Vampirdämon von MiKiYu (Untergang der Schattenfürsten) ================================================================================ Kapitel 4: Verlorene Wege ------------------------- Strahlender Sonnenschein erfüllte den Palast, wurde an den Rubinkuppeln des monumentalen Bauwerkes reflektiert und erleuchtete den großen Platz, auf dem sich die Kutschen der Gesandten und hohen Dämonen drängten. In der Ferne jenseits des Parks knarrten die Angeln des Osttores und gewährten einer weiteren Kutsche Einlass, die recht schnell die lange, schmale Kopfsteinstraße entlang raste und einige Vögel aufschreckte. Am Fuße der breiten Haupttreppe bremste das Gefährt so scharf, dass die davor gespannten Thevire vor Schmerz aufheulten. Ohne weiter auf die Tiere zu achten, sprang ein Dämon in Kriegerkluft aus der Kutschentür und stieß den herbeieilenden Diener des Lords beiseite, der ihm am Kopf der Treppe geschäftig entgegeneilte. Der junge Dämon stürzte von der Wucht aus dem Gleichgewicht gebracht zu Boden und seiner Natur entsprechend leuchteten die Augen des Dieners einen Moment lang hasserfüllt auf, ehe er sich besann und die Beherrschung wiedergewann. In diesen wenigen Augenblicken war der Krieger bereits durch die Eingangstür und bis ans Ende der Eingangspassage gerannt. Der Empfangsdiener Medirior am Kopf der Treppe sah zu, wie der stürmische Dämon die Stufen erklomm. „Der Lord empfängt im Moment einen Gesandten des Achatreiches, Heerführer Haguren. Es ist Euch gestattet, im 1. Vorsaal zu warten. Ich werde Lord Shahaan von Euerer Anwesenheit in Kenntnis setzen.“ Surell Haguren schnaubte spöttisch und verlangsamte seine Schritte keinesfalls. Er war nicht der Typ, der warten konnte. Erst als Medirior sich vor der Tür aufbaute, hielt Surell an. Die starke Aura, die sich mit einem Mal überall ausgebreitet hatte, erinnerte ihn daran, vor welch starkem Gegner er stand. Sich undeutlich an das Wort „Respekt“ erinnernd entschied der Krieger sich für die diplomatischere Methode. „Ich bin der Heerführer der Osttruppen! Remon wird mich sicher nicht aus den Unterredungen mit Gesandten ausschließen wollen. Lasst mich durch, Medirior!“ „LORD Shahaan hat mir aufgetragen, jeden Bittsteller anzukündigen und…“, begann der Empfangsdiener immer noch erbost. „Ich bin aber kein Bittsteller! Ich habe dringend etwas mit dem Lord zu besprechen!“ Surell brüllte jetzt und seine eigene Aura flammte vor Wut bedrohlich auf. Doch noch ehe der immer noch pflichtbesessene Medirior etwas erwidern konnte, flogen sämtliche Türen bis zum Thronsaal auf und die Stimme des Vampirdämonenlords schallte laut durch die Säle. „Tritt ein, Surell Haguren. Man hört dich auch so bis hier her!“ Genugtuung strahlte Medirior aus den Augen des Heerführers entgegen, ehe dieser sich abwandte und schnellen Schrittes zum Lord marschierte. An der Tür wurde Surell langsamer um die Szene zu analysieren, die sich ihm bot. Lord Shahaan saß locker in seinem Thron und stützte das Kinn mit einer Hand, während er mit scheinbar gelangweilter Miene dem achatenen Gesandten lauschte. Die Rubine der vielen Silberringe an seinen Händen warfen rote Lichtpunkte auf das Gesicht des Boten und schienen ihn ständig zu irritieren. Surell glaubte leichte Belustigung im Mundwinkel seines Herren erkennen zu können. „Gesandter Selibim… Glaubt Euer Herr nicht, dass es ein wenig zu früh für derartige Erklärungen ist? Jemand, der erst seit so kurzer Zeit den Rang eines Lords trägt, sollte daran arbeiten, seine Position zu sichern, statt wesentlich erfahrenere Herrscher irgendwelcher Diebstähle zu beschuldigen und zu unsinnigen Konfrontationen an den Grenzen herauszufordern.“ Die arrogante Gelassenheit in Shahaans Stimme ließ den Gesandten schaudern. Trotzdem verteidigte er den Standpunkt seines Herren nachdrücklich. „Mein Herr ist völlig sicher, dass Ihr nun im Besitz des Astrals seid, welches in die magischen Bahnen unseres Reiches eingeflochten war.“, setzte er an. Als hätte er seine letzten Worte nicht gehört, fuhr Lord Shahaan fort: „Lamerian hat genug Probleme im Landesinneren, jetzt, wo die magisch gebannten Gegner seines Vorgängers wieder befreit sind. Ehrlich, was verspricht er sich von dieser Herausforderung? Der magische Schutz des Rubinreiches ist noch völlig intakt. Die magischen Stürme, die euch plagen, berühren uns nicht. Alle Faktoren sind auf unserer Seite, also was soll das Ganze?“ Der Gesandte stutzte empört bei der unförmlichen Anrede seines neuen Lords, doch erst als Shahaan geendet hatte, wagte er, die Stimme zu erheben. „Ich möchte Euch doch sehr bitten, respektvoller von meinem Herren zu sprechen, Lord. Ich bin hier, um Euch von der Kriegserklärung in Kenntnis…“ Lord Shahaans Gesichtszüge verfinsterten sich kunstvoll. „Es ist genug! Seid ruhig!“. Kurz dachte er nach. „Ihr werdet im dritten Vorsaal warten, Gesandter Selibim!“. Die Drohung in der Stimme des Vampirdämons ließ den Boten erneut erschaudern und seine Wut über eine solch respektlose Behandlung unterdrückend entfernte er sich in Begleitung einer Saalwache. Nachdem sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten, richtete der Lord sich unversehens auf, seine Haltung wurde geschäftlicher und eines Regenten würdig. Seine Augen hatten Surell eingefangen und eine stille Begrüßung lag in seinem Blick. „Was hast du zu berichten, Surell? Ist an der Grenze zu Karigurou etwas vorgefallen?“. Surell hasste es, seinen Herren und Freund zu enttäuschen. Seine Augen wanderten schamvoll zu Boden. „Wir haben das Dorf Malidors Ruh an seine Truppen verloren, gestern Nacht“. Der aufmerksame Blick des Lords fixierte den Heerführer, wanderte über die frische magische Wunde am Kinn zu den zerschlissen wirkenden Kleidern. Der kurze Zorn verflog und wich der Berechnung. „Wie viele haben wir verloren?“ Der Lord machte ihm keinen Vorwurf, es war unerträglich. Surell fühlte die Schuld schwer auf seinen Schultern lasten. Hätte er nur einen klügeren Zug getan, wäre er doch nur besser vorbereitet gewesen! Immer noch sah er zu Boden. Remon wollte ihm nicht die Erlösung einer Strafrede schenken, stattdessen musste er selbst mit seinen Versäumnissen fertig werden. „47 der hohen Dämonenkrieger sind gefallen, Lord Shahaan“. Er zögerte. „Ich war gekommen, um Euch um weitere Truppen zu bitten. Ich werde das Dorf für Euch zurückgewinnen!“. Der Heerführer hielt bei Shahaans ablehnender Geste irritiert inne. „Was soll der respektvolle Ton, Surell?“ Die Augen des Kriegers weiteten sich. „Du willst mir die Männer verwehren, Remon?