nur das Gesicht erkannt, doch der Durchgang war dunkel und nur am Ende, im Hausflur, schimmerte Licht. Tony tastete nach einem Schalter. War hier einer? Er wusste es nicht, er wusste nur, dass er Licht brauchte. Seine Finger berührten nur die kühle Wand. „Wer bist du?“ fragte er, kam sich dumm vor dabei. Eigentlich wusste er es, ja, aber trotzdem, irgendetwas war falsch. „Du brauchst keine Angst haben. Ich bin es nur, William.“ Und es schoss Tony wie ein Pfeil durch den Kopf. Die Sprache! Er hatte keine Ahnung gehabt, dass William Deutsch konnte. Das hatte ihn irritiert. „Was … was machst du hier?“ stammelte Tony und starrte weiterhin nur die Dunkelheit an. „Ich wollte dich wieder sehen …“ Er ließ es klingeln. Noch einmal, noch einmal. Inzwischen musste es fast 10-mal geklingelt haben. Doch genau hatte Darrin nicht mitgezählt. Besorgt legte er auf, nur um dann noch einmal Tonys Handynummer einzugeben. Auch dort kein Lebenszeichen. „Was machst du da?“ Seine Mutter stand im Türrahmen und betrachtete Darrins schneeweißes Gesicht besorgt. Darrin schluckte. Wo war Tony? Wieso ging er nicht ran? Sein Mund schien wie ausgetrocknet. „Ich versuche Tony anzurufen“, sagte er und das Gesicht seiner Mutter wurde noch besorgter. Panik kroch durch seinen Körper, von den Händen, immer näher zum Herzen. Er ging in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Seine Hände hatten zu zittern begonnen. „Mein Gott“, seine Mutter sprang praktisch an seine Seite und legte die warme Hand auf sein Gesicht. „Aber Darrin, was ist denn? Du siehst krank aus. Soll ich einen Arzt holen …“ Darrin hörte nicht zu. Er hat ihn … Ja, es musste so sein. Er hat ihn und ich sitze hier während er vielleicht … Dieser Wahnsinnige hatte endlich sein Ziel erreicht, so musste es sein. Wie hatte er glauben können, dass Tony überreagieren würde? Er war so dumm! Nur wusste Darrin nicht, dass er nicht ganz richtig lag. Die Strecke bis zum Ziel war erst zur Hälfte zurückgelegt. Tony kam langsam zu Bewusstsein. Es war als läge er unter einer weißen Decke, die langsam immer durchsichtiger wurde. Sein Kopf tat weh und seine Arme … er konnte sie nicht bewegen. Tony stöhnte vor Schmerzen. Er zog die Beine an. Seine Füße streiften über himmlisch weiche Laken. Ja, das war schön. Wenn nur diese Schmerzen nicht gewesen wären. „Ganz ruhig, mein Schöner.“ Die Stimme fiel auf ihn herab, wie Federn. Weich und zärtlich. Ein Tuch, durchtränkt mit kaltem Wasser berührte seine Stirn. Das tat gut. Tony öffnete die Augen einen Spalt breit. Er wollte mehr von dem Wasser … er hatte Durst. Ja, schrecklichen Durst. Seine Augen fielen wieder zu. Der Kopfschmerz hämmerte, doch mit jeder liebevollen Berührung schwächte er etwas ab. „Möchtest du trinken?“ „Ja …“ Ein Klicken hallte in seinem Kopf. Er versuchte die Arme zu Bewegen, es tat weh und er stöhnte wieder. „Nicht so hastig.“ Jemand schob ihm einen Arm unter den Rücken und hob ihn erstaunlich leicht hoch, so dass Tony fast saß. Sein Kopf fiel gegen die Schulter des anderen. Ein angenehmer Duft ging von ihm aus. Glas streifte über seine Lippen, Wasser … Er trank, vielleicht etwas gierig, aber sein Durst verlangte es. Als kein Wasser mehr da war, versuchte er wieder die Augen zu öffnen. Ihm wurde schwindelig. Wieder der Kreislauf, sein Kreislauf war schon immer schwach gewesen. „Trink noch ein wenig, nur ein wenig.“ Und wieder gab es Wasser. Tony meinte zu spüren, wie es sich in seinem Körper ausbreitete. Dann fiel er zurück in die Kissen, so weich und so frisch. Die Müdigkeit wollte einfach nicht weichen und so fiel er wieder in tiefen Schlaf. William saß schon seit Stunden nur auf der Bettkante. Das Betäubungsmittel, dass er Tony verabreicht hatte, war wohl zu hoch dosiert gewesen. Wie konnte ihm nur so ein dummer Fehler unterlaufen? Was, wenn … aber nein, es war ja alles gut, Tony würde nur sehr lange, sehr benommen sein. Wie schön er war, wenn sein Gesicht so ruhig auf den weißen Kissen ruhte. Die Handschellen konnte er wohl vorerst vergessen. In seinem Zustand, würde Tony nicht einmal merken, wer hier neben ihm saß. William erhob sich und betrachtete die Einstichstelle an Tonys Arm. Sie war rot und etwas blau angelaufen. Er hatte Tony nicht wehtun wollen, aber was wäre ihm schon noch für eine andere Möglichkeit geblieben? Er hatte die Injektionsnadel einfach in Tonys Arm gerammt, wie er es bei dem Mädchen getan hatte, nur war es dieses Mal nicht sein Plan gewesen zu töten. William wandte sich dem Fenster zu, überprüfte die Schlösser und sah dann hinaus. Noch keine Spur von diesem Idioten Darrin. Ob er schlau genug war, auf die Idee zu kommen, dass sie hier waren? Und würde er allein kommen? William setzte darauf. Männlicher Beschützerinstinkt, gepaart mit einem gewissen Stolz und auch einem Hauch von … Eigentumsverteidigung. Der Plan würde aufgehen. „Darrin …“ Es war kaum ein Wispern, aber William fuhr zusammen, wie vom Blitz geschlagen. Er drehte sich zu Tony um, der immer noch betäubt auf den Kissen lag. Fast nackt. Die Bettwäsche war so weiß wie Schnee. „Darrin …“ William überkam die nackte Wut. Er hätte Tony schlagen mögen. Seine Hände zitterten, als er sie zu Fäusten ballte, doch die Wut versiegte langsam wieder, wenn er an seinen Plan dachte. Ja, bald würde dieser Name nur noch eine schattenhafte Erinnerung sein. Er umrundete Tonys wolkengleiches Lager und kniete sich auf den Boden. Bald bist du mein! Auf immer, bis zum Ende. Zärtlich strich er über Tonys Wange. MEIN! 20ter August Wieder brach der Abend an. William stand regungslos an demselben Fenster wie zwei Tage zuvor. Er hatte sich gegen die Wand gelehnt und sah wie zwei gelbe Scheinwerfer sich durch die Nacht schnitten. Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer, aber er versuchte nicht das Gesicht zu verziehen. „William! Was soll das? Was hast du denn vor?!“ William reagierte nicht. „Rede doch endlich mit mir!!“ „Sei ruhig“, sagte William, eindeutig angespannt und Tony begann an seinen Fesseln zu ziehen. Was war da draußen, was William so erschreckte? William kniff die Augen zusammen. Die Tür des Toyotas ging auf. Ja, er war es tatsächlich. Ein fieses Grinsen legte sich auf seine Lippen. William stieß sich vom Fenster ab und ging auf Tony zu. „Er ist da.