Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 18 ---------- „Kori!“ freute Nick sich. „Mann, bin ich froh! Ich hatte ja solche Angst, dass die im Gefängnis irgendwas mit dir angestellt haben. Ähh, haben sie doch nicht, oder? Man hört ja so Geschichten über das raue Leben im Knast...“ „Niiiick!“ Ich rannte freudestrahlend auf ihn zu und breitete meine Arme aus. Statt ihn jedoch zu umarmen, packte ich seine Kehle und drückte diese mit jedem meiner folgenden Worte ein wenig fester zu. „Schön. Dich. Zu. Sehen...“ „Arr“ keuchte er. „Ko...“ „Ja, Nicole-chan? Möchtest du mir etwas sagen?” Er nickte heftig und versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu lösen. „Doch nicht etwa, warum du SO EIN GOTTVERDAMMT SCHLECHTER LÜGNER SEIN MUSST, WESHALB ICH DIESEM SCHEISSKÖTER HINTER MIR IN DIE ARME GELAUFEN BIN!“ Langsam färbte sich Nicks blasses Gesicht in einem warmen Karminrot. Stand ihm gut, fand ich. „Vielleicht möchtest du mir ja auch erzählen, warum du mich gezwungen hast, in deinem Drecksloch von Haus zu bleiben bis mich die Bullen dort abholen...“ Karminrot traf es doch nicht ganz, wenn ich es recht bedachte. Eher Purpur... „Ah – ccchhh“ machte Nick. „Oder möchtest du mir möglicherweise Mitteilen, was Cunno heißt? Das würde mich brennend interessieren.“ Ich stellte klar, was ich mit „brennend“ meinte, indem ich ein kleines Flämmchen spuckte und Nick im selben Moment zu Boden warf, sodass es ihn haarscharf verfehlte. Sekundenlang blieb Nick auf seinem Hintern sitzen, schnappte dabei nach Luft und hielt sich den Hals. „Aua“, jammerte er beleidigt, während ich bereits zu neuen Tiraden ansetzte. „Ich verfluche den Tag, an dem du mein Büro betreten hast, um mir deinen dämlichen Monitor in die Eier zu rammen, bloß weil du zu blöd warst, den – hey, du Idiot, lass mich runter!“ Ronga hielt mich am Kragen meines Sweatshirts wie ein kleines Kätzchen. „Cunno ist das älteste bekannte Wort für Tiefschlaf oder die Aufforderung einzuschlafen. Mäßige deinen Ton und sei nicht so undankbar. Er hätte schließlich auch das alte Wort für Tod sagen können... falls er es kennt.“ „Ja, genau“, stimmte Nick in seine Predigt ein und machte schon Anstalten, seinen Zeigefinger in die richtige Position für „die Geste“ zu bringen. Ich ballte die Fäuste. „Und du mach diesen Hitzkopf nicht mit altklugen Bemerkungen noch wütender. Ich habe kein Interesse daran, wochenlang die Erinnerungen des Personals zu filtern und meine Medienbeziehungen auszureizen, weil hier ein Großbrand ausgebrochen ist“, bat Ronga ruhig. Ich musste über den unterwürfigen Ausdruck in Nicks Gesicht beinahe lachen, als dieser, nun endlich wieder zu genügend Luft gekommen, aufstand und seine Hände in die Ärmel seiner Schlabberklamotten schob. Darin inbegriffen war sein besserwisserischer Zeigefinger, was ich sehr begrüßte. „Sorry“, murmelte er. „Hm“ antwortete Ronga. Ich hing immer noch in der Luft und begann zu zappeln, um ihm zu zeigen, was ich davon hielt. „Bist du mit Rick zusammen hier?“ fuhr der Halbwolf fort. „Jepp, wir sind uns hier über den Weg gelaufen“, sagte Nick, schon wieder fröhlich. „Hier lang.“ Und schon stiefelte er los. Ronga lief ihm hinterher, ohne mich abzusetzen. „Lass mich endlich runter!“ schnauzte ich ihn an und trat nach ihm, was bei unserem Größenunterschied von 15 bis 20 Zentimetern und seinen entsprechend langen Armen nicht sehr erfolgversprechend war. „Moooment mal, wer sind Sie eigentlich?“ erkundigte sich Nick bei meiner wandelnden Gehhilfe. „Darey Ronga, der Wolf, der ihn letztens abgeholt hat.