Seelensplitter von Hrafna (Rufe aus der Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 4: "Bedenken" --------------------- "Bedenken" (Fárviðri - Súnnanvindur) Seit mehreren Stunden liegt er wach, starrt, innerlich von Bedenken und tiefen Selbstzweifeln geplagt, an die aus weißem Marmor gefertigte Gewölbedecke seines Privatquartiers. Die Hälfte der Nacht ist bereits vergangen, bald wird die Sonne aufgehen und somit das Startzeichen für die Mission geben. Er fürchtet sich davor. Nervosität und Übelkeit machen ihm zu schaffen, unruhig wälzt er sich auf die Seite. Langsam dämmert ihm jedoch, dass es ein sinnloses Unterfangen seinerseits ist, auch nur versuchen einzuschlafen. Es wird nicht funktionieren, die Angst hält ihn unbarmherzig in ihrer eisigen Umarmung gefangen. Sein gesamter Leib zittert. Ruckartig richtet er sich auf, schleicht auf leisen Sohlen aus seinen Räumlichkeiten und durch das verzweigte Netz der unzähligen Korridore. Auf Zehenspitzen erreicht er sein Ziel, zögert dennoch, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er traut sich weder anzuklopfen noch das Quartier zu betreten. Gespenstische Stille beherrscht den Gebäudekomplex und die Dunkelheit verwehrt ihm weitestgehend die Sicht; vor allem die Regungslosigkeit der Konturen und Schatten lassen das Bild, das ihm seine Augen vermitteln, unscharf und verschwommen wirken. Dann dringt plötzlich das Rascheln von Stoff an seine Ohren, seine Muskeln spannen sich unwillkürlich an. „Ich kann dich atmen hören, Súnnanvindur.“ Überrascht zuckt der Angesprochene zusammen – die tiefe, weiche Stimme seines Bruders hat ihn ernstlich erschreckt. „Komm schon zu mir.“ Nach kurzem Zaudern gehorcht er, tritt einige Schritte vor, bis seine bloßen Fußspitzen an den Rand der einem Futon ähnelnden Schlafmatratze stoßen. Vorsichtig geht er auf die Knie, sucht in der Finsternis nach den Augen des Älteren. Er kann den gleichmäßigen Fluss seines Youkis spüren, direkt vor sich, die Umrisse seiner aufrecht sitzenden Gestalt vermag er hingegen nicht richtig zu erfassen. Für einen winzigen Augenblick befällt ihn die Ungewissheit, ob er das Richtige getan hat. Doch dann schiebt er diesen Gedanken beiseite, die sanften Berührungen an Schulter und Stirn geben ihm Rückhalt, versichern ihm, dass er hier jederzeit willkommen ist. „Alles in Ordnung?“ Sein älterer Bruder schließt ihn in seine Arme, zieht den verschwitzten Körper des Jungen zu sich. Er kann die Furcht, die Unsicherheit wittern, die den Jüngeren quälen – so aufgelöst erkennt er ihn kaum wieder. Womöglich ist die Verantwortung, die ihnen ihr Vater für die anstehende Aufgabe übertragen hat, einfach eine zu schwere Bürde für den jungen Drachen. Er hat Angst zu versagen, und die Beteiligten zu enttäuschen. „Mach dir keine Sorgen, ich werde aufpassen, dass dir nichts geschieht.“ Fárviðri ist ein fähiger Krieger, und der Jungdrache weiß sicher, dass er seinen Worten blind vertrauen kann. Aber das ist es nicht, er kann das nagende, schlechte Gefühl, das ihn martert, nicht benennen. Und da er nicht an Vorausahnungen glaubt, tut er es als Nebeneffekt seiner zerrütteten Verfassung ab. In regelmäßigen Böen streift der Atem seines Bruders seine linke Wange, seinen Hals, und wenn er sich konzentriert, kann er dem geruhsamen Schlagen seines Herzens lauschen. Trotz der Tatsache, dass er die entspannte Ruhe des älteren Luftdrachen nicht nachvollziehen oder gar verstehen kann, lockert sich innerhalb weniger Momente die Verkrampfung seines Leibes, seine Atmung pendelt sich auf einen normalen, stabilen Rhythmus ein - nahezu synchron zu dem seines Gegenübers. Und obgleich keiner von ihnen eine physikalische Wärme ausstrahlt, fühlt er sich geborgen, behütet, warm. Er nimmt an, dass es dem Begriff eher entspricht als eine bestimmte Gradzahl, die die Temperatur angibt. „Danke, Fárviðri…“ Das Murmeln ist gedämpft und undeutlich, viel mehr in Stoff und dichtes, weißes Haar gesprochen als an den Anderen gerichtet, verklingt dennoch nicht ungehört. Durch die unmittelbare Nähe wird er sich der Vibrationen gewahr, die die Worte aus dem Mund seines Bruders begleiten. „Du musst dich nicht bedanken.“ Mit dem Zeigefinger tippt er dem Kleinen ins Zentrum der Stirn; ein halbherziges Schmollen stellt dessen Reaktion darauf dar. „Du sollst das nicht machen, Broðir.“ Abwehrend hebt Fárviðri die Hände, ein amüsiertes Lächeln erhellt seine sonst eher neutralen Züge. Im Schattensein der Nacht erscheinen selbst die farblosen Iriden seiner Augen dunkel und tiefgründig. „Tut mir leid, ich konnte nicht anders. Dein Gesicht ist eben etwas zu niedlich geraten.“ Súnnanvindurs Wangen färben sich augenblicklich rot, und er wendet den Kopf ab. „Ich bin kein Mädchen! Also behandele mich auch nicht so.“ Schweigen kehrt ein. Während das Schmunzeln des Älteren nicht weicht, verliert die Miene des Jüngeren an Härte und Trotz, die verräterische Röte besteht. „Darf ich trotzdem… nur für heute…“ Erwartungsvoll hebt Fárviðri eine Augenbraue – natürlich kann er sich denken, auf was der Junge anspielt, allerdings möchte er die Frage von ihm hören, und zwar vollständig. Fürwahr, er ist schüchtern und meist sehr zurückhaltend, aber er sollte eigentlich gelernt haben, dass er sich vor seinem Bruder wegen nichts zu schämen braucht. „Darf ich für heute Nacht hier, bei dir, bleiben…?“ Dabei schaut er nicht auf, fixiert einen undefinierten Punkt an der Wand. Behutsam legt sich daraufhin eine Hand unter sein Kinn, zwingt ihn zaghaft zum Aufsehen. „Danke, Fárviðri…“ ***---***---*** [Anm. der Autorin] Wie man bereits weiß, wird Súnnanvindur mit seinen Bedenken Recht behalten, und er wird ohne seinen Bruder wieder nach Hause zurückkehren. Falls es für euch von Interesse ist: vom Alter her sind die beiden ziemlich weit auseinander, Fárviðri ist bereits erwachsen, Súnnanvindur noch ein Jugendlicher. ^-^ Ich mag dieses Brüderpaar, insbesondere auch Fárviðri, und ich bereue es zuweilen, ihn schon im Vorhinein aus dem Weg geräumt zu haben... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)