“ Tony sah ihn verständnislos an, doch dann machte sich ängstliches Erkennen auf seinem Gesicht breit. „Ich kann dir nicht versprechen, dass es schnell geht, aber … das Resultat wird dasselbe sein.“ William beobachtete angespannt, wie sich Tonys Augen mit Tränen füllten. Sein Gesicht wurde zu einem Spiegel von Panik. Draußen trommelte der Regen gegen die Fenster. „Du wirst ihn nicht töten …“ beim letzten Wort begannen die Tränen zu fließen. „Ich werde!“ erwiderte William und spürte wieder die Wut aufwallen. Er durfte jetzt nicht unruhig werden. „Nein.“ Tony biss sich auf die Unterlippe, dass diese weiß wurde. „Nein, das wirst du nicht!“ „Ich werde es tun!“ „Ich werde dich hassen!“ Einen Moment herrschte schweigen. Man hörte einen dumpfen Knall von unten. Das Splittern von Glas. Eine Gänsehaut kroch über Tonys Arme. Williams Hände zitterten. Darrin trat wütend gegen die Eingangstür des Suicide Apartment. Diese flog Widerstandslos auf und knallte gegen die anliegende Wand. Darrin war sich nicht ganz bewusst was er tat, aber seine Wut und seine Angst waren so groß, dass er sie kaum ertragen konnte. Er durchmaß mit großen Schritten die Eingangshalle und zertrat eine zarte Glasvitrine, die dem ganzen Raum ein glitzerndes Ambiente verlieh. Die Scherben knackten unter seinen Füßen. „William du verdammter Scheißkerl! Wo bist du?! Komm endlich raus du feiges Schwein!!“ schrie Darrin, so laut, wie es ihm seine Stimme erlaubte. „Komm raus Wichser! Komm raus!!“ Tony schluchzte nur noch mehr, als er Darrins Schreie hörte. „Hör auf mit diesem Wahnsinn! Was gibt dir das, verdammt?“ „Du wirst mir gehören“, sagte William bestimmt und ruhig. Er löste Tonys Handschellen und lauschte Darrins Toben. Schnell und präzise knotete er Tonys Hände auf dessen Rücken zusammen. Die Fesseln waren aus weißen Stoffstreifen. Tony schauderte. Alles hier war weiß. Selbst er trug eine weiße Hose und ein weißes Hemd, dass er nie zuvor gesehen hatte. William musste es irgendwo für ihn erstanden haben. Während es unten ruhiger wurde schubste William Tony vor sich her in den Gang und bis zum oberen Absatz der großen Treppe zur Eingangshalle, die Tony und Darrin kurz vor Janas Tod zum ersten Mal betreten hatten. Beide, Tony und William starrten auf Darrin herunter. Darrin hob langsam den Kopf. Die Ruhe vor dem Sturm … -Flash Back- Tony und Darrin galten als unzertrennlich und das schon, zu Anfang der fünften Klasse. Es gab viele Leute, die darüber redeten, dass irgendwas an der Freundschaft der beiden Jungen unnormal sei. Sie stritten nicht, sie neckten sich nicht, sie tauschten viel sagende Blicke, die man keinem 10-jährigen zutraute. Ja, irgendetwas an ihnen war unnormal und niemals, niemals in der ganzen Zeit bemerkte ein Außenstehender einen Streit zwischen den beiden. Tony war ruhig und ein unheimlich hübscher Junge. Er ließ fast immer Darrin den Vortritt und der genoss seine Beschützerrolle. Sie hätten Brüder sein können, manchmal hielt man sie sogar dafür. Diese Tatsache wurde von den beiden Jungen stets belächelt. Und so wurden sie älter. So wuchsen sie heran und diese Beziehung wurde immer fragwürdiger. Allerdings kümmerte sich bald kaum noch jemand darum. Die Lehrer hatten sich daran gewöhnt, die Eltern genossen es fast. Es war nichts Unnormales an der Sache … Tony stupste Darrin an. Nur einen Meter neben ihnen stand der Biologielehrer und erzählte unaufhörlich über Biomembranen. Darrin wandte sich Tony zu und sah ihn fragend an. „Wie spät?“ flüsterte Tony und Darrin fischte sein Handy aus der Hosentasche. „Noch fünf Minuten“, beantwortete er die eigentliche Frage und grinste. „Bald geschafft.“ „Hast du schon für die Chemie Klausur gelernt?“ Darrin nickte bedächtig und streifte den Lehrer mit einem prüfenden Blick. „Ich auch!“, sagte Tony und lächelte. „Wollen wir heute Abend …“ begannen sie beide gleichzeitig und krümmten sich vor unterdrücktem Lachen. „Was hältst vom MAU?“ fragte Darrin. „LT“, erwiderte Tony bittend. „Komm schon, es ist mal wieder MAU oder ST dran!“ „LT, bitte, bitte …“ „Nein, MAU oder ST und da im ST heute Abend nichts läuft, ist das MAU am dransten.“ Tony tat einen Augenblick so als würde er dem Unterricht folgen und kaute dann auf seiner Unterlippe herum. „Kein Techno heute?“ fragte er. „Kein Techno, heute muss es rocken.“ Tony stemmte die Hände zwischen seine Beine auf den Stuhl und beugte sich zu Darrin vor. „Bist du dir gaaaaaanz sicher?“ „Todsicher.“ „Ich denke, damit schließen wir die Stunde. Schaut euch eure Aufzeichnungen zur nächsten Stunde genau an!“ Darrin fluchte leise und schmutzig. Tony grinste. „Schon wieder n scheiß Test“, brummte Darrin und machte eine Notiz in sein Hausaufgabenheft, während Tony begann einzupacken. „Jetzt brauch ich erstrecht guten handgemachten Rock.“ „Na gut“, sagte Tony und warf seine Tasche über die Schulter. Er ordnete die Kapuze an seinem Pullover und begann die Schnürsenkel an seinen Chucks neu zu binden. „Ich versteh dich nicht“, sagte Darrin. „Trägt man als Tekke nicht neonfarbene Hosen und Shirts? Du siehst aus wie …“ „Ein Emo, ich weiß“, sagte Tony und grinste ebenfalls. „Ich bin halt vielseitig.“ „Worauf du deinen süßen, kleinen Arsch verwetten kannst!“ sagte Darrin laut und bekam einen verwirrten Blick von einem Mitschüler. Tony lachte. Sie verließen den Raum und Darrin wischte seine Haare zur Seite. Tony steckte die Hände in die Taschen seiner Hose und sah noch einmal den Gang auf und ab. „Da ist Mia“, sagte Darrin und zog eine Zigarettenschachtel aus seiner anderen Hosentasche. Sie wirkte etwas gequält und platt, aber es befanden sich zwei intakte Zigaretten darin. Tony hielt die Hand auf und Darrin gab ihm eine. Gedankenverloren klemmte Tony sie hinter sein Ohr und ging betont lässig auf die hübsche Mia zu. Ein echtes Püppchen, sexy ohne Ende. Und doch keine von diesen Durchschnittsfrutten. Aber Darrin würde nicht behaupten, dass sie gar keine Frutte war. „Hi, Süße“, hörte er Tony sagen und die beiden umarmten sich. Darrin spürte etwas hinter sich vorbeizischen und streckte sein Bein aus. Wie vermutet legte sich der Eilige auf die Fresse und Darrin klatschte Applaus. „Och, das tut mir aber leid“, sagte er und musterte den Gefallenen genauer. Richtig getippt. Das war einer von diesen Notgeilen Spasties, die hinter Mia her waren und dafür Tony umgelegt hätten. „Leck mich!“ bekam er als Antwort und Darrin grinste. „Heute Abend bei dir, Süßer!