“ „Oh, ein Werwolf“, sagte Nick ehrfürchtig. „Oh, ein Werwolf“, äffte ich ihn weit weniger ehrerbietend nach. Ronga kommentierte meine Bemerkung, indem er mich kräftig schüttelte. „Erstens heißt es Nachtwolf und zweitens: Muss ich mir noch eine Beleidigung aus deinem losen Mundwerk anhören, egal gegen wen, gebe ich dir ein Messer in die Hand und sorge dafür, dass du dir selbst damit deine vorlaute Zunge abschneidest“, drohte er. Da ich seine letzte Manipulation noch hervorragend im Gedächtnis hatte, hielt ich lieber die Klappe. Man konnte nie wissen, wie ehrlich er gewesen war, als er mir versprach, meinen Geist in Ruhe zu lassen. „Auch in deinem Interesse... Halte deine Wut ein wenig im Zaum“, sprach er weiter. „Das Ultimatum läuft bald ab.“ „Ultimatum?“ fragte Nick? Ultimaatuum? dachte ich genervt, blieb aber still. Wie zur Belohnung wurde mir endlich wieder erlaubt, meine eigenen Füße wieder zu benutzen. „Später“, beschwichtigte Ronga. „Ist es noch weit?“ „Nein, wir sind gleich da.“ Eine Ecke weiter sammelten wir Rick ein. Er war auf einem der an der Wand stehenden Stühle eingeschlafen, ein auseinandergefaltetes Blatt in der Hand, das er offensichtlich schon eine Weile mit sich herumtrug, wenn man nach dem Fortschritt des Verknittervorganges ging. Kaum hatte ich ihn wachgerüttelt, sprang er mich auch schon an. „Ein Glück, ich dachte schon, die sperren dich ein“, empörte er sich. „Als ob du jemanden umbringen würdest. Und das bisschen Kunst, das du geklaut hast...“ „Jaja, den Text hat Nick eben schon aufgesagt“, bremste ich ihn so freundlich wie möglich und schob ihn mit sanfter Gewalt wieder auf angemessenen Abstand. „Hab gehört, du hast echt lange dicht gehalten. Danke.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Ich wünschte, ich hätte von Anfang an gar nichts gesagt“, knirschte er. „Dann hätten sie’s nicht aus mir herausgekriegt.“ Daraufhin gab ich mir größte Mühe, aufmunternd dreinzuschauen. Allein, dass er sich so bemüht hatte, erfüllte mich mit einem gewissen Stolz. „Wie kommst du voran?“ fragte Ronga, auf das Blatt in Ricks Hand deutend. „Ich denke, ich kann’s. Glücklicherweise sind es ja nur drei Zeilen“, gab sein Schützling Auskunft. Seltsamerweise stellte Nick dieses Mal keine dummen Fragen. „Und konntest du dich ein bisschen ausruhen?“ „Ich denke, ich bin fit genug, ja“, beantwortete Rick die ungestellte Frage. Wieder wurde ich nervös. Wenn ich mir Nick so ansah, war ich offenbar nicht der einzige. „Ich glaube aber nicht, dass ich gleich alle...“ „Nur Kori“, sagte Ronga schnell. „Ich kenne die Geschichte und der junge Mann hier braucht diesen Teil hier nicht zu kennen.“ „Hey, Kori“, flüsterte Nick aufgeregt. „Er hat „junger Mann“ gesagt. Das heißt, er hat gemerkt, dass ich ein - “ „Versager bin, der aussieht wie eine Frau. Natürlich hat er das gemerkt. Ist ja auch nicht zu übersehen.“ „Nur Kori?“ Nicht noch eine böse Überraschung an diesem Tag, flehte ich im Stillen. Zwei Blicke trafen mich: Rongas drohender und Ricks fragender. „Es dauert nicht sehr lange... hoffe ich“, sagte Rick leise. „Nicht länger als fünf Minuten. Die Zeit der Erinnerungen läuft um ein Vielfaches schneller als diese“, bestätigte Ronga. Skeptisch betrachtete ich ihn. „Keine Sorge. Es ist ungefährlich. Bestenfalls wird es dich verwirren“, versuchte er mich wieder vertrauensseliger zu stimmen. „Und das, was du sehen wirst ist sehr persönlich. Vielleicht kann es einen winzigen Teil von meinem Bruch mit deiner Privatsphäre wiedergutmachen.