Seelensplitter von Hrafna (Rufe aus der Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 20: "Vergangenheit" --------------------------- "Vergangenheit" (Hríðarbylur - Alte Generation) Als Kind blickte er wie gebannt zu den Fünf Sternen auf, die unter ihren mächtigen Schwingen das Geschick des Weltgeschehens lenkten und so ihr eigenes und das Schicksal der Geschöpfe, die sie umgaben, woben. Feuer, Luft, Wasser, Erde, und Eis… Das legendäre Fünfgestirn herrschte eisern über die Kontinente, im stetigen Wettstreit miteinander, um das Gleichgewicht zu wahren, und mit einem argwöhnischen Blick auf ihre eigene Schöpfung, die neue, aufstrebende Rasse der Menschen . Im Osten rumorten die aktiven Vulkane, behütet vom sengenden Atem des Roten Schattens, Taika, der seine Gegner ohne einen Augenblick zu zögern zu Asche verbrannte. Ein einziges Mal war er dem mächtigen Eldursdreki begegnet, unsicher, ob er panische Angst oder Faszination empfinden sollte – eine solch hitzige, aggressive Aura hatte nicht einer seiner Nachfolger besessen. Damals war er in Begleitung seiner Mutter, Rok, die sie die Unberührbare nannten, dort an der östlichen Grenze gewesen, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem gefährlichen Krisenherd entwickelt hatte. Zu einer direkten Konfrontation zwischen den beiden Drachen war es trotz einiger böser Worte und vielfältigen ernsten Drohgebärden glücklicherweise nie gekommen. Rok und der Clan der Loftsdrekar hielten den Westen, das spätere Europa, fest in ihren Klauen – und das seit zeitloser Ewigkeit. Dank der Standfestigkeit und resoluten Art der Frau, die ihr Leben lang einen unspezifischen, geschlechtsneutralen Namen trug, was oftmals Irrungen verursachte. In seiner kindlichen Naivität und Unwissenheit nahm er sie immer als direkte Inkarnation des Luftelements wahr, verehrte sie für ihre maskulinen Züge und kriegerischen Talente. Seinen Vater sowie seine Großeltern kannte er nicht. Der stärkste Krieger, den die Loftsdrekar jemals hervorbringen sollten, war eine Frau. Rok. Es würde ihm in der Zukunft nicht gelingen, sie zu übertreffen. Ebenso legendär ging Ryûjin, der als Wassergott titulierte Vatnsdreki, in die Geschichte ein. Unscheinbar begann er seinen Einfluss auszuweiten, bis er und seinesgleichen schließlich alle Meere, die das Festland voneinander trennten, beherrschten, wodurch Amerika unzugänglich für die anderen Clans wurde. Wer sich auf den Ozean wagte, wurde von den hohen Wogen zerschmettert oder verschwand lautlos in der schwarzen Tiefe. Das Gegenstück dazu bildete þurrkur, der Sandteufel , der in den lebensfeindlichen Wüsten Afrikas hauste und sein Unwesen trieb. Durch die Jahrhunderte verkannt, sollte er der einzige aus der riesigen Sippe der Jörðardrekar bleiben, der ein ehrliches und geschätztes Weltansehen erlangte. Über die Pole, im äußersten Norden und Süden, herrschte das Weiße Gespenst, der Ísdreki Fubuki, den ein nahezu brüderliches Band mit dem temperamentvollen Taika verband – entgegen aller Befürchtungen ihrer gegensätzlichen Herkunft wegen, übten sie ein unheimliches Verständnis füreinander, und ihre enge Allianz funktionierte einwandfrei. Bis sich die Menschen einmischten. Sie säten Hass und Zwietracht zwischen den beiden Drachen, und das Gleichgewicht der Welt brach zusammen. Fubuki starb durch Taikas Fänge, und der Eldursdreki verging danach an seiner geschädigten Seele. Der Osten wurde fortan von schwerwiegenden Kriegen erschüttert, der Clan des Feuers zersplitterte. Das war der Anfang vom Ende. Rok scheiterte an dem Versuch, Asien in ihre Gewalt zu bringen um das Territorium der Luftdrachen zu erweitern, þurrkur verlor sein Leben gegen einen als ‚Pharao’ bezeichneten Feuerdrachen und Ryûjin unterschätzte das Wachstum und Fortschreiten der menschlichen Technik. Die Ära der Fünf Sterne war von Beginn an ihrem Untergang geweiht gewesen, und endete nun im absoluten Chaos. Hríðarbylur riss alsbald Roks Erbe an sich, gezwungen, seine Heimat zu verlassen und mit der Hälfte des kläglichen Rests ihres Clans auf eine kleine Insel im Osten zu fliehen. Zu arg in interne Streitigkeiten und Fehden verstrickt, konnten die Feuerdrachen dagegen zunächst nichts unternehmen. Ruhe kehrte in ihre Reihen erstmals wieder ein, als eine weibliche Genossin aus der alten Elite mehrere der verfeindeten Stämme unter sich einte. Glóð, eine geschickte, aber herrische Persönlichkeit, die ihren Posten bis zum großen Umsturz durch den jungen Revolutionär Hraunar, einen Sohn des südlichen Herrschers, begleitete. Die Jörðardrekar waren seit þurrkurs Tod wie vom Erdboden getilgt, ihr Oberhaupt agierte im Verborgenen, ließ lediglich selten eine Demonstration seiner Würdigkeit verlauten. Wer oder was ihm das Leben raubte, verblieb ebenfalls im Unklaren. Bei den Vatnsdrekar führte Kanshou, ein unbekannter, aber erfahrener Konservativer aus dem südlichen Eismeer, den Clan. Das neue Oberhaupt der Luftdrachen tötete ihn in der letzten ihrer zahlreichen Auseinandersetzungen, und Uminari trat an seine Stelle. Der Führungswechsel innerhalb der Ísdrekar vollzog sich in einer Nacht und Nebelaktion, gänzlich unerwartet und plötzlich, durch die sich eine feministische Splittergruppe, eine winzige Partei aus dem großen Rat der Eisdrachen, an die Spitze ihres Clans kämpfen konnte; Hálka setzte sich als Oberhaupt durch und besann sich auf Tradition und interne Angelegenheiten, bis sie ein Attentat aus der eigenen Fraktion das Leben kostete. Seitdem wankte das Gleichgewicht der Mächte, Hríðarbylur stand zahllose Jahrhunderte auf verlorenem Posten, als letzter Repräsentant der Alten Generation – als einziger Zeuge einer unlängst vergangenen Epoche, ein Abkömmling aus der Blütephase unter den Fünf Sternen. Dem gilt seine Sehnsucht, und er spürt, dass seine Zeit verrinnt… ***---***---*** [Anm. der Autorin] Für Hotepneith. Ein kleiner Ausflug in die Geschichte der Drachen, aber kein Kitschszenario - das habe ich dann doch nicht über mich bringen können. Als vorerst abschließendes Kapitel finde ich es persönlich sehr passend und hoffe natürlich, dass es Anklang findet. ^-^ Noch ein paar Namensbedeutungen: 'rok' bedeutet 'Sturm, Windstärke 10'; 'þurrkur' ist 'die Dürre'; 'glóð' heißt 'Glut'; 'hálka' steht für 'rutschiges Eis oder Schnee' und 'kanshou' ist Japanisch für 'Atoll, kreisförmiges Korallenriff'. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)