Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Intermezzo: Sehend ------------------ Mühsam zog ich mich aus dem Wasser. Das Betttuch, mit dem ich mich bei meiner Flucht bedeckt hatte, klatschte an meine Beine. Es war viel zu lang, denn ich war ein kleiner Junge. Vielleicht sechs Jahre alt. Das schien mir unlogisch, denn ich hatte das Bettlaken doch erst benutzt, als ich 17 gewesen war. Und wie war ich überhaupt ans Meer gekommen? In diesem Alter hatte ich wenig anderes Wasser gesehen, als das, was von oben kam und von solcher Gewalt war, dass man Kopfschmerzen bekam, wenn man zu lange draußen blieb. Ich schmeckte Salz und etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte. Nicht mehr. Als ich zu schwimmen begonnen hatte, da hatte ich auch gewusst, was es war. Kraftlos ließ ich mich auf die Knie sinken und betrachtete den schneeweißen Sandstrand. Das Meer rauschte und das Licht war grausam hell. Zu lange war ich im Dunkeln gewesen. Durst. Wenn doch nur etwas Süßwasser zu finden wäre. Jemand reichte mir eine Flasche aus grünem Glas. Ich trank und trank. Kühles Wasser rann meinen Hals hinab, breitete sich in der Magengegend aus bis sich alles dort verkrampfte. „Hey, hey, langsam“, sagte mir ein steinalter Mann. Sein Gesicht war von tiefen Falten und vielen Narben gezeichnet. Er sah abstoßend aus, aber für mich hatte er das freundlichste Gesicht der Welt, denn er hatte mir das Wasser gegeben. Seine Augen waren so grün wie die Flasche und strahlten. Ich konnte alles über ihn darin lesen. Ich fand ein gutes Herz, ein ausgeglichenes Wesen, Trauer um die Vergangenheit und unendliche Freude zugleich. Er freute sich diebisch am Leben selbst. Nichts liebte er mehr. Das wiederum schien mir nicht ganz so unlogisch. Als kleiner Junge hatte ich diese Fähigkeit noch besessen. Mit einem Blick hatte ich das Wesen eines Menschen erfassen können. Langsamer, aber immer noch gierig leerte ich die Flasche. Sie glitzerte im Sonnenlicht, als ich sie dem Alten wieder hinhielt. „Mehr!“ verlangte ich. „Danke heißt das“, erwiderte eine jüngere Stimme. Ich erblickte einen kleinen Jungen, mindestens zwei Jahre jünger als ich, aber blitzgescheit. Er führte ein schwarzes Fohlen, dessen Kopf fehlte. Statt eines Halfters hatte es einen Strick um den Halsansatz gebunden, der am Handgelenkt des Jungen endete. Bei genauerem Hinsehen sah ich, dass er das Tier nicht führte, sondern beide einfach zusammengebunden waren. „Tschuldigung“, antwortete ich dem Kind und seinem unheimlichen Pferd. „Danke, alter Mann.“ Der Alte grinste mich zahnlos an. „Ich wünschte, ich könnte noch mehr von dem Wasser trinken, aber ich gehe wohl besser schnell weiter“, fuhr ich fort. „Auf der anderen Seite des Meeres ist die Hexe, die mir die Flügel abgeschlagen hat. Sie will, dass ich zurückkomme. Ich kann nicht fliegen, also muss ich laufen, so schnell ich kann.“ „Armer Kleiner“, sagte der alte Mann. Dann zu dem Jungen: „Töte das Pferd, damit ihm seine Flügel schnell nachwachsen. Er ist ein Drache. Das Blutopfer sollte ihn fliegen lassen.“ Sofort schickte sich der Junge an, das kopflose Pferd zu erstechen. „Nein!“ kreischte ich. „Lieber soll sie mich kriegen als dass er das tut!“ Das schien den alten Mann zu freuen, denn er bedeutete dem Jungen, das Pferd leben zu lassen, während sein Lächeln noch einige Zentimeter wuchs. „Da sag ich’s dir, kleiner Mann“, sagte er zu ihm. „Er ist ein Drache, aber er fühlt menschlich. Nicht alles ist wie es scheint. Merk dir das.“ Der Kleine nickte gehorsam und kletterte auf sein Pferd. Er schnaubte und schüttelte seinen Kopf, als wäre es der des Pferdes. Mühsam beugte sich der alte Mann zu mir herunter und sah mich direkt mit seinen wachen, klugen Augen an. „Die beiden werden dich tragen, aber von hier aus kann man nur auf’s Meer hinaus, oder in die Stadt. Diese macht die sehenden Drachen blind. Zumindest die deines Blutes.“ „Lieber blind als wieder bei ihr“, gab ich zurück. „Ist es weit?“ „Sehr weit, aber wenn du gut auf ihn aufpasst, wird mein kleiner Reisebegleiter dich tragen.“ „Gut, ich pass auf“, schwor ich. „Willst du das wirklich?“ „Ja!“ versicherte ich aufgeregt. Ich hatte es schrecklich eilig. „Das freut mich“, sagte der Alte, ließ mich auf das Pferd steigen und schickte uns von Dannen. „Aber vergiss nie, dass du erblindest. Schon auf dem Weg in die Stadt.“ Kaum waren das Meer und der alte Mann aus unserer Sichtweite, rieselte eine weiße Feder auf mich hinab, wie sie auch die Hexe gehabt hatte, denn sie war keine Hexe, sondern ein Engel. Sanft wiegte der Wind sie, ließ sie vor meinen Augen tanzen. „So fühlt sich die Hölle an, mein Kleiner“, flüsterte der Wind. „Aber selbst du kennst nur einen Bruchteil. Freue dich, dass ich sie dir nicht ganz zeige.“ Ich wollte schreien, aber aus meiner Kehle kam kein Laut. Stattdessen kam Feuer. Junge und Pferd gingen in tosenden Flammen auf. Als sie vor meinen Augen zu brennen begannen, sah ich aus dem Augenwinkel, dass die Feder einer harmlosen Taube gehört hatte. Ein Falke kreiste über ihr. Das Pferd, mit dem flammenden Inferno des kleinen Jungen auf dem Rücken, stieg auf die Hinterbeine. Ich fiel. „Schon auf dem Weg in die Stadt“, hallte es in meinem Kopf wider. „Die Angst macht sie blind.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)