“. Mit einem Ruck richtete Surell sich zu voller Größe auf, jeder Muskel seines Körpers spannte sich. „Du hast es doch gehört. Ich werde Männer an der Achatgrenze brauchen. Lassen wir Karigurou doch dieses kleine Dorf.“, erklärte der Vampir seelenruhig. Er fürchtete nicht, die anwesenden Wachen und Diener könnten den Respekt verlieren, weil er Surell diese Art des Umgangs gestattete. „Ich kämpfe schon seit Monaten, um es endlich für uns zu sichern! Außerdem dachte ich, du nimmst diesen Lamerian nicht ernst!“ „Trotz allem ist er jetzt ein Lord und ich…“. Der Lord verstummte, während er seine Sinne anspannte. Surell folgte seinem Beispiel ebenso wie die anderen Anwesenden und entdeckte nun ebenfalls den Eindringling, der magisch beschleunigt auf den Rubinpalast zueilte. Es stank nach Alesans Männern. Etwas rührte sich in den Augen des Vampirdämonen. Er gab einigen Dienern einen Wink und sie eilten sofort aus dem Raum, um die unausgesprochenen Aufträge auszuführen. Mit einer Geste bedeutete er Surell, sich auf einem der Sitze links vom Thron niederzulassen. Shahaan selbst stand kurz auf, glättete die Falten seines Umhangs und setzte sich in so einer herrschaftlichen Pose auf den Thron, dass jeder, der ihn sah, vor Ehrfurcht erstarren musste. Geduldig erwartete der ganze Saal nun den überraschenden Besucher, der auf dem Weg zum Thronsaal von ungewöhnlich vielen rechtschaffenen Dienern aufgehalten wurde, denen er jedes mal etwas erzürnter seinen Namen, seinen Rang, seinen Herren und den Grund seines Besuches erklären musste, um dann eine Weile stehen gelassen zu werden, bis man ihm letztendlich Einlass gewährte. Der gesandte Lord Alesans wirkte äußerst wütend, als die letzte Tür vor ihm langsam aufgezogen wurde. Der erste Kammerdiener eilte mit gesenktem Blick herein und warf sich theatralisch zu Boden, als er den Ankömmling ankündigte. „Mein Lord, vergebt mir die Störung. Ein Gesandter des Lords Alesan, der hohe Dämon Fernais Malevue begehrt eine Unterredung mit Euch. Seid ihr geneigt, ihn zu empfangen?“ „Lasst ihn eintreten“, donnerte die würdevolle Stimme des Vampirdämonenlords und unter unzähligen Verbeugungen eilte der Diener zur Tür, um Malevue hereinzugeleiten. Surell beobachtete den Lord genau. Er wusste, was jetzt kommen würde, der Diener hatte den Anlass dazu gegeben. Der Gesandte war zwar ein hoher Dämon, doch er schien keine namhaften Vorfahren zu haben. Angestrengt unterdrückte der Heerführer den Drang zu lachen und seine Hände krampften sich in die Armlehnen, als er Malevue so arrogant wie möglich von oben bis unten musterte. Lord Shahaan bedachte Alesans Laufburschen mit einem ungefälligen Blick. „Los, sprecht rasch! Ich habe zu wenig Zeit, als dass ich sie an irgendeinen dahergelaufenen Boten verschwenden könnte. Welche Botschaft habt Ihr für mich?“ Mit innigstem Vergnügen beobachtete Surell, wie Malevues Körper vor Wut zu beben begann, doch er wagte es nicht, gegen den Lord aufzubegehren. Mit aller Macht hielt er seine Aura zurück, um den Zorn Shahaans nicht auf sich zu lenken. Ein typischer Feigling, der sich leicht einschüchtern ließ. Ganz, wie Surell von Lord Alesans Diener erwartet hatte. Zugegeben, nur wenige hatten die Macht, gegen Shahaans Charisma zu bestehen. Doch ein würdiger Vertreter eines Lords musste Augen haben, deren Blick nie bricht. Der Gesandte trat vor und deutete eine leichte Verbeugung an. „Werter Lord Shahaan. Ihr habt eines der Astrale unseres Landes entwendet. Mein Lord Alesan verlangt hierfür eine Erklärung und fordert das geraubte Astral mit sofortiger Wirkung zurück. Es-“ Shahaan war aufgesprungen, seine Augen flackerten, sein Umhang bauschte sich im astralen Wind seiner Wut. „Du wagst es? Ein namenloser Dämon wie du wagt es, hierher zu kommen und mich, einen der vier Lords dieser Welt völlig grundlos des Diebstahls zu bezichtigen?“. „Herr, es gibt Beweise…“, setzte Malevue noch einmal an. Der Raum erbebte. „Wie bitte?“, donnerte die Stimme des Vampirlords. „Herr, Ihr wurdet gesehen. Lord Alesan ist sehr erzürnt. Er droht Euch mit einer kriegerischen Auseinandersetzung, falls das Astral nicht sofort an seinen Platz zurückkehrt!“ „Alesan scheint ja sehr nachlässig geworden zu sein, wenn er so einen unfähigen Unterhändler wie dich zu mir schickt. Du bist eine Beleidigung für all meine Sinne. Du Unwürdiger besitzt die Unverschämtheit, vor mich zu treten und mir den Krieg zu erklären? Einem dahergelaufenen Boten werde ich keine Beachtung schenken, einem namenlosen, selbsternannten hohen Dämon wie dir nicht! Du solltest vor Dankbarkeit zerfließen, dass ich dich nicht auf der Stelle in Staub verwandle! Wie kannst du es wagen? Verschwinde hier! RAUS!“ Das Wüten Shahaans riss die Tür auf und Malevue schlitterte rückwärts auf den Ausgang zu. „Und richte Lord Alesan, wenn er dein wahrer Herr ist, aus, er solle das nächste Mal einen würdigeren Dämon als Boten schicken, falls er keine kriegerische Auseinandersetzung mit meinem Reich riskieren will! Ich werde mich solange mit Wichtigerem beschäftigen! Seine Botschaft empfange ich gerne, wenn ich aus dem Krieg gegen Lamerians Truppen zurückgekehrt bin.“ Malevues Züge verfinsterten sich, als er durch Shaaans Magie aus dem Raum geschmissen wurde. Hinter der zugeklappten Tür hörte Surell ihn wüten und als er spürte, wie Alesans Gefolgsmann begann, Magie zu wirken, richtete er einen fragenden Blick an den Vampirdämon, der inzwischen wieder selbstgefällig grinsend auf seinem Thron saß. Er nickte und Surell verschwand aus dem Saal. Als er zurückkehrte, klebten Blutspritzer an seiner Kleidung. Er grinste. „Ich hoffe, du hast genug von ihm übrig gelassen, um Alesan meine Botschaft auszurichten, Surell“, sprach der Lord, ohne sich zu ihm umzudrehen. Die Gefolgschaft war aus dem Thronsaal verschwunden, nur zwei Dienerinnen waren zurückgeblieben, um dem Lord beim Umkleiden behilflich zu sein. Die eine brachte das festliche Gewand weg, das Shahaan eben noch getragen hatte, während die andere dem Lord seine Waffengurte umschnallte. „Ich habe mich entschieden, Lamerian platt zu machen. Seine Aufdringlichkeit ärgert mich. Außerdem hat man von seiner Grenze aus eine bessere Ausgangslage, um Alesan anzugreifen. Außerdem muss ich auf diese Weise zunächst keine Rechenschaft vor Alesan ablegen, das gebieten die alten Kriegsvereinbarungen und Alesan ist so dumm sich an diese zu halten. Ich habe Lamerians Gesandtem schon Bescheid gegeben. Er floh so schnell wie der Wind.