“ Allzu sehr dämpfte das mein Misstrauen nicht, doch meine Neugier stieg ins Unermessliche. Hätte man mir gesagt, dass er mit seinen Worten genau dies beabsichtigt hatte, ich hätte es sofort geglaubt. Ich schwieg, was sofort als Zustimmung gewertet wurde. Ronga schaute seinem Schüler tief in die Augen. Es sah aus, als würden sie schweigend kommunizieren. Er sendet ihm ein Bild, kam es mir in den Sinn. Oder er stochert in seinen Gedanken herum war der wütende Gedanke, der der ersten Idee auf den Fuß folgte. Zunächst schlug Rick einen Kreis, wie jenen, den Ronga bei meiner ersten - und garantiert letzten, so beschloss ich - Magiestunde benutzt hatte. Plötzlich waren Nick und der Halbwolf aus unserem Blickfeld verschwunden. („Lass mich dir das mit dem Ultimatum erklären“, hörten wir Ronga noch sagen. „Aber keine Rückfragen, denn wir haben nur fünf Minuten.“) Auch der Flur, in dem wir gestanden hatten, verschwand in schwarzem Nichts. Als sogar der Boden unter unseren Füßen sich aufzulösen begann, wurde ich unruhiger denn je. Rick warf einen letzten Blick auf seinen Spickzettel und schob ihn sich dann in die Hosentasche. Seine Beine wurden unnatürlich lang, Schuhe und Hose wichen zwei schwarzen Pferdebeinen, während sich hinter dem Jungen der Rest des Tierkörpers abzuzeichnen begann. Der menschliche Oberkörper steckte in einer Rüstung aus Fellen und Lederriemen. Ricks zweite Gestalt. Obgleich er so schmächtig war, was auch die Rüstung nicht verbarg, und ich ihn als schüchternen Zeitgenossen kannte, kam mir diese Aufmachung passender, natürlicher, vor als sein menschliches Aussehen. Lediglich die Tatsache, dass ich ihm plötzlich nur noch bis zur Brust reichte, war ungewohnt und fühlte sich fremd an. Vorsichtig berührte ich den Rücken des Pferdekörpers. „Wenn dir dein Leben lieb ist, kletter’ nicht drauf. Ich trag dich höchstens im Notfall“, grinste Rick. Ich nickte zustimmend, klopfte ihm auf den Rücken und zog ebenfalls die Mundwinkel nach oben. „Bereit?“ fragte er. Abermals nickte ich. Er hielt die Hand auf und ein langer, dünner Holzstock erschien darin. Rick stellte ein Ende auf den Boden und tat, als wolle er aus dem anderen Ende etwas herausziehen. Pinselborsten wuchsen aus dem Stab empor. Meine Augen wuchsen mit. Ein überdimensionierter Pinsel? Ich hätte viel eher mit einem Speer oder dergleichen gerechnet. „Bitte nicht lachen. Meine Zeichenkünste sind erbärmlich. Und: Pssst.“ Eine Weile stand er einfach nur da und ging in sich. Dann begann er mit ungeheurer Geschwindigkeit, Dinge in die uns umgebende Schwärze zu malen. Er war wirklich bestenfalls mittelprächtig, aber immer noch weit besser als ich es in der Schule gewesen war. Dabei murmelte er unablässig Worte, die ich nicht verstand. Wohl aber ahnte ich, dass sie zur selben Sprache wie Cunno gehörten und er sie bis vor kurzem noch auswendig gelernt hatte. Das zunächst weiße, verschwommene Bild gewann an Farbe und Kontur. Schnell revidierte ich mein Urteil über Ricks Zeichenkünste. Das hier war täuschend echt. Nein, es wurde langsam Wirklichkeit. Ich sah einen Wolf über irgendwas, das vielleicht die Reste eines Tieres sein konnten. Geräusche mischten sich unter die visuellen Eindrücke und mit ihnen begann ich, die Worte zu verstehen, die Rick immer wieder vor sich hin sprach. Gao aramu imata yo - Sehen mit den Augen des Kindes Gao Ithra aera jin - Hören mit den Ohren des Windes Ucceco arata ewano indra, me’en-zio nunca - Sprechen mit Worten, die niemals lügen. Rongas Geschichte begann. Es war gut, dass Rick sie mir erzählte, denn er war der Einzige, dem ich sie hundertprozentig glaubte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)