“ Er ging mit langsamen Schritten auf Tony und Mia zu und stellte sich unauffällig daneben. „Fein, dann bis Montag. Schönes Wochenende, Kleine“, sagte Tony und grinste einnehmend. „Komm Darrin. Wir wollten noch zocken. Ich will eine Revanche.“ „Laaaaaaangweilig“, gähnte Darrin, obwohl er es kaum erwarten konnte. Tony zündete sich draußen vor der Schule seine Zigarette an. „Bald ist Studienfahrt“, bemerkte Darrin beiläufig, während er sich, wie selbstverständlich, Tonys Feuerzeug schnorrte. „Das ist die Gelegenheit sich mal wieder ordentlich voll laufen zu lassen.“ Darrin grinste wissend und strich sich über die Augenbrauen. Seine Zigarette schwebte gefährlich nah an seinen Haaren. „Aber ertrink mir nicht wieder.“ Tony schüttelte bedächtig mit dem Kopf während sie die Straße zum Steintor überquerten. Ihre Bahn würde in etwa 5 Minuten kommen. Tony zog an seiner Zigarette und sah Darrin an. Sein bester Freund, aber was für einer! Tony konnte sich nicht vorstellen, dass Darrin nicht sein bester Freund sein sollte. Wer sonst hätte seinen Platz belegen können? Niemand, wurde Tony klar und er lächelte. Darrin, der gerade nach einer Straßenbahn Ausschau gehalten hatte wandte sich wieder zu ihm um und erwiderte reflexartig das Lächeln. „Was denn?“ „Nichts“, meinte Tony. „Wie läuft es eigentlich mit Mia so?“ fragte Darrin unbekümmert weiter und trat jetzt endlich den Glimmstengel aus. „Langsam wird’s heiß“, gab Tony zu und biss sich auf die Unterlippe. Eine Geste, die anzeigte, dass er über irgendetwas nachdachte. Manchmal machte er sich auch Sorgen. Darrin hatte es noch nicht hundertprozentig analysiert, aber er war kurz davor. „Holla“, bemerkte Darrin und legte den Kopf schief. „Höre ich da etwa Selbstzweifel?“ Tony strich sich unbewusst die Haare aus den Augen und nickte, während er auf die zertretene Zigarette unter Darrins Schuh starrte. „Warum denn? Ey man Tony, du bist der heißeste Feger der Oberstufe, wieso machst du dir n Kopf?“ Darrin war verständnislos. „Ich hab doch noch nie n Mädchen angefasst“, sagte Tony und zuckte mit den Schultern. „Ich kann ja nicht mal küssen!“ „Reife Leistung“, sagte Darrin leise und betrachtete jetzt die Schienen. Tony sah ihn verstohlen an und begann wieder auf seiner Unterlippe zu kauen. „Darrin?“ Darrin sah ihn mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an. „Könntest du …?“ „Was könnte ich?“ „Könntest du es mir vielleicht …“ „Beibringen?“ Einen Moment herrschte angespanntes Schweigen. Keiner sagte etwas. Die Straßenbahn fuhr klingelnd in die Haltestelle ein und ohne ein weiteres Wort stiegen sie ein. Erst drinnen, als sie nebeneinander saßen, brach Darrin das Schweigen. „Das meinst du nicht ernst, oder?“ fragte er und klang höchst erheitert. „Doch eigentlich schon“, sagte Tony. „Ich meine … hey es geht nur darum, dass ich Angst habe es zu vermasseln. Mehr ist das ja nicht.“ Tony spürte eine Welle des Widerstandes in sich aufkeimen, bezwang sie aber schnell wieder. „Hast ja recht“, meinte Darrin nachdenklich. „Ist immerhin für einen guten Zweck. Aber hey, das bleibt unter uns, ja?“ Tony nickte zustimmend. Keine 10 Minuten später betraten sie die Wohnung von Darrins Eltern. „Keiner zu Hause“, bemerkte Darrin. Sie zogen die Schuhe aus und verzogen sich in Darrins Zimmer. Tony sah sich zufrieden um und schaute dann Darrin dabei zu, wie er seine Play Station in Gang setzte. Sie spielten, eine Stunde, ja dann schon zwei und das Versprechen war fast schon vergessen. Nach drei Stunden gab Tony auf. Er legte den Joystick beiseite und ließ sich rücklings auf dem Boden nieder. „Ich kann nicht mehr! Mir platzt gleich der Schädel!“ Darrin lachte. Ihm ging es auch nicht anders. Er ließ sich neben Tony nieder und sah ihn neugierig an. „Ich glaub das immer noch nicht“, griff er das alte Thema wieder auf und stützte den Kopf auf seinen Arm um Tony besser ansehen zu können. „Was denn?“ fragte Tony und sah zu ihm auf. Dieser Typ machte ihn wahnsinnig, aber so angenehm wahnsinnig. Irgendwie unheimlich. „Du hast Mia noch nicht geküsst?“ „Nein.“ „Ganz ehrlich?“ „Ja.“ Darrin schien nachzudenken. „Eigentlich ist es das einfachste auf der Welt“, sagte er und klang ein bisschen, wie ein Prophet dabei. Tony grinste. „Wirklich?“ „Na klar.“ „Dann zeig’s mir!“ Tony setzte sich schwungvoll auf und blickte nun von seiner Position auf Darrin herunter. „Bist du dir sicher, dass du es nicht bei Mia lernen willst?“ Dumme Frage. Tony schüttelte nur mit dem Kopf. Selbst wenn er Mia schon hundert Mal geküsst hätte … allein der Gedanke ließ seine Arme kribbeln. „Du darfst aber nicht lachen!“ sagte Tony während Darrin sich auch erhob. „Wieso sollte ich?“ Er schien einen Moment nachzudenken und sagte dann: „Also okay, es ist wirklich nichts dabei und ich mach das nur, weil du es bist. Okay?“ Sie sahen sich an, wie zwei Kinder, die etwas sehr Verbotenes vorhatten und Tony versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Hoffentlich vermasselte er es nicht. „Du musst einfach auf sie zukommen … jaaa, so und jetzt … ich weiß auch nicht … tu es einfach.“ Tony presste seine Lippen vorsichtig auf Darrins. Soweit schon mal nicht schwer, aber jetzt? Tu es einfach, das war wirklich leichter gesagt als getan. Und Tony war so nervös, er hoffte, dass Darrin nicht spürte, wie heftig sein Herz klopfte. Atemlos wich Tony ein Stück zurück. „Ich kann das nicht!“ sagte er und Darrin schüttelte als Antwort nur mit dem Kopf. Er zog Tony an den Schultern wieder zu sich heran, Tony schauderte. Dieses Gefühl würde er nie vergessen. Sein Herz pochte wild gegen seine Rippen. Darrin musste es einfach merken. Gleich würde er ihn bestimmt auslachen, aber dieser Kuss … ganz davon abgesehen, dass er nicht enden wollte … Tony hatte das Gefühl, er wurde intensiver …Bevor er sich dessen aber sicher sein konnte hörten sie das Klicken der Wohnungstür. Darrins Mutter war im Anmarsch. Und mit einer Plötzlichkeit, dass Tony schreien wollte, war es einfach vorbei. „Gar nicht so schlecht, für den Anfang …“ -Flash Back End- Tony schoss so viel durch den Kopf. Er spürte kaum noch wie er weinte. Die Erinnerungen an ihren ersten Kuss, den Tony so frech eingefädelt hatte, stachen wie Messer in seine Brust. Darrin war schon immer der einzige gewesen, den Tony gewollt hatte. William konnte tun was auch immer ihm einfiel, aber Tonys Herz war schon seit langem vergeben. „Da bist du ja endlich“, William war innerlich aufgewühlt, aber er hätte es sich nie anmerken lassen. Mit festem Griff hielt er Tonys linken Arm fest. Darrin zu ihren Füßen, schien vor Wut zu kochen. „Wenn du ihm auch nur noch ein Haar krümmst …“, die Stimme bebte vor Zorn. „Keine Angst“, sagte William ruhig. „Keine Angst, ihm wird nichts passieren, vielleicht solltest du dich um dich selbst sorgen.