“ Der Lord lachte. Seine Hand tätschelte sein treues Schwert Hadesschatten. Die Entscheidung des Lords überraschte den Heerführer und ärgerlich dachte er an ihre kürzliche Auseinandersetzung zurück. „Du postierst meine Männer also an Lamerians Grenze?“ „Ja, das werde ich. Ich werde die Boten entsenden, um alle nötigen Truppen an seine Grenze zu bewegen.“ „Dann werde ich selbst meine Truppen benachrichtigen“, schloss Surell, verabschiedete sich mit der Andeutung einer Verbeugung und eilte auf die Tür zu. Doch noch ehe er sie erreichte, holten ihn die scharfen Worte des Vampirs ein. „Nein, Surell! Du wirst diesmal keine Truppen führen.“ Einen Moment lang setzte das Herz des Heerführers aus und eine erdrückende Stille nahm den Raum gefangen. Konnte der Lord das gemeint haben, was er gerade gehört zu haben glaubte? Ruckartig drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte wütend auf seinen grausamen Herren zu. „Du willst mir die Führung entziehen, Vampirdämon?“, raunte seine Stimme hasserfüllt. Die beiden mächtigen Dämonen standen sich gegenüber, die scharfen Klingen ihrer Schwerter felsenfest gegeneinander gepresst. Eine schiere Unendlichkeit lang standen sie bewegungslos. Ein eiserner Kampf, Wille gegen Wille. Dann sprach der Lord. „Ich brauche dich hier im Palast. Es sind Fähigkeiten wie deine gefragt“, begann er mit besänftigender Stimme, doch Surell holte aus und schlug vorwurfsvoll noch einmal den Stahl seiner Klinge gegen Hadesschatten. „Komm mir nicht damit! Ich weiß genau, dass du mich damit für mein Versagen bestrafen willst! Wie kannst du mich nur so demütigen? Ich werde das nicht hinnehmen!“ Das Gesicht Shahaans blieb unbewegt. „Dies ist keine Strafe, sondern ein Auftrag höchster Wichtigkeit. Und selbst wenn es eine wäre, hättest du zu folgen!“, sprach der Lord ruhig, aber bestimmt weiter. „Ich beauftrage dich hiermit, Mylady Mireylle, die ich in diesen Palast mitgebracht habe, unter Einsatz deines Lebens zu beschützen.“ Aufgebrachte Blicke durchbohrten den Lord, doch er war sich seiner Entscheidung sicher. Mireylle musste geschützt werden und sie durfte nicht zur Schlacht mitkommen. Das würde alles nur komplizierter machen. Außerdem wollte er sie nicht in seiner Nähe haben. Aus irgendeinem Grund bereitete ihre Gegenwart ihm seit kurzem Unbehagen. Sie hatte sein Leben gerettet, doch wieso sie dazu fähig gewesen war, war ihm immer noch nicht ganz klar. Allerdings hatte sie eine tiefe Verbindung zu seinem Geist aufgebaut und zu viele Einblicke in sein Wesen gehabt. Irgendwie fühlte er sich nun verletzlich, wenn er bei ihr war. So ganz konnte er sich diese Anhäufung von Ängsten und Gefühlen nicht erklären, doch er befürchtete, sie könnte irgendeine Art magische Bindung zu ihm hergestellt haben, die er nicht abschütteln konnte. Und die Besorgnis, die ihn während der Tage ihrer anhaltenden Ohnmacht erfüllt hatte, war ein ihm ein so unbekanntes und abstoßendes Gefühl, dass er sie am liebsten so weit wie möglich von sich weg haben wollte. Widerwillig begann er seine Entscheidung in Frage zu stellen. Hatte er sich auf diesen Krieg mit Lamerian nur eingelassen, um ihr zu entfliehen und wieder einmal einfach nur kaltblütig morden zu können? Begann seine so lang verschlossene dämonische Natur nun hervor zu brechen? Nein. Er wollte Lamerian beseitigen. Je weniger Reiche sich seinen Plänen widersetzten, desto besser. Auf diese Weise würde er uneingeschränkten Zugang zu jedem Ort des Achatreiches haben. Es würde seine Suche deutlich erleichtern. Allerdings war Shahaan sich in Bezug auf Lord Alesan noch nicht ganz sicher. Ein weiteres Reich einzunehmen bedeutete eventuell, den Ärger des Fürsten auf sich zu ziehen. Etwas, das der Vampirdämon sich im Moment noch nicht leisten konnte und wollte. Der Fürst würde ihm noch früh genug in die Quere kommen. Und Mireylle brauchte er noch. Nicht nur ihre Fähigkeit, die magischen Bannkreise urzeitlicher araguanischer Magie zu durchdringen, sondern auch die verborgenen Talente, die sich zeigten und vielleicht noch zeigen würden, reizten seine Neugier. Das Schimmern der Edelsteine sprang von Wand zu Wand des großen Raumes und huschte spielerisch über die golddurchwirkten Tapeten und die vergoldeten Rahmen der Gemälde, um sich dann in der Weite des Raumes zu verlieren und, mehr als Ahnung einer Reflektion, denn als tatsächliches Licht, die altertümlichen Sessel mit den spiralenartigen Armlehnen zu streifen, die am prächtig mit Schnitzereien verzierten Holztisch mittig im Raum aufgestellt waren. Die Mittagssonne schien hell in den Raum und ließ die Wärme draußen erahnen. Die geschäftigen Laute im Raum verklangen, als es drei Male bedeutungsschwer an der Tür klopfte. „Einen Moment!“, ertönte Mireylles Stimme, etwas gepresster und unglücklicher, als es ihr eigen war. Lautes Rascheln und leises Keuchen gefolgt von Mireylles gedämpftem Gezeter erklang, gefolgt vom raschen Trippeln schneller Füße. „Wir sind soweit, mein Herr“, erklärte Marissa, die die Ungeduld des Lords spüren konnte und sofort flog die schwere Eingangstür auf. Lord Shahaan trat in Surells Begleitung ein und seufze, als er weder Mireylle noch die Näherin erkennen konnte. Die Beiden standen hinter der in einer Raumecke spontan aufgestellten Trennwand und arbeiteten daran, das Mädchen aus dem unfertigen Kleid heraus und in ein gesellschaftsfähiges hinein zu bekommen. Nach einigen Momenten der Eile spazierte eine rothaarige junge Dame in einem hellblauen langen Kleid, welches türkis schimmerte, hinter der Blicksperre hervor und strich verlegen eine Strähne ihres zerzaust wirkenden Schopfes hinter das Ohr. Den Blick hebend entdeckte sie den Heerführer und indem sie sich der belehrenden Worte Arianas besann, grüßte sie den Unbekannten höflich. Er deutete eine leichte Verneigung an, doch der sanfte Hauch von Arroganz schimmerte trotzig in seinen Augen. Es handelte sich offensichtlich um einen Dämon. Dies zu erkennen gehörte zu den Fähigkeiten, die sie sich in den wenigen Tagen im Rubinpalast angeeignet hatte. Es war in den meisten Fällen auch nicht allzu schwer. Beinahe jeder Dämon, besonders unter den Mächtigen, die am Hofe lebten, hatte eine exotische Haar- und Augenfarbe, wie auch der unbekannte Dämon mit den dunkelgrünen Haaren, den Shahaan in ihre Gemächer mitgebracht hatte. Mireylle musterte ihn genau, um das von Gelb durchzogene Braun seiner Augen zu erkennen und unwillkürlich wanderte ihr neugieriger Blick immer wieder zu der grauen Narbe am Kinn des Dämons. Bis jetzt hatte sie geglaubt, Dämonen könnten jegliche Wunden heilen, und hatte sich damit die Makellosigkeit der stärkeren Dämonen erklärt. Nach einem weiteren Blick erkannte Mireylle hinter der Haarpracht des Fremden sogar die leichte Neigung zu Spitzohren, die sämtlichen Dämonen eigen war. Dieses Merkmal war stichhaltig, wenn man es denn erkennen konnte, denn die Verformung war wirklich nur minimal. Wie Ariana ihr erklärt hatte, handelte es sich dabei um ein vererbliches Merkmal, welches durch die erste wahrhaft dämonische Tat hervortrat. Um was für eine Tat es sich handelte, hatte Ariana mithilfe einer ablenkenden Phrase verschwiegen. „Dies ist der hohe Dämon Surell Haguren, Sohn des mächtigen Deridras Haguren und seiner edlen Ehefrau Visanine, Heerführer der Osttruppen.