Seelensplitter von Hrafna (Rufe aus der Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 11: "Bettlägerig" ------------------------- "Bettlägerig" (Flúgar - Blævar) Der metallene Geschmack des Blutes liegt ihm schwer auf der Zunge – ob es sich jedoch um sein eigenes oder das seines letzten Gegners handelt, vermag er nicht mehr zu sagen. Möglicherweise ist es Súnnanvindurs. Zugegeben, die Erinnerung ist vage und verschwommen, doch er ist sich sicher, dass die Begebenheiten nicht als willkürliches Produkt seinem vom Fieberwahn verzehrten Bewusstsein entsprungen sind. Sein Vater hat ihn nach Hause getragen, den gesamten Weg, und das, obwohl er ihm in Größe und Gewicht nicht mehr nachsteht. Ist er dankbar dafür? Sogar er ist erstaunt, dass er darauf keine rechte Antwort findet. Ein melodisches Summen erfüllt den Raum, und der Verursacher ist nicht weit entfernt von ihm; sein charakteristisches Youkimuster verrät ihn. Blævar. Mental fügt er ein abschätziges Schnauben hinzu. Sein Körper ist dermaßen strapaziert, dass ihm selbst das Atmen als anstrengend erscheint. Zumindest spürt er seine Schmerzen momentan nicht, genießt die Taubheit in seinen Gliedmaßen und die angenehme Leere, die sich rasch seines Verstandes bemächtigt. Dementsprechend wird er sich der negativen Aspekte seiner Machtlosigkeit in ihren Konsequenzen bewusst, als Blævars Handfläche seine Stirn berührt. Ja, er hegt Antisympathien gegen den schmächtigen Jungdrachen. Glücklicherweise driftet er bald wieder in einen komatösen Schlaf ab, der ihn alles um sich herum vergessen lässt – wenigstens für eine Weile. Seit mehr als zwei Tagen, nunmehr über fünfzig Stunden, befindet er sich in diesem jämmerlichen Zustand, in dieser verdammt lächerlichen Lage. Und es macht ihn wahnsinnig. Er kann sich noch immer kaum rühren, sein Leib erholt sich erschreckend langsam von der hohen Belastung, die ihn nahezu den letzten Rest seines Youkis kostete. Dem Tod näher als dem Leben – Súnnanvindur glaubte an seine starke Willenskraft. Für wahrscheinlicher hält er persönlich, dass sein Vater stumm an seine Sturheit appelliert hat, nicht bereits vor ihm zu krepieren. Blævar ist ihm die ganze Zeit über nicht von der Seite gewichen und allmählich wächst in ihm der eigenartige Drang, dem penetranten Jungen mit aller Gewalt ins Gesicht zu schlagen. Denn Ignoranz erzielt nicht das von ihm gewünschte Resultat; sein jüngerer Bruder begegnet ihm weiterhin mit einem Lächeln, zeigt ihm gegenüber Respekt und Höflichkeit. Er hasst diese astreinen, aalglatten Eigenschaften, die ihr Vater so sehr schätzt. In ungewohnter Intensität durchbohrt sein finsterer Blick die gewölbte Marmordecke, seine Aufmerksamkeit jedoch ruht auf Blævar, der in routinierter Manier die Hand nach seinem linken Arm ausstreckt. Diesmal ist er schneller, packt den Jüngeren am Handgelenk, bevor dieser sein Vorhaben gänzlich in die Tat umsetzen kann. „Fass mich nicht an.“ Wenn er den Griff um das blasse, schmale Handgelenk nur noch ein wenig festigt, wird es brechen. Auch Blævar muss sich dem gewahr sein, aber seine Reaktion besteht aus einem Lächeln. „Es freut mich, dass es dir besser geht, Broðir.“ Der Angesprochene blickt ihn nicht an, und unterdrückt im Angesicht der Gelassenheit des anderen ein Zähneknirschen. Weder Furcht noch Gegenwehr wallen in dessen Körper auf. „Verschwinde.“ Barsch schlägt er Blævars Hand von sich und alsbald räumt der Junge seinen Platz. Der scharfe Geruch von Kräutern steigt ihm in die Nase, und er verzieht für einen Augenblick angeekelt die Miene, als er aus seinem dösigen Halbschlaf erwacht. Seine Schulter schmerzt. Mühsam wälzt er sich nach links, stützt sich mit dem entsprechenden Unterarm hat. „Bist du schwer von Begriff?“ Sein verärgertes Grollen ist an, oder eher gegen, Blævar gerichtet, der am Fenster sitzt, mit dem Rücken zu ihm. Ja, er ist nun ernstlich verstimmt, und die leere Tonschale verfehlt den Hinterkopf des Jungdrachen bloß um Haaresbreite. Dennoch regt er sich nicht. Ein tonloser Fluch löst sich von seinen Lippen, ehe er sich ächzend in eine aufrechtere Position begibt. „Ich kann nachvollziehen, warum du mich nicht leiden kannst, Broðir, und es stört mich nicht. Ich mag dich für diese Ehrlichkeit – und dafür, dass du nichts von mir erwartest. Dafür möchte ich dir meine Dankbarkeit zeigen, ich fühle mich wohl in deiner Nähe…“ Der Ältere muss derweil - teils enttäuscht, teils ärgerlich - feststellen, dass keiner der in seiner Reichweite befindlichen Gegenstände schwer genug ist, um Blævar aus dieser Entfernung zum Schweigen zu bringen. „Und trotzdem tut es weh, nicht beachtet und abgelehnt zu werden.“ Er weint. Seine schmalen Schultern zittern, und die dünnen Finger krampfen sich zu Fäusten zusammen, sodass die Knöchel weiß hervortreten; das linke Handgelenk hat sich bläulich verfärbt und hebt sich auffallend von der hellen Haut ab. „Ist das alles?“ In seiner tiefen Stimme schwingt ein enervierter Unterton mit, der eines deutlich vermittelt: seine Anwesenheit ist unerwünscht. Resigniert nickt er, es gibt nichts mehr zu sagen. „Ja, Broðir.“ Mit gesenktem Kopf und tränennassen Wangen verlässt Blævar den Raum. Als er den Türrahmen passiert, ergreift sein Bruder noch einmal das Wort. Ob ihm jene Entwicklung langfristig gefallen wird, ist fraglich, doch sein Interesse ist geweckt. Neugier regt sich selten in ihm, er wird die Angelegenheit aus den Augenwinkeln weiter betrachten. „Flúgar.“ ***---***---*** [Anm. der Autorin] Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass sich 'bedridden' besser anhört als das deutsche 'bettlägerig', aber ich wollte keine englischen Kapiteltitel verwenden. Naja, jedenfalls hoffe ich, dass das Ende des One-Shots ersichtlich für den Leser ist - vage beschreibt es wohl am besten, doch ich habe es als sehr passend empfunden; es ist nur ein kleines Zugeständnis, zugegeben, von Flúgar kann man allerdings nicht viel mehr erwarten (natürlich ist er derjenige, der seinen eigenen Namen nennt, und seinen Bruder so etwas näher an sich heran lässt). Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)