“ „Nein“, erwiderte Darrin. „Ich bin nicht so arrogant wie du! Nicht so von mir selbst eingenommen, dass ich mein Leben nicht für Tony aufs Spiel setzen würde!“ „Arrogant!?“ William wurde lauter und sein Griff um Tonys Arm fester. „Wieso arrogant? Meinst du ich habe nicht auch alles für Tony aufs Spiel gesetzt?! Ich habe für ihn getötet! Ja, nur für ihn!“ Darrin verengte die Augen. „Du feige Ratte. Für ihn getötet hast du! Glaubst du etwa, dass er das wollte? Du hast wehrlose Menschen getötet!“ „Glaub ja nicht, dass deine Puppe sich nicht gewehrt hätte!“ Tony warf sich mit einem Ruck zurück um William ins Taumeln zu bringen. Würde er weiter so auf Darrins Nerven herumtrampeln, nicht auszudenken! William stolperte ein paar Schritte, fing Tony aber noch auf, der fast gefallen wäre. Doch bevor er noch wirklich auf den Füßen stand spürte er einen brennenden Schmerz im Gesicht. Tony schrie leise auf. William hatte ihn geschlagen. Darrin stürmte die Treppe hoch. Tony landete auf dem Boden, als die anderen beiden zusammenstießen. Er hörte einen dumpfen Schlag und betete, dass es nicht Darrin war, der den abbekommen hatte. Mühselig, die Hände noch immer auf den Rücken gebunden, rollte sich Tony auf den Rücken und fluchte leise bei dem Versuch sich aufzusetzen. Wenn er nur seine Hände frei gehabt hätte. Er begann an dem Stoff zu zerren. Konnte es nicht sein, dass die Streifen einfach rissen? Hastig warf er einen Blick über die Schulter. Darrin stand mit dem Rücken zur Treppe. William wischte sich über die blutende Lippe und starrte mit glasigem Blick seine rot besudelte Hand an. Es war das erste Mal, dass er in diesem Spiel etwas abbekommen hatte. Währenddessen hörte Tony nicht auf an seinen Fesseln zu zerren. Seine Hände schwitzten. Hatte der Knoten sich wirklich gelockert, oder bildete er sich das ein? „Na was ist? Hast du gemerkt, dass du genauso bluten kannst, wie jeder andere auch?“ William belächelte Darrins Worte nur. Er trat einen Schritt zurück. „Tony gehört mir.“ „Tut er nicht!“ – „Tu ich nicht!“ William wirkte für einen Moment irritiert und sein Blick huschte zwischen Darrin und Tony hin und her. „Ihr werdet schon sehen.“ Er betrachtete Tony auf dem Boden. Tony schauderte unter dem scharfen Blick. Was William wohl gerade durch den Kopf ging? Es war unmöglich das zu erraten. William lächelte. Ob er Tonys Verwirrung erkannt hatte? Dann sah er wieder Darrin an, zuletzt die Treppe hinter Darrin. Tony begriff. „Darrin!!“ Zu spät. Als wäre Tonys Ruf ein Signal gewesen stürzte sich William auf ihn und stieß ihn heftig rückwärts. Darrin verlor den Halt und stürzte. Stufe für Stufe … bis er unten liegen blieb. Tony fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Seine Hände wurden eiskalt. Er begann zu frieren, gleichzeitig zu schwitzen. Nein, das war doch alles falsch, so war es nicht richtig … -Flash Back- Tony streckte sich. Freistunden alleine verbringen zu müssen war soo langweilig. Er sah auf seine Armbanduhr und seufzte. Darrin hatte noch gut 15 Minuten Musik. Wieso hatten die dummen Stundenplaner ihnen zwei unterschiedliche Musikkurse angedreht? Frechheit. Müde legte er den Kopf auf die Arme. Hier unten im Aufenthaltsraum (aka Keller) war es recht ruhig. Tony hatte sich in die hintere linke Eckte verzogen. Auf der rechten Seite saß ein Typ aus der 13ten, der ein Buch wälzte. Irgendeines von diesen Übergedrehten War Craft Dingern. Tony gähnte. Seine Hausaufgaben hatte er längst gemacht. Wieso hatte er denn verdammt noch mal nicht denselben Musikkurs wie Darrin? Das war doch echt zum … Tony setzte sich wieder gerade hin und sah sich um. 13 Minuten musste Darrin noch durchhalten, musste er selbst noch durchhalten. Er stand auf und verließ den Aufenthaltsraum. Der andere Kunde mit dem Buch registrierte das scheinbar überhaupt nicht. Tony ging an den Kunsträumen vorbei, die Treppe in Richtung Vertretungsplan hinauf und studierte diesen noch einmal kritisch. Wie immer. Alle hatten Ausfall, nur er nicht. (Moment, hatte er nicht gerade zwei völlig sinnlose Ausfallstunden?) So typisch. Warum waren seine Lehrer immer da? Er ging weiter hoch und spähte in den Gang an dem Darrins Musikraum lag. Grinsend ging er zur Tür und lauschte. „Was meinen Sie Darrin? Was ist mit der Melodie? Wie würden sie die beschreiben?“ Tony verzog das Gesicht. Genau das gleiche Thema hatte er auch in seinem Kurs. Liedanalyse. „Tss … was weiß ich. Das Lied ist halt scheiße und geht mir auf den Sack.“ Tony trat von der Tür zurück und verkniff sich das Lachen. Typisch Darrin. Ihn kotze es mindestens genauso an wie Tony, dass die Stundenplaner ihre Kurse verkackt hatten. Tony war zufrieden. Er schlenderte den Gang entlang und überlegte sich, was er nachher zu Darrin sagen würde, wenn der den Raum verließ. Darrin würde sicher dumm gucken und dann lachen, wenn Tony ihm erzählte, dass er gelauscht hatte. Tony lief den Gang noch einmal zurück, nachdem er ihn der Länge nach abgelaufen hatte und blieb vor der großen Informationstafel stehen. Bald war die Stunde vorbei. Er schob die Hände in die Taschen und horchte. Aus dem Musikraum drang die Stimme der Lehrerin. Tony hatte die vage Vermutung, dass Darrin sich gerade etwas mit ihr angelegt hatte, aber er konnte sich natürlich auch täuschen. Und dann hörte er Schritte auf der Treppe. Tony sah hoch. Den Besuch hatte er sich nicht unbedingt gewünscht. „Wen haben wir denn da? Die Schwuchtel?“ Tony schenkte dem Neuankömmling einen finsteren Blick. „Was kann ich denn dafür, wenn ihr Hopper so scheiße ausseht, dass ihr keine abbekommt?