“, stellte der Lord seinen Begleiter förmlich vor. Beinahe schon unwillkürlich analysierte Mireylle die Aussage. Shahaan hatte ihr nicht nur mitgeteilt, dass es sich um einen hohen Dämon und Heerführer handelte, sondern auch seine Herkunft eingehend erläutert. Surell Haguren stammte von reinblütigen hohen Dämonen ab. Sein Vater war in der Schlacht gestorben, eine Botschaft, die durch den Ausdruck „mächtig“ vermittelt wurde. Die Mutter hatte nicht als Dämon im Krieg gekämpft und war daher eine „edle“ Frau. Sie war noch am Leben, sonst hätte sie „ehrenwert“ gehießen. „Und dies, Surell Haguren, ist Mylady Mireylle, deren Sicherheit ich in deine fähigen Hände lege.“. Bei dem Wort „Mylady“ zuckte etwas in Hagurens Gesicht und nicht zum ersten Mal vermutete Mireylle, diesem Wort läge eine ihr noch unbekannte, tiefere Bedeutung zugrunde, denn alle anderen Damen im Palast wurden nur mit „Lady“ angesprochen. Doch wie schon einige Male zuvor legte sie die in ihr brodelnde Frage beiseite, die niemand bereit war, ihr zu beantworten. „Ihr wollt mir eine Wache zur Seite stellen, Lord Shahaan?“, fragte sie stattdessen mit unzufriedenem Unterton. Verblüfft bemerkte Mireylle, wie sehr sie sich schon an die altertümliche Sprechweise gewöhnt hatte, mit der sie es nun den ganzen Tag zu tun hatte. Zu Anfang hatte sie sich immer Shahaans Sprache angepasst, die sie verdächtig an die alten Romane erinnerte, die sie einst in der Schule hatte lesen müssen. Die hierarchischen Systeme in dieser Welt glichen der Renaissance ihrer Welt, obgleich die Entwicklungen sich geringfügig unterschieden. Doch langsam wurde Mireylle in ihrer Wortwahl sicherer. Arianas täglicher Unterricht trug mit Sicherheit seinen Teil dazu bei. Shahaan hob eine Augenbraue, ein belustigter Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Surell Haguren ist keinesfalls eine gewöhnliche Wache. Seine Aufgabe ist es, Euer Leben zu behüten, Mylady. Er wird Euch bei all Eueren Unternehmungen außerhalb dieser Gemächer Gesellschaft leisten. Dies ist während meiner Abwesenheit zwingend notwendig, denn, auch wenn die Dämonen gelernt haben, sich meiner Herrschaft zu beugen, ihre Natur ist und bleibt intrigant und eigensinnig.“. Der Lord lächelte und einleichtes Glimmen erschien in seinen Augen. „Eurer Abwesenheit, Lord Shahaan?“, hackte Mireylle alarmiert nach. Sie hatte nicht damit gerechnet, allein im Schloss zurückgelassen zu werden, auch wenn es ihr hätte klar sein müssen. „Wie es seit der vorigen Woche klar ist, stehe ich im Krieg mit einem anderen Lord. Ich werde, wie es der Brauch ist, selbst an dieser Schlacht teilnehmen. Macht Euch bitte keine Sorgen“, setzte er rasch noch hinzu, als er den Ausdruck in Mireylles Gesicht sah, „Es handelt sich hier um einen Krieg, der nur auf eine Machtprobe zwischen mir und dem jüngst zur Macht gekommenen Lord Lamerian hinausläuft. Ein Kräftemessen, bei dem ich unmöglich unterliegen kann.“. Er schaute sie an. Sie schien nicht wirklich beruhigter zu sein. „Es ist wirklich keine große Sache, Mylady Mireylle. Etwas beinahe alltägliches in dieser Welt.“. Noch immer trat keine Veränderung ein. Ihr Gesicht zeigte Angst und noch immer vernahm der Lord das schnelle Hämmern ihres Herzens. Er wollte sie zuversichtlicher stimmen, sie ruhig und von Furcht befreit wissen. Fast wünschte er sich, den Krieg nie angezettelt zu haben. Mit einem Mal entbrannte heißer Zorn in dem Vampirdämon. Zorn auf dieses schwächliche Mädchen, die fähig war, seinen klaren Verstand zu manipulieren. In einer dämonischen Regung öffnete er den Mund zu einer barschen Bemerkung, doch etwas hielt ihn zurück. Er durfte sie vor Surell nicht unhöflich behandeln, sonst würde ihr Wert in dessen Augen augenblicklich sinken und ihn dazu bewegen, seine Aufgabe erneut an zu zweifeln. Zudem konnte es auch zu einem schlechten Verhältnis zwischen den beiden führen und im Moment musste er das Mädchen bei Laune halten. „Sobald ich zurückkehre, werde ich einen kleinen Ball geben, damit Ihr Euer neues Ballkleid ausführen könnt, Mylady, welches Euch sicher ebenso wunderbar ziert, wie dieses. Bis dahin verabschiede ich mich schon einmal von Euch, Mylady.“. Sich tief vor ihr verbeugend ergriff der Lord Mireylles Hand und küsste sie. „Ich hoffe, Euch bei meinem Aufbruch am heutigen Abend noch einmal zu Gesicht zu bekommen, Mylady“, erklärte der Lord, kurz bevor er zusammen mit seinem Begleiter das Zimmer verließ. Mireylle stand noch immer verwirrt und regungslos mitten im Raum, als er die Tür hinter sich schloss. Als sie am Abend zusammen mit Ariana und bereits von Surell Haguren gefolgt auf den Hof hinaus spazierte, fühle sie sich noch ebenso zerstreut. Eine große Menge von höfischen Dämonen hatte sich auf dem großen Platz versammelt und hier und da konnte Mireylle ein bereits bekanntes Gesicht erkennen. Skeptisch beobachtete sie, wie die hohen Dämonen eine Gasse vor ihr bildeten und sie damit bis vor zu dem stolzen und mächtigen Thevir, in dessen Sattel Lord Shahaan in prächtigen Kriegsgewändern saß, ließen. Sie blickte sich Hilfe suchend nach der weisen Ariana um, doch diese nickte ihr nur zu. Zögernd setzte Mireylle den Weg fort. Der Lord schenkte ihr ein einnehmendes Lächeln und sprach einen förmlichen Gruß, doch sie spürte, wie sich die Blicke der anderen in ihren Rücken bohrten, nachdem er das Wort „Mylady“ ausgesprochen hatte. Durch die viele Aufmerksamkeit verwirrt und verlegen senkte Mireylle den Blick, während sie seinen Gruß förmlich erwiderte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihr Kleid würde nicht im Dunkeln nicht nur schimmern, sondern fluoreszieren. Zu ihrer Überraschung sprang Lord Shahaan von seinem Thevir und hob mit den Fingerspitzen ihr Kinn. Sie sahen sich in die Augen. Wollte er sie aufbauen, weil sie so offensichtlich den Kopf hängen ließ? Sie vor den anderen an ihren Stolz erinnern? „Senke niemals den Kopf“, hatte Ariana ihr immer wieder gesagt. Ihr Blick versank in seinen leuchtenden Augen, als der Moment sich hinzog. Völlig unerwartet näherte Shahaan sich ihr und küsste sie. Hinter sich hörte Mireylle Arianas erschrockenes Einatmen die plötzlich eingetretene Stille zerreißen. „Shahaan“, keuchte Mireylle. Doch dieser legte sanft einen Finger auf ihre Lippen. „Mein Vorname ist Remon, Mylady“. Ein weiterer Kuss folgte. „Auf bald!“, flüsterte der Lord und schwang sich auf seinen Thevir. Im Handumdrehen war er in der Ferne verschwunden und ritt seinen Truppen hinaus, die unweit der Hauptstadt postiert worden waren. Wie das Brausen des Meers erhob sich das allgemeine Geflüster, während Mireylle von Ariana sanft zurück in den Palast bugsiert wurde. Surell folgte ihnen still. Vor Mireylles Gemächern gab Ariana dem Heerführer ein Zeichen zu warten. Nach einer Weile trat sie hinaus und die beiden Dämonen spazierten Seite an Seite den langen Gang entlang und die Treppe hinauf zu den Gemächern Arianas. Erst nachdem sie die Tür sicher verschlossen wusste, brauste sie auf: „Was hat er sich nur dabei gedacht? Das Mädchen ist völlig durcheinander!“. „Na was wohl? Vermutlich das Selbe wie bei der Vergabe dieses Titels an ein Menschenmädchen!“ „Aber was sollte das? Jetzt hat er die dämlichen Gerüchte bestätigt und noch weitere geschürt. Was sollte ihm das bringen, Surell?“, sprudelte Ariana hervor. „Jetzt wissen alle Bescheid, dass sie dem Lord wichtig ist, Ariana. Das bietet ihr zusätzlichen Schutz. Sie haben sich so wie so schon ihren Teil zusammengereimt. Er hat ihnen eine entsprechende Show geliefert. Die Fähigkeiten dieses Mädchens scheinen ihm wirklich viel wert zu sein, so wie er darauf bedacht ist, sie zu behüten.“ „Aber wieso musste er sie denn gleich zur Mylady machen? Ich verstehe es nicht! Und sie auch nicht. Sie hat keine Ahnung.“. „Denk an die alte Magie, von der die Mylady geschützt wird, Ariana. Sie ist kein Dämon, weshalb er ihr allen magischen Schutz zur Verfügung stellen musste, den er konnte.“ „Wir dachten, er würde niemals eine Mylady erwählen!“. Ein Schatten huschte über Arianas Gesicht, dem eine einzelne Träne folgte. Surell seufzte und zog die schöne Gestalt an sich. „Ein hoher Dämon sollte sich nicht so sehr seinen Gefühlen hingeben, Ariana.“, sagte er sanft und strich über ihr Haar. „Außerdem ist sie nur ein Spielzeug in seinen Händen. Es hat nicht die Bedeutung, die es unter anderen Lords hätte. Shahaan würde niemals eine Mylady in diesem Sinne auswählen, daran hat sich nichts geändert. Für ihn ergibt dieses System keinen Sinn, das wissen wir doch schon lange“. Ariana hatte sich beruhigt und schaute nun wieder von ihrem üblichen Charme umgeben zu ihm auf. Sie lächelte. „Bleibst du?“, fragte sie mit samtener Stimme. Ohne Zögern nickte der Heerführer lächelnd. Sie verschmolzen in der Berührung ihrer Lippen. ----------------------------------------------------------- Noch immer fassungslos saß Mireylle auf ihrem Bett und starrte die verzierte Wand an, ohne diese tatsächlich zu sehen. Der Lord benahm sich äußerst seltsam, seit er vom Fluch des Astrals getroffen worden war. Gleich nach ihrer Ankunft in seinem Palast hatte er in aller Eile Gemächer für Mireylle ausgesucht und ihr Ariana als Lehrerin und Gesellschafterin zugeteilt, woraufhin sie ihn beinahe eine Woche lang nur zu den Mahlzeiten zu Gesicht bekommen hatte. Mireylle fragte sich, ob er wohl zornig war, weil sie seine Seele aufgesucht hatte, weil sie ein wenig Einblick in sein Innerstes gehabt hatte. Nicht, dass ihr seitdem irgendetwas in Bezug auf Shahaan klarer geworden wäre. Oder doch? Das Meiste war nur ein Gewirr aus Satzfetzen gewesen und hatte ihr seine Bedeutung nicht eröffnet. Gut, sie hatte ihn in verschiedenen Altersstufen erlebt, aber verriet es so viel von ihm? Sich auf das Bett fallen lassend dachte Mireylle an ihre Kindheit und Jugend zurück und seufzte. Es verriet dem geschickten Beobachter nahezu alles. Erst jetzt wurde ihr klar, wie aussagekräftig ihr Erscheinungsbild immer gewesen war. Trotzdem verstand sie Shahaans Verhalten nicht ganz. Was sollte das bei seiner Abreise? Was hatte er mit diesem Kuss eigentlich bezweckt? Wie hatte die Wärme seiner Lippen ihr Herz schmerzen und ihren Stolz schreien lassen! Wütend schlug Mireylle beide Hände vor ihr Gesicht. Zornesheiße Tränen zerrannen zwischen ihren Fingern, während ihr Herz stürmisch pochte. Er hatte sie verwirrt und sie spürte beinahe, wie sehr es ihn amüsierte. Er spielte nur zu gerne mit Gefühlen, das wusste sie, doch dieses Wissen änderte nichts daran, dass er Meister dieser Kunst war. Aber so einfach würde sie Shahaans Charme nicht verfallen. Schon seit sie von seiner Rache an Simon wusste, hatte Mireylle sich versprochen, niemals zu dem Werkzeug dieses uneinschätzbaren Wesens zu werden, wie sehr er sie auch lockte. Einen unendlichen Moment lang lag sie still, verdrängte jeglichen Gedanken aus ihrem Geist, bis nichts blieb, außer purem Gefühl. Ihr Geist schwang im Einklang mit dem unruhigen Rhythmus dieser Welt. Stille, grenzenlose Stille. Mit einem plötzlichen Ruck sprang Mireylle auf, die Augen in Ehrfurcht vor der Tragweite ihres grimmigen Entschlusses geweitet. Dies war nicht ihre Welt, nicht der Ort, an den sie gehörte. Hier war sie nur ein Spielzeug in den Händen derer, die mächtiger waren als sie, ein Gast, eine Gefangene. Und ein ewiger Sklave ihrer eigenen Unwissenheit. Nein, hier gehörte sie einfach nicht hin. Sie musste zurückkehren! Zurück in ihre eigene Welt, wo sie ihr Geschick noch weitgehend selbst bestimmen konnte. Sie konnte neu anfangen, wo immer sie auch landete. Sie würde einen Weg finden, schließlich kannte sie die Spielregeln. Aufgeregt rannte Mireylle zum Schrank und holte alles heraus, das sie aus ihrer Welt hierher mitgebracht hatte. Nachdem sie sich eilig umgezogen hatte, setzte sie den Rucksack auf und schaute sich noch einmal gedankenverloren im Raum um. Ein wenig bedauernd schloss sie letztendlich die Augen und konzentrierte sich auf den Rhythmus der Welten. Sorgfältig unterschied sie die beiden Schwingungen und trennte sie voneinander. Die Schwingung ihrer Welt war schwach an diesem Ort, doch trotzdem war Mireylle fähig, sie zu erkennen. Langsam begann sie, ihren Geist mit dieser Schwingung in Einklang zu bringen, den eigensinnigen Rhythmus ihrer Welt zu