“ Der Typ, Tony kannte nur seinen Vornamen und der lautete Jakob, ließ die Finger knacken. Er hatte eine von diesen Hosen an, die zwei Meter unter dem Hintern ihren Schritt hatten. Sie schien drei Nummern zu groß für ihn zu sein. Seine Füße steckten in sportlichen Schuhen, das Ende der Hosenbeine hatte er in seine Socken gesteckt und es sah aus, als hätte er ziemlich perverse Geschwüre an den Fußgelenken. Tony grinste schief bei dem Gedanken. Obenrum trug er ein tolles Hemd, dass so schlecht aussah, das Tony zum würgen zumute war. Passte aber gut zu den Fußgelenkgeschwüren. Also daran sollte es nicht liegen. Über dem Hemd hatte er eine viel zu große, aber sehr „coole“ Jacke und ein Basecap auf dem Kopf. „Mach das Maul mal nicht zu weit auf, du dumme scheiß Tucke.“ Und der Ausdruck. Ein Ohrenschmaus. Tony wartete nur noch auf den zarten Klang eines: „Alter Man!“ Aber leider, leider blieb ihm das verwehrt. „Wenn du Mia haben willst, dann solltest du dir vielleicht mal Hosen in deiner Größe kaufen. Sie steht nicht so auf Schlabberlook.“ Warum auch immer. Das reichte Jakob als Provokation. Mit ein paar Schritten war er mit Tony auf einer Höhe und schlug zu. Das alles ging so schnell, dass Tony kaum Zeit hatte zu reagieren. Nur weil er schon mit dem Rücken zur Wand stand, konnte er nicht mehr zurückweichen. Tony schlug die Hände vors Gesicht. Etwas Warmes lief aus seiner Nase und tropfte auf den Fußboden. „Geht’s dir jetzt wenigstens besser?!“ rief Tony. „Noch lange nicht!“ In diesem Moment flog die Tür eines Raumes auf. Tony hielt seine Hand über die Nase und rutschte an der Wand hinunter. Jakob stand immer noch vor ihm, wollte eigentlich wieder zuschlagen, aber die Tür hatte ihn abgelenkt. „Was machst du denn da?“ Das war die Musiklehrerin. „Du Wichser!“ Und das war Darrin. Tonys Lautstärke hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Die Musiklehrerin gab einen empörten Laut von sich, bevor sie zu merken schien, dass Darrin sie nicht gemeint hatte. „Du kleine Dreckige Ratte. Du scheiß Spasti Hopper!!“ „Darrin!“ Noch bevor jemand dazwischen gehen konnte hatte sich Darrin auf Jakob gestürzt und riss ihn zu Boden. „Ich bring dich um!“ „Darrin, nein! Lass das!“ Tony hievte sich hoch und zog Darrin von Jakob herunter, der sofort aufgab. Doch die Wut blitze praktisch in seinen Augen. „Noch einmal so ein Ding und ich mach Vogelfutter aus dir!“ Mittlerweile war die Musikstunde wohl beendet worden. Und nicht nur die. Überall waren Türen aufgegangen und neugierige Schüler ebenso wie verwirrte Lehrer starrten sie an. Darrin wandte sich zu Tony um. Einen Moment lang hatte Tony das kribbelnde Gefühl, dass Darrin ihn umarmen würde oder vielleicht … irre. „Alles okay? Du blutest …“ Tony wischte sich vorsichtig über die Oberlippe. Ja, Blut, aber es hatte schon aufgehört zu laufen. „Oh Tony!“ Tony drehte sich um und im nächsten Moment geschah das, was er sich eigentlich heimlich von Darrin gewünscht hatte. Mia kam auf ihn zu gerannt und fiel ihm um den Hals. Sie hatte wohl wenige Räume weiter Chemie gehabt. „Geht schon, alles okay“, nuschelte Tony und tätschelte vorsichtig ihren Rücken. Währenddessen tauchte der Schuleiter auf. -Flash Back End- „Darrin“, die halbversiegten Tränen flossen erneut. William kam auf ihn zu und löste die Fesseln. Jetzt schien er sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Tony starrte hinunter auf Darrin. Wie er da lag. So ruhig. Tony schrie auf und stieß William heftig weg. Er flog fast die Treppe hinunter und landete neben Darrin schmerzhaft auf dem Boden. Aus dieser Position erkannte er, wie sich leise ein kleiner See aus Blut unter Darrins Blondschopf bildete. Er wurde größer. Tony streckte die Hand aus. Mit jeder Sekunde näherte sich das Blut seinen Fingern, bis es sie erreichte und sie rot färbte. Tony hob die blutverschmierte Hand und wischte sie an seiner weißen Kleidung ab. Die Tränen flossen in Strömen. „Darrin … komm schon. Steh auf. Ich weiß, dass du nicht tot bist. Du bist nicht tot. Du kannst gar nicht tot sein …“ William betrachtete das alles mit gespannter Nervosität. Er fragte sich was jetzt passieren würde, was er in Tony kaputt gemacht hatte und wie er weiter vorgehen sollte. Nicht einfach, er musste herausfinden auf welche Weise er Macht über Tony bekommen konnte. „Darrin, komm steh auf …“ Tony drehte ihn vorsichtig auf den Rücken und legte den Kopf auf Darrins Brust. Er lauschte und schloss die Augen. Ja, da war noch ein leises Pochen, aber so leise, so krank. „Du stirbst nicht Darrin, du musst doch bei mir bleiben … weißt du das nicht mehr? Wir sind doch verheiratet …“ Ein traurig nebliges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und während er immer noch um Darrins kläglichen Herzschlag betete erinnerte er sich, als wäre es gestern gewesen. -Flash Back- „Ne das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Darrin lachte laut los, als er Tony sah. Nicht zu fassen. Er hatte alle Drohungen wahr gemacht und sich doch tatsächlich als Cowgril verkleidet. Tony lachte jetzt auch. „Ich hab’s dir doch versprochen. Wenn du als Cowboy zum Letzten Schultag gehst, komm ich als dein Cowgirl.“ „So richtig mit Rock“, Darrin kicherte. „Ich fass es nicht. Erst gehst du zur Schwulenparade und jetzt kommst du im Rock. Muss ich mir Sorgen machen?“ Tony zuckte grinsend mit den Schultern. Vielleicht, vielleicht auch nicht. „Übrigens nennt sich das Christopher Street Day! Ich hab auch die Regenbogenfahne mit.“ „Geil …“ Darrin hatte das Gefühl den ganzen Tag nur lachen zu müssen. Nicht das Tony wirklich dumm aussah in seinem Kostüm, aber irgendwie war diese ganze Situation so lächerlich. „Ich bin ja gespannt was die anderen so sagen.“ „Die erkennen mich gar nicht mehr“, sagte Tony prompt. Ich hab eben noch Hannes in der Bahn gesehen, der hat mich nur angeguckt wie ein Auto.“ Tony deutete auf die Straßenbahnhaltestelle hinter sich. Sie sie machten sich auf den Weg zur Schule. Darrin trug ein Dauergrinsen vor sich her, während Tony seine Regenbogenfahne aus seinem Rucksack zog, der randvoll mit Bonbons war, und sie sich wie einen Batman Mantel um die Schultern warf. Schon von weitem hörten sie laute Musik von Schulhof. Die anderen waren längst da und es floss sicher auch schon reichlich Bier. Sie mischten sich munter in die bunte Menge und bahnten sich langsam ihren Weg zur Bühne vor um ein bisschen was sehen zu können. Ihre Mitschüler hatten sich die lustigsten Kostüme zugelegt, aber Tony war von Anfang an der Renner. Die Mädchen schienen hingerissen. Manche Jungs steckten sich an Darrins Lachflash an. Die Regenbogenfahne gab dem ganzen allerdings noch den besonderen Kick. „Mein holdes Cowgirl, hier ein Drink vom Sheriff!