verinnerlichen. Unerwartet schoss eisige Kälte durch ihren Körper, ihn wie ein eisiges Feuer verbrennend. Erschrocken und weinend vor Schmerz riss sie die Augen auf, doch sie erkannte kaum Etwas. Schemenhaft loderte das Bild des Palastzimmers vor ihren Augen auf, als würde sie durch blaues Feuer der Kälte hindurch schauen. Es riss ihr beinahe die Haut vom Leib und machte sie nahezu besinnungslos vor Schmerz. Ein Schatten erschien dort, wo die Tür sein musste. Mireylle öffnete den Mund, um zu schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor. Der Schatten vollführte verschwommene Bewegungen und plötzlich erschien mitten in der Luft vor ihr ein grellrotes Zeichen, dessen komplexe Linienführung sie glasklar erkennen konnte. Einen kurzen Augenblick dauerte es noch, dann verschwanden die Eisflammen und ihr Körper fühlte sich angenehm taub an. Vor ihr stand der Heerführer. Sie registrierte das Fehlen seiner Oberbekleidung und, nachdem ihre Knie eingeknickt waren, auch Ariana, die im Morgenmantel in der Tür stand. Dann verlor sie die Besinnung. Einem Vorboten des Unterganges gleich zog die Dunkelheit über dem Dorf herauf. Angst und Schmerz lagen bleischwer in der Luft und umschlossen alles mit ihrem eisigen Griff. Schwermütig und übermächtig wogte die Verzweiflung durch die Herzen, erstickte jegliche Hoffnung schon im Keim und tötete nach und nach jedwedes Gefühl. Mahalin starrte. Sie sah und konnte doch nichts erkennen. Den bei ihr ankommenden Bildern konnte sie eine Bedeutung zuordnen. Ihr geliebter Ehemann lag vor ihr auf dem Boden. Ganz rot. Und sein Kopf lag einen halben Meter von ihm entfernt. Seine Augen blass und leer. Der zerfetzte Körper ihres Söhnchens lag nahe der Tür. Gerade hatte sie ihn noch in ihren Armen gehabt. Dann hatte der Dämon ihr ihn entrissen. Stählern umfasste seine Hand Mahalins Handgelenk, sein Blick voller Freude und Gier auf ihren halb entblößten Körper gerichtet. Während sie seinen Willen teilnahmslos über sich ergehen ließ, dankte sie Erde, Himmel und dem Fürsten. „Oh ihr Mächte! Euch sei Dank, dass ich meine kleine Lazina in den Wald geschickt habe! So hat sie wenigstens eine geringe Chance. Zumindest schenkt es ihr wertvolle Minuten. Ich bitte Euch… gebt ihr eine Chance!“. Ihre Gedanken schwiegen, während der Letzte Funken Hoffnung aus ihr rann, wie Blut aus einer offenen Wunde. Müde schloss sie die Augen, um sich den Anblick des Dämonenkriegers zu ersparen während die Zeit sich bis ins Unendliche zog. Ihr Körper zuckte, dann erschlaffte er wieder. Unfähig zu einer weiteren Regung lauschte ihr verlöschender Geist den schweren Schritten fester Schuhe vor dem Haus, dem Knistern der Flammen und den Schreien von Stimmen, die ihr vertraut gewesen waren. Seiner eigenen Aufregung entsprechend beschleunigte Fernais Malevue seinen Schritt, als er auf den östlichen Schlossgarten und damit seinen Herren zulenkte. Eine Verbeugung andeutend näherte er sich dem Lord. „Ich habe schlechte Nachrichten“. Lord Alesan reagierte nicht und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Zielen. Mit aller Ruhe kniff er das linke Auge zu und fixierte seinen Blick am Pfeil entlang auf die Zielscheibe. Seine schulterlangen, goldenen Puppenlocken zitterten vor Anspannung, doch seine feingliedrigen Finger hielten Pfeil und Bogen trotz der starken Spannung felsenfest und sicher. Der Pfeil traf die fünfhundert Meter entfernte Zielscheibe genau in der Mitte. Ein selbstzufriedenes Grinsen im Mundwinkel drehte der Lord sich geschmeidig zu Malevue um. „Was ist es Fernais? Sag bloß, Remon wollte das Astral nicht rausrücken?“. Bei Malevues zögerlichem Nicken wurde das Grinsen des Lords breiter. „Hmmmm, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als unsere kleine Drohung wahr zu machen?“. Kindliche Freude klang aus Alesans Stimme. Malevue senkte den Kopf. Er zögerte. Das jugendliche Erscheinungsbild seines Herren sollte einen nicht vergessen lassen, welch einen Dämonen man vor sich hatte. Alesan war mächtig. So mächtig, dass er sich leisten konnte, jeglicher Laune nachzugeben. Verstimmte man ihn, konnte das das Letzte gewesen sein, was man in seinem Leben getan hatte. „Lord Shahaan steht im Krieg mit dem neuen Herrn des Achatreiches, Lord Alesan“. In gespannter Erwartung blickte Malevue zu Boden. Eine Zornesfalte, die so gar nicht zum Puppengesicht des Lords passen wollte, bildete sich auf dessen Stirn. „Du meinst, ein richtiger KRIEG? Mit Beteiligung der Lords? Kein Geplänkel an der Grenze?“. Malevue nickte nachdrücklich und das Gesicht Alesans begann sich vor Wut zu röten. Die Finger wurden bleich, wo sie sich um den Bogen schlossen, dessen Holz unter dem Druck zu knirschen begann. In seiner Wut erinnerte der Lord an ein wütendes kleines Mädchen, doch die Lächerlichkeit dieser Tatsache wurde durch die zerstörerische Macht, die aus ihm strömte, völlig überdeckt. Es machte jeden in der Umgebung schaudern. Aus der Gruppe, die dem Lord bei seinen Zielübungen Gesellschaft geleistet hatte, trat ein Dämon hervor und legte dem Lord beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Was solls? Wir sind im Recht, wir sollten das Rubinreich trotzdem angreifen!“ Malevue sah hoffnungsvoll zum Sprecher auf und dankte ihm im Stillen für seinen Mut. Doch der Lord ließ sich dadurch keinesfalls beruhigen, er explodierte förmlich vor Wut, die Stimme halb aggressiv, halb hysterisch, als er den Dämon ohne sich umzudrehen anschrie. „Es ist das Gesetz des Fürsten! Es ist sein Gesetz, dass ein Lord, der bereits im Krieg steht, nicht von einem weiteren Reich angegriffen werden darf! Ich werde nicht so dumm sein, mich darüber hinweg zu setzen! Ich werde nicht so dumm sein, seinen Zorn auf mich zu ziehen! Er ist erbarmungslos! Seht, was er mit Virayal, dieser alten Schlange, angestellt hat! Nicht mehr als ein Häufchen Asche ist von ihm übrig geblieben, und dabei ist der Grund für die Bestrafung noch nicht einmal klar ersichtlich! Einfach so! Ich werde nicht so verdammt dämlich sein, seinen Zorn durch einen solchen Gesetzesbruch mit voller Absicht auf mich zu ziehen!“ „Shhhhhh…“, hauchte Anareas, der nun beide Hände auf die Schultern des Lords gelegt hatte. Seine Finger glitten langsam unter die goldenen Locken und massierten sanft die Kopfhaut des Lords, sein Gesicht hatte er bereits in der Lockenpracht versenkt. „Beruhige dich, Villy.