“ Darrin reichte Tony eine Flasche Bier und schüttelte grinsend mit dem Kopf. „Ich danke Euch Old Shatterhand. Sagt dem Sheriff liebe Grüße von mir.“ Sie stießen an und leeren das Bier recht schnell. Darrin holte Nachschub und als sie beim dritten angekommen waren trat der Schülersprecher Jan (übrigens als Sheriff bekleidet) auf die Bühne und griff zum Mikro. „Na Leute? Stimmung gut?“ Ein eher gegröhltes, als gerufenes „Ja!“ schwappte ihm entgegen. „Fein“, sagte er und blickte auf seinen Zettel. „Wie jedes Jahr wollen wir also jetzt wieder Mr. Und Mrs. Letzter Schultag küren! Ihr habt gewählt, die Stimmen wurden ausgezählt …“ „Wen hast du gewählt?“ fragte Darrin und stupste Tony an. „Dich!“ sagte Tony und grinste. „Ne! Mal im Ernst!“ „Ja im Ernst! Dich!“ „Lol …“ Darrin schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Wie dem auch sei. Wir haben dieses Jahr unseren alten Brauch ziemlich aufgepeppt. Mr. Und Mrs. Letzter Schultag gehen den Bund der Ehe ein und werden Handschellen als Eheringe bekommen und den ganzen Tag aneinander gekettet rumlaufen.“ „Sehr geil“, meinte Tony und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. „Ich bin ja gespannt wer es wird.“ „Ich erst …“ „Nun, wo bleibt der Trommelwirbel? Unser diesjähriger Mr. Letzter Schultag iiiiiiiiiiiiiiiist! DARRIN KOBLENZ!“ Tony, der gerade wieder einen Schluck trinken wollte tauchte in der Menge ab und spuckte fast alles wieder aus. Schnell schluckte er und lachte dann laut. Darrin schlug ihm sanft auf den Hinterkopf und drängelte sich zur Bühne durch. Tony grinste immer noch und fragte sich wen sie wohl den ganzen Tag an Darrin ketten würden. Irgendwie gefiel ihm der Gedanke nicht ganz so gut, wie noch am Anfang. „Herzlichen Glückwunsch Mr. Letzter Schultag.“ Darrin bekam eine Schärpe mit dem Aufdruck seines neu gewonnenen Titels und verbeugte sich. „So und nun sehen wir mal wer denn Mrs. Letzter Schultag wird.“ Der Schülersprecher öffnete einen Briefumschlag. Tony hatte vorher gar nicht gemerkt, dass er auch Darrins Namen aus so einem gezogen hatte. Gespannt blickte er sich um. Welches Mädchen würde es wohl werden? „Äääääähm …. Moment mal, das muss mir jetzt einer erklären.“ Alle sahen verwirrt zu Jan hoch. Ein Mädchen aus Tonys Klasse, er schätzte ihr Name war Anna, aber sicher war er sicht nicht mehr, lief auf die Bühne und redete leise mit dem Schülersprecher. Der grinste nun, nickte und trat wieder ans Mikro. „Okay, okay, alle Klarheiten beseitigt. So … weiter im Takt. Unsere diesjährige Mrs. Letzter Schultag iiiiiiist … TONY WENDELIN!“ Darrin ließ sich auf die Bühne plumpsen und lachte so heftig, dass es fast aussah als würde er weinen. Tony starrte nur ungläubig nach vorn. „Wie jetzt?“ Ein paar Mädchen, unter ihnen Anna, packten seine Arme und zogen ihn mit nach vorne. „Ich bin doch aber kein Mädchen!“ Tony hatte irgendwie das Gefühl sich erklären zu müssen, aber das tat nicht not. Dass er kein Mädchen war wussten alle gut genug, aber trotzdem hatten sie für ihn als MRS. Letzter Schultag gestimmt. Eine Verschwörung der ganz gemeinen Art. Er wurde die Bühne hochgeschoben, man hängte ihm die Schärpe um. Niemand beschwerte sich. Alle waren einverstanden. Tony zog eine Augenbraue hoch. „So ihr beiden. Jetzt wird geheiratet.“ Darrin raffte sich vom Boden hoch und wischte sich über die Augen. Tony grinste ihn an. „Geht’s wieder?“ „Nicht wirklich“, Darrin kicherte. Man hängte Jan einen weißen Umhang um, der entfernt an einen Priester erinnerte und drückte ihm ein dickes Mathebuch in die Hand. „So nun frage ich dich, Darrin willst du Tony als deinen Ehemann nehmen? Scheidung ist später noch möglich.“ „Ja, ich denk mal ich nehme ihn.“ „Danke dir, Darrin.“ „Tony, möchtest du Darrin zu deinem Angetrauten nehmen, ihn lieben und ehren, ach du weißt schon … Ja, oder nein?“ „Aber doch liebend gerne!“ „Gut, damit erkläre ich euch zu Mann und äh … zu Mann und Mann … also Eheleuten.“ Darrin tat so als würde er sich den Schweiß von der Stirn wischen und grinste Tony an. „Wenigstens ne Hübsche Braut hab ich bekommen, auch wenn es keine richtige Braut war sondern eher ein Bräutigam.“ „Tut mir wirklich leid. Aber die Zeit für ne OP war zu knapp.“ Der Schülersprecher kam mit den Handschellen und legte sie um Tonys rechtes Handgelenk und Darrins linkes. „Das sind dann jetzt eure Eheringe. Ich hoffe ihr werdet glücklich.“ Tony grinste ihn schief an und aus der Menge erhob sich so etwas wie ein Schlachtruf. Es waren nicht viele Stimmen und vor allem waren es nur weibliche, aber sie wurden langsam mehr und einige betrunkene männliche mischten sich darunter. „Küssen! Küssen! Küssen!“ „Mit Zunge!“ schrie jemand dazwischen. Andere lachten. „Jetzt echt?“ fragte Tony und blickte hinunter auf die Handschellen. „Küssen! Küssen! Küssen!“ „Ich glaube die meinen das Ernst“, sagte Darrin etwas unsicher. „KÜSSEN!“ Tony grinste verlegen. „Sollen wir wirklich?“ „Ja, was soll’s. Ist ja nicht so, dass ich mich vor dir ekel.“ Darrin grinste ihn frech an, Tony blickte gespielt vorwurfsvoll. „Komm in meine Arme, mein Cowgril!“ Tony legte ihm den freien Arm um die Schultern. Wie gern er jede dieser Gelegenheiten nutzte. Wären sie nur nicht so selten gewesen. Er spürte Darrins freie Hand auf seinem Rücken. Nur noch ein paar Zentimeter und er hätte Tonys Hintern erwischt. Man spielte wieder Musik ein. Tony wünschte sich, dass es nie enden würde. -Flash Back End- „Bitte …“ Tony merkte nicht, dass er vor sich hin flüsterte. Er hörte nicht Williams leichte Schritte auf der Treppe. Darrins letzter schwacher Herzschlag war schon seit einigen Sekunden verklungen. Es war so schrecklich an seiner Brust zu liegen und sein Herz nicht mehr schlagen zu hören. Tony hätte nie geglaubt, dass Darrin jemals in seinen Armen sterben würde, aber hatte er je geglaubt, dass er und Darrin wirklich ein Paar werden würden? Nein. Tony schluchzte leise. „Du bist nicht tot. Nein, ich weiß es ganz genau …“ William blieb vor Darrins Leiche stehen. So schnell war das gegangen. Der starke Blutverlust hatte ihn einfach dahinsiechen lassen. Wenn sie einen Krankenwagen gerufen hätten, wäre er sicher durchgekommen. Zum Glück wusste Tony das nicht. William hätte Darrin sicher retten können, aber wozu? Tony lernte gerade wie William sich die ganze Zeit über gefühlt hatte. Es gab kein Leiden, dass wirklich an seines herankam, aber Tony würde zur Hälfte verstehen wie es war. Wie es war allein zu sein, allein, einsam … verachtet und ungeliebt. „Er ist tot“, sagte William ruhig. Beim Klang seiner Stimme lief Tony ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Er wird nicht wieder aufstehen und dich retten. Es gibt jetzt nur noch dich und mich. So ist das Schicksal, Tony. Jetzt musst du endlich verstehen, dass du für mich geschaffen bist, nicht für ihn, oder sie oder irgendjemand anderen. Nur für mich, denn ich lebe noch. Er nicht mehr.“ Tony begann unkontrolliert zu zittern. Er redete sich so gut es ging ein, dass Darrin nicht tot war, aber Williams Stimme schritt sich in seinen Verstand, wie ein Dolch durch Butter. „Komm endlich her, Tony. Komm zu mir. Dorthin wo du hingehörst.“ „NEIN, VERDAMMT! NEIN ICH HASSE DICH!“ Schweigen. Tonys Stimme verklang in dem großen Raum. In Williams Ohren schien es zu klingeln. Noch eine Sekunde lang geschah nichts. Dann riss William Tony vom Boden hoch und schlug ihm heftig mit der flachen Hand ins Gesicht. Einmal, zweimal … bis Tony fast bewusstlos war. „Du wirst mich nicht hassen! Hörst du? Nein, das wirst du nicht, weil du mich lieben wirst!“ Ein paar Tropfen Blut von Tonys Lippe fielen auf das ohnehin blutverschmierte Hemd. Er hatte darauf gebissen als William ihn schlug. Tony zitterte. In seinem Kopf drehte sich alles. „Ich will auch sterben …“ flüsterte er, während William ihn von Darrin wegzerrte, wieder die Treppe hinauf. „Ich will auch tot sein …“ 22ter August „Hören Sie mal zu, Herr Polizist …“ „Goswin …“ „Mir egal, wie Sie heißen. Ich will, dass Sie endlich meinen Sohn finden. Tony ist seit fast einer Woche verschwunden! Ist Ihnen überhaupt klar, was in dieser Zeit alles passiert sein kann?“ Richard Goswin lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schüttelte müde mit dem Kopf. Er hätte Tony Wendelin gern gefunden, aber sie hatten keinerlei Anhaltspunkte. So langsam spielte er mit dem Gedanken seinen Job an den Nagel zu hängen. Das war doch nicht normal! Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn alle Verbrecher so clever wären. Die Tür zu seinem Büro ging auf. Simon Wendelin und er wandten sich ihr zu. Eine junge Polizistin trat ein. „Chef, wir haben neue Informationen.“ „Na, das ist doch mal was!“ Richard raffte sich wieder auf und sah sie fragend an. „Der junge Koblenz ist auch verschwunden. Seine Mutter hat ihn als vermisst gemeldet. Sie sagt er hätte versucht Tony Wendelin zu erreichen, Tony hätte aber nicht reagiert. Danach ist Darrin Koblenz mit seinem Toyota verschwunden. Wohin weiß Sie nicht, klar ist nur, dass er sich auch nicht mehr meldet.“ „So ein verdammter Mist!“ sagte Richard und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Herzlichen Glückwunsch, Herr Oberkommissar!“ sagte Simon Wendelin wütend und erhob sich aus seinem Stuhl. „Der ganze Laden hier ist doch ein Haufen Dilettanten. Ich werde meinen Sohn allein finden!“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Büro. Nicht zu fassen. Jetzt war Darrin auch noch verschwunden. Das roch verdammt nach einer üblen Geschichte. Ihn allein zu finden, das war leider einfacher gesagt als getan. Simon war das klar, aber was sollte er tun? Auf die Polizei warten? Bestimmt nicht! Die brachten doch gar nichts fertig, außer, dass noch mehr Leute in dieser Geschichte den Löffel abgeben würden. Verrückt. Simon Wendelin hielt ohnehin nicht viel von der Polizei. Nicht nur, weil sie ihn eingelocht hatten, nachdem man seinen lieben Kollegen tot aufgefunden hatte, sondern auch, weil er bis dahin schon ständig schlechte Erfahrungen mit den grünen Männchen gemacht hatte. Grüne Männchen. Der Witz hatte mindestens einen 2 Meter langen Bart, aber als Simon sich hinter das Steuer seines silbernen Hondas schwang, musste er trotzdem Grinsen. Er zögerte noch einen Moment, wühlte in seiner Jackentasche und fand den Schlüssel zu Tonys Wohnung. Bevor er dem nichtsnutzigen Polizisten einen Besuch abgestattet hatte, war er noch bei seiner Ex-Frau gewesen und hatte sie nach dem Schlüssel gefragt. Schon eigenartig, dass sie seiner Bitte nachgekommen war, aber darüber sollte er sich besser nicht beschweren. Nächste Haltestelle: Private Spurensuche. Keine 20 Minuten später drehte Simon Wendelin den besagten Schlüssel in seinem Schloss und betrat die kleine Wohnung. Sie wirkte irgendwie tot und unwillkürlich wünschte er sich, dass es seinem Sohn nicht genauso ging. Vorsichtig streifte er die Schuhe ab und ging in Tonys „Allround“- Zimmer. Er erinnerte sich, den Ausdruck einmal gehört zu haben. Unsicher sah er sich um. Ein Bett, eine Couch, ein Sessel ein Schreibtisch mit PC und Telefon. Sogar ein CD- Player. Schlecht war es ihm hier nicht gegangen. Trotzdem überkam Simon ein ungutes Gefühl. Er hatte seinen Jungen 10 lange Jahre vernachlässigt. Dumm gelaufen … wirklich sehr dumm gelaufen. Ungeduldig schüttelte er den Gedanken ab. Das Hier und Jetzt zählte! Nicht die alten Lappalien! Wer fragte schon noch nach dem Schnee von gestern? Simon war kein Mensch der sich gern an die Vergangenheit klammerte. Er trat an den Schreibtisch, ließ sich auf dem Stuhl nieder und startete den PC. Vielleicht fand er auch etwas Nützliches zwischen Musik und Pornos. Er betrachtete das Telefon und ließ seinen Blick dann wachsam über den ganzen Tisch schweifen. Da lag ein kleiner weißer, quadratischer Zettel. Direkt neben einem Stapel CD Rohlinge. Simon griff danach und starrte ihn verwirrt an. Es standen zwei Wörter darauf: Suicide Apartment ??? „Was?“ murmelte er und zog die Stirn kraus. Er wusste nicht, ob die Schrift seinem Sohn gehörte, oder jemand anderem. Wieder fielen ihm die Defizite auf, die die letzten Jahre hatten aufkommen lassen. Simon kannte seinen Sohn kaum. Gerade mal, dass er schwul war und mit Darrin zusammen, wusste er noch. Was zur Hölle war das Suicide Apartment? Irgendeine Disco? Wohl kaum … „Sag es, los. Sag es!“ Tony riss die Hände vors Gesicht. Niemals würde er es sagen. Es wäre eine Lüge. Nicht nur eine Lüge gegenüber William, sondern eine Lüge gegenüber sich selbst und ein Verrat an Darrin. William packte seine Schultern und schüttelte ihn grob. Tony wusste nicht mehr wann, aber irgendwann hatte er aufgehört zu weinen. Jetzt war da nur noch diese Leere und dieser Schmerz. Dieser Schmerz der sich mit jeder Stunde tiefer fraß. Tony hatte nur noch einen Wunsch. Er wollte einfach sterben, einfach die Augen schließen und sterben. Williams Flüche, Drohungen und sein Flehen prallten einfach an Tony ab. Und das machte ihn mit der Zeit immer rasender und ungeduldiger. Jetzt hätte der Zeitpunkt kommen müssen, an dem Tony begann ihn zu lieben. Aber er kam nicht. Tony war weit weg. William musste irgendetwas völlig falsch berechnet haben. Ein kleiner Fehler und alles war zunichte gemacht. „Tony, ich weiß, dass du es fühlst. Hör endlich auf an diesen Darrin zu denken. Du hast ihn nicht geliebt. Ich bin der, den du liebst. Wir sind füreinander bestimmt!“ „Nein“, Tony flüsterte nur. Sein leerer Blick trieb William fast in den Wahnsinn. Er hatte zu viel kaputt gemacht. Wie konnte ihm so ein Fehler unterlaufen? Er atmete tief durch, ohne Tony loszulassen und ließ sich etwas bequemer auf die Knie nieder. Tonys Gesicht war so weiß wie Papier, seine Augen rot unterlaufen. Er bot absolut kein schönes Bild mehr. Nicht mehr das was William wollte. Ihm kamen Zweifel. „Meinst du ich habe mich geirrt, Tony? Meinst du ich habe mich mit dir geirrt?“ fragte er leise. Tony atmete flach und sah ihn verstört an. In hastigen Stößen entwich die Luft seinem leicht geöffneten Mund. „Bist du womöglich doch nicht der Richtige?“ William schwieg und betrachtete Tony aufmerksam. Dieser Mensch war zerbrochen, zu nichts mehr nütze als dem Tod. Vielleicht sollte er ihm diesen letzten stummen Wunsch erfüllen und ihn einfach töten. William ließ Tonys Schultern los und erhob sich von den Knien. Tony hockte zusammengesunken vor seinen Füßen. Ein leises Geräusch durchtrennte die Stille. William hetzte zum Fenster. Das durfte nicht wahr sein! Nicht jetzt! Mit dröhnendem Martinshorn bog Richard Goswin in die Einfahrt des Suicide Apartments ein. Schlitternd kam sein Wagen zum stehen, hinter ihm quietschten die Bremsen von Simon Wendelins Wagen. Zwei weitere Einsatzwagen folgten. „Okay, Leute. Rein da, sucht alles durch! Findet Tony Wendelin und Darrin Koblenz und dann schnappt mir diesen William. Es reicht! Ich will endlich Klartext.“ Halsbrecherisch. Simon Wendelin sah den Polizisten prüfend an. Dieser Fall schien ihm wirklich den letzten Rest Nerven zu rauben. „Wenn meinem Jungen was passiert …“, fing er an, doch Goswin war schon halb im Haus verschwunden. Wer rechnete denn damit, dass Tony und Darrin überhaupt noch lebten? Kaum jemand. Die Polizisten stürmten die Villa. Simon Wendelin stand wie festgewachsen unten in Knöchel hohem Laub und starrte die Hauswand hoch. Dort oben war ein Balkon. Sein Blick ruhte unsicher auf dem Vorsprung. Ein Balkon. Nicht gut. Was, wenn dieser verrückte jetzt beschloss… Glastüren flogen auf. Simon schreckte zusammen. Dort war jemand. Das musste dieser William sein, hellblond wie ein Engel. Der junge Mann hastete zum Geländer des Balkons und starrte verstört hinunter auf den älteren Mann, der Tony so verheerend ähnlich sah. Er musste Simon für eine optische Täuschung halten. „Mich bekommt ihr nicht, klar? Niemand bekommt mich, denn niemand will mich! Ich wollte mein Leben lang nur ein bisschen Liebe. Aber nicht mal du wolltest sie mir geben! Du verdammter Verräter. Hätte ich dich nur gleich getötet. Stehst du irgendwann so vor meinem Grab, ja? So wie du jetzt dort unten stehst? Fein, dann will ich dich nicht länger warten lassen, Tony! Mich bekommt ihr nicht. Denn ich bin schneller!“ Bei den letzten Worten war der junge Engländer über das Geländer geklettert. Polizisten traten hinter ihm mit gezückten Waffen auf den Balkon. William verharrte dort oben, fast frei schwebend, einen Fuß an das Geländer geklemmt, eine Hand darum gelegt. „Ihr wollt es nicht anders“, murmelte er. Von drinnen hörte man jemanden Schreien. Entsetzt erkannte Simon in der Stimme seinen Sohn. Wo sollte das nur enden? Er war unfähig sich zu bewegen. Dafür begann alles um ihn herum sich zu bewegen. „Darrin ist nicht tot!! Er ist nicht tot!! Holen sie doch endlich jemanden der ihm hilft!! Er ist nicht tot!!“ Auf Williams Gesicht breitete sich ein entschuldigendes Lächeln aus, als er nun wieder auf Simon hinunter blickte. Er führte die freie Hand zu seinen Lippen und warf Simon eine Kusshand hinunter. „Ich hoffe du erstickst an deinen Schreien, Tony. Ich liebe dich.“ Dann ließ er los. Simon Wendelin schlug die Hände vors Gesicht. Unten flog die Eingangstür auf. Tony knallte der Länge nach auf den Boden, schwer atmend und kraftlos versuchte er sich wieder aufzurichten. In diesem Moment war Goswin schon wieder hinter ihm. Wenn die Sonne unterging, dann spürte er noch immer, wie sich Gänsehaut auf seinen Armen ausbreitete. Wenn er Gelächter hörte, dann wusste er noch, dass er auch einmal dazu im Stande gewesen war. Hörte er jemanden Weinen schlug er nur die Hände vors Gesicht und weinte stumm mit dem Fremden mit. „Name?“ „Tony Wendelin.“ Ach, alle Stimmen waren so verzerrt und es tat so weh ihnen zu lauschen. Er war in einer Welt, in der es keinen Schmerz mehr gab, aber diese Stimmen erinnerten ihn daran, dass dort, ganz nah an seiner Haut, schon die andere Welt begann. „Alter?“ „Zweiundzwanzig.“ Er betrachtete den Raum um sich, betrachtete die verzerrten Fremden Gesichter. Betrachtete William dort, so nah und doch so fern. William, der Mörder. „Familienstand.“ „Ledig.“ Tony wusste nicht, ob seine Stimme leise oder laut war. Er hörte sie unangenehm hallen, hörte alle Stimmen hallen, denn er gehörte nicht mehr zu ihnen. Er war längst ganz woanders. Tony löste den Blick. Etwas legte sich auf seine Schulter. Erschrocken sah er hoch. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich bin bei dir, Schatz“, sagte der Besitzer der Hand und Tony nickte zufrieden. Er bemerkte nicht, dass aller Augen sich auf ihn gerichtet hatten. Auf ihn und seinen Besucher. Tony wandte sich wieder dem Richter zu. „Was haben sie, Herr Wendelin?“ „Nichts“, sagte Tony und griff nach Darrins Hand auf seiner Schulter. Das fühlte sich so gut an. Der Richter räusperte sich unangenehm berührt. „Gut … Herr Wendelin, Berichten Sie uns bitte, wie kam es zum Tod von Darrin Koblenz?“ Tony hob den Blick wieder. „Darrin ist nicht tot, Herr Richter.“ Beta Version 16.08.2010 Fertiggestellt 22.04.2007 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)