“, hauchte er. Der Lord hatte die Augen geschlossen, seine Züge wirkten entspannt. Beschämt senkte Malevue den Kopf. Diese Dinge gingen ihn nichts an, er war nur ein Gesandter. Außerdem war das die perfekte Gelegenheit zu gehen und damit sein Leben zumindest für eine Weile zu behalten. Als Lord Villian Alesan seine Augen einen Spaltbreit öffnete, verbeugte Malevue sich mehrmals und verließ nach Alesans gewährendem Nicken die Gruppe in Richtung des Schlosses. Seine Schritte lenkte er ohne weiteres Nachdenken auf einen bestimmten Flügel des Schlosses und bestimmten Gemächern zu. Zahlreiche Saphire schmückten die Tür, an die seine Hand leise klopfte. Das Schloss klickte während Magie die Tür aufgleiten ließ. Gehorsam trat Malevue ein und schaute sich in dem vertrauten Raum um. Als er sie erblickte, machte er eine tiefe Verbeugung. Sie mochte es so. „Mylady Deiedra. Es ist, wie ihr es sagtet. Lord Shahaan lehnt nicht nur die Rückgabe des Astrals ab, sondern entzieht sich auch dem angedrohten Krieg durch einen Trick, wenn man es so nennen mag.“ Die Mylady saß in ihrem prächtigen Sessel und lächelte gelassen. Sie war der schönste weibliche Dämon des Reiches und wer weiß, vielleicht der ganzen Welt. Man war geneigt, es zu glauben, wenn man ihren wundervollen Körperbau, ihre edlen Züge, ihre lange, formvollendete Lockenpracht, die sich schwarz über ihre Schulter ergoss, und ihre fesselnden, tiefgrünen Augen sah, in denen man sich vergessen konnte. Ihre Finger spielten mit einer Locke. „Wie hat er es denn gemacht? Hat er sich auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Lamerian, diesem Hitzkopf, eingelassen?“. Erneut lächelte sie, als Malevue nickte. „Ja, das passt zu ihm. Wenn er schon gegen Alesan kämpft, dann will er ihn auch in den Boden stampfen. Und das geht von der Achatgrenze aus weit besser, vor allem, wenn man im Besitz der achatenen Bergtruppen ist. Und das wird er schaffen. Lamerian mag ein mächtiger Dämon sein, doch er gehört weder zu den Klügsten, noch zu den Geschicktesten, wenn es ums regieren geht, das hat er in den letzten Tagen deutlich gezeigt. Ich frage mich, ob mein Freund Sarabias das nicht auch sieht? Na ja, vielleicht ist ihm die Aussicht auf den Titel eines Lords nicht mehr ganz so angenehm, nach der Art des Todes, den der gute Virayal sterben musste. Wie hat mein Lord darauf reagiert, Fernais?“ Malevue begegnete ihrem neugierigen Blick und eine leise Ahnung beunruhigte ihn. „Er hat getobt, Mylady“. „Das war mir schon klar“, zischte sie ungeduldig. „Was hat er nun vor?“ Malevues schuldbewusster Blick verriet ihn. „Du weißt es nicht? Warum?“. Ihre Stimme hatte den sonst so melodischen Klang abgestreift. „Der Lord war sehr wütend, ich bin froh, dass ich gehen konnte, Mylady!“, versuchte er sich zu rechtfertigen, doch es nützte nichts. Ihr Blick war erbarmungslos. „Da tobt mein Lord mal und du rennst davon und verlierst die Möglichkeit, mir wichtige Informationen mitzuteilen? Liegt dir denn so wenig an deiner Ehefrau, Fernais? Vergiss nicht, dass ich sie immer noch in meiner Gewalt habe!“ „Nein, das tue ich nicht. Ich bitte Euch um Vergebung, Mylady. Das wird nie wieder vorkommen.“ „Ich hoffe es sehr. Ich bin es leid, ständig jemand zu suchen, der deine Fehler ausbügelt!“. Selbst im Zorn war ihr Gesicht noch wunderschön, selbst in den Phasen ihrer Grausamkeit war es das. Er wusste es genau. Und selbst in Momenten wie diesen fiel es schwer, sich vorzustellen, welch hartherzige Mörderin sie auf einem Schlachtfeld war. „Geh, Malevue. Ich werde nach dir schicken.“ Mit einer ehrerbietigen Verbeugung verließ der Dämon die Gemächer. Jetzt wollte er nur eines. Er musste Conni sehen. Mit aller Macht hielt er seine Beine davon ab, loszurennen. Diese Blöße würde er sich nicht geben. Der Weg durch die Verzweigten Gänge des Palastes erschien ihm unendlich lang und nicht zum ersten Mal verfluchte er die langen und umständlichen Wege, die in diesem Flügel für die Dienstboten errichtet wurden. Als er sich dem Dienstbotentrakt an der Küche vorbei näherte, sah er sie schon herannahen. Im Gegensatz zu ihm rannte sie. Es gab verschiedene Arten von Dämonen, aber die Mächtigeren neigten dazu, ihre Schwächen nicht derartig zu demonstrieren. Unwillkürlich musste er lächeln. Ein Lächeln, das er nur ihr schenkte. Als Mireylle erwachte, spürte sie einen leichten ziehenden Schmerz überall auf der Haut, in dem sie eine Nachwirkung des seltsamen kalten Feuers vermutete. Es war ihr in ihre Träume gefolgt und hatte Unmengen von Fragen aufgeworfen. Mit dem Öffnen ihrer Augen erhielt sie die Bestätigung dessen, was sie wahrgenommen hatte. Sie befand sich noch immer in Shahaans Welt. Sie war hier gefangen. Mühevoll richtete sie sich auf und ließ einen resignierten Blick durch den leeren Raum schweifen, nur um sich erschöpft wieder in die Kissen fallen zu lassen. Es musste ein Zauber gewesen sein, der sie in dieser Welt zurückgehalten hatte, anders konnte sie es sich nicht erklären. Leider hatte sie von diesen Dingen keinerlei Ahnung, also musste sie jemanden finden, der ihr das Geschehene erklären konnte. Ariana würde sicher wissen, was passiert war, schließlich war sie, soweit Mireylle das richtig verstanden hatte, ein magisch begabter Dämon. Sie war gewiss im Stande, Mireylle zu helfen. Doch Mireylle zögerte, den Gedanken weiterzuführen. Es war sinnlos. Ihr Gefühl sagte ihr, sie würde es durch Ariana nicht erfahren. Der Zauber, der sie hier festhielt, musste irgendwie auf sie gelegt worden sein. Da sie den meisten Anderen, die ihr in dieser Welt begegnet waren, völlig gleichgültig war, konnten es nur Shahaan oder Ariana oder aber dieser Heerführer gewesen sein. In diesem Fall war von deren Seite keinerlei Hilfe zu erwarten, eher das Gegenteil würde der Fall sein, denn wenn Shahaan sie so unbedingt für seine Zwecke brauchte, würde er sie bestimmt mit jeglichem verfügbaren Mittel an diese Welt binden. Sie würde Ariana nicht fragen können. Trotzdem ging Mireylle der Vorfall mit dem Astral nicht aus dem Kopf. Was wäre, wenn das Astral oder diese Magie, die es geschützt hatte, doch eine Wirkung auf sie zeigte? Etwas magisches war damals mit ihr geschehen, als sie in Shahaans Geist eindringen und ihn wieder in die Realität zurückholen konnte. Vielleicht hatte der Bann sie da schon befallen. Wieder einmal war sie unsicher. Sie fürchtete, das Falsche zu tun, deshalb würde sie vermutlich gar nichts tun. Und erneut in Selbstmitleid zerfließen, in Sehnsucht nach ihrer Welt und der Angst vor ihrer eigenen Wehrlosigkeit Träne um Träne vergießen. Ein erster Vorbote des Sturmes rann bereits über ihre linke Wange und hinterließ ein salziges Prickeln auf ihrer derzeit so empfindlichen Haut. Vor der Tür regte sich etwas und nach kurzem Lauschen entschied Mireylle sich, den Schlaf vorzutäuschen. Jemand im Gewand eines Hofdieners trat herein und durch die Wimpern schielend erkannte Mireylle das blaue Zeichen auf der Uniform, das auf einen höfischen Dämonen hindeutete. Umständlich verschloss der Diener die Tür und stellte das silberne Tablett auf dem Tisch ab. Dann warf er einen Blick zu Mireylle hinüber und hielt lächelnd inne. „Wie geht es Euch, Mylady?“ Mireylle war einen Moment lang enttäuscht, so durchschaubar zu sein, sah aber ein, wie sinnlos ein weiterer Täuschungsversuch wäre. „Ich lebe. Das spüre ich am ganzen Körper.“, antwortete sie leise. Ihre Stimme hörte sich rau an. Sie musste sich räuspern, ehe sie weiter sprechen konnte. „Verzeiht, Girall, aber woran erkennt ihr eigentlich, ob ich wach bin?“. Die Frage war aus ihr herausgesprudelt, noch ehe sie darüber hatte nachdenken können. Sie fragte nach dieser Welt. Ein erster Versuch, sich mit ihren Regeln vertraut zu machen. Also sagten ihre Instinkte ihr, sie würde noch eine ganze Weile bleiben müssen. Bei ihrer Frage hob Girall eine Augenbraue. Es war eher ungewöhnlich, geradezu ungebührlich, einem Menschen solch eine Frage zu beantworten, doch es war das Mädchen, welches Lord Shahaan zur Mylady ernannt hatte und so dachte er über eine Antwort nach. „Es ist das Zusammenspiel zahlreicher Dinge, Mylady. Doch bei Menschen sind Atem, Herzschlag, Geruch und Gefühle ausschlaggebend. Man könnte sagen, dies alles bekommt eine andere Färbung, einen anderen Beigeschmack, wenn das Bewusstsein sich in den Vordergrund rückt.“. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, weiterzureden. „Bei Euch ist es etwas anders, Mylady. Vielleicht liegt es an… Nun, man muss sich zumindest mehr anstrengen.“ Der abgebrochene Satz hatte sofort Mireylles Aufmerksamkeit geweckt, doch auf ihre Bitte, den Satz zu beenden, antwortete Girall mit einem „Euere Herkunft, Mylady“. Es klang ehrlich, es sah ehrlich aus und er hätte es wirklich gemeint haben können, doch irgendetwas in Mireylle spürte die Lüge. Da war noch mehr. Mehr, das sie erfahren musste. Und Girall schien genau der Richtige zu sein. Er verplapperte sich gerne. Natürlich hegte sie die Vermutung, er täte dies mit Absicht, da hohe Dämonen nicht so unbeherrscht waren, etwas zu erzählen, das sie verborgen halten wollten, doch ihr fiel kein ersichtlicher Grund für so etwas ein. Außerdem war es ihr gleich, solange sie erfuhr, was sie wissen wollte. „Sag, Girall, warum bin ich noch hier? Du weißt, dass ich gehen wollte, nicht wahr? Aber ich konnte es offensichtlich nicht. Warum?“. Mireylle wusste nicht, ob sie sich mit dieser Offenheit zu weit herausgelehnt hatte, doch wer nicht wagte konnte auch nicht gewinnen. Girall musterte sie einen Moment lang, dann zupfte er umständlich an den Ärmelrüschen seines Hemdes und begann leise zu sprechen. „Ich denke nicht, dass es im Sinne meines Herren wäre, wenn Ihr ginget, Mylady. Das könnte ein Grund dafür sein. Ich sollte Euch so etwas natürlich nicht erzählen, aber es ist die Wahrheit und ich denke, sie wird Euch so wie so klar.“ Er nahm sie ernst. Endlich nahm sie hier einmal jemand als denkende Person ernst. In diesem verfluchten Palast wurde sie von allen stets nur mit Halbwahrheiten abgefertigt, und Girall, obgleich ein Palastdiener auch ein hoher Dämon, gestand ihr die Fähigkeit zu, Dinge zu erkennen und zu verstehen. Sie lächelte. „Weißt du vielleicht, wie es ihm gelingt, mich hier festzuhalten? Es muss Magie sein, aber wie kann er sie über mich ausüben und wie werde ich den Zauber los?“. „Ihr seid neugierig, Mylady. Neugierig auf diese Welt, wo Ihr sie doch gerade erst verlassen wolltet. Eine Ironie des Schicksals, nicht wahr, dass ihr sie erst begreifen müsst, um ihr entfliehen zu können? Es gibt unzählige Arten, Magie auf jemanden auszuüben. Und es ist auch ein ungeschriebenes Gesetz, dass diese Dinge nicht an Menschen weitergegeben werden dürfen.“ Mireylle fuhr hoch. Jetzt wollte er ihr doch alles vorenthalten! „Nur, weil ich ein Mensch bin? Was fürchtet ihr Dämonen denn so, dass ihr uns Menschen euere Weisheiten verheimlicht?“. „Beruhigt Euch, Mylady!“, flüsterte Girall recht scharf und sah sich um. Er erweckte den Eindruck, auf mehr als nur Geräusche und Bilder zu achten. Als er sich wieder sicherer war, sprach er weiter. „Ich habe nie die Absicht geäußert, mich an dieses Gesetz zu halten. Aber trotzdem gibt es nicht viel, was ich Euch zu diesem Thema sagen kann. Die Möglichkeiten sind zu vielfältig. Ich weiß nur sicher, dass es viel Kraft kostet, einen beständigen Bann auszuüben, wie dieser es sein muss. Und über Entfernungen ist es noch schwieriger. Er muss den Zauber an den astralen Machtstrom gekoppelt oder einen Magielieferanten im Palast gelassen haben. Vielleicht auch beides, aber wer weiß das schon so genau?“ „Man braucht also immer eine Magiequelle?“. Auf seltsame Weise erinnerte es Mireylle an Strom. Energiequelle und Verbraucher, an dem etwas geleistet wird. In diesem Fall ist die Leistung das Binden an diese Welt. „Ja. Die meiste Reichsmagie ist in den Magiestrom dieser Welt eingebunden und mit den Astralen gekoppelt. Verbrauchte Magie kehrt in den Magiestrom zurück, Mylady. Aber dieses Wissen wird Euch wohl kaum weiterhelfen. Ihr müsstet die Quelle finden und von dem Bann lösen und dazu seid ihr ohne magische Begabung nicht fähig.“ Mireylle seufzte. „Gibt es denn gar keinen anderen Weg?“ „Es kommt ganz auf den Bann selbst an, Mylady. Doch um ihn beispielsweise vom Strom der Welt zu lösen, müsstet ihr Magie wirken. Große Magie sogar, da mein Lord seine Magie auf vielfältige Art schützt. Und ein Lord besitzt ganz besondere Magie im Strom der Welt. Ihr habt da nicht viel Hoffnung, außer ihr bringt ihn dazu, Euch loswerden zu wollen.“. Einen Moment lang sah er ihr in die Augen. „Aber das wäre vermutlich auch keine Gute Idee und sie würde Euch mit hoher Sicherheit nicht heimbringen.“ Entmutigt sah Mireylle zu Boden. Es war also nicht möglich. Sie war seine Gefangene. Der Diener setzte sich neben sie auf das Bett und sah mit ihr zu Boden, dann tätschelte er ihre Schulter, um sie zu trösten. Ehe er ging, dachte er daran, Mireylle auf das gebrachte Frühstück hinzuweisen. Hinter ihm fiel die Tür klickend ins Schloss. Mireylles Blick fixierte die Wand. Sie hatte also keine Chance, keine Möglichkeit, zu entkommen. Wieder einmal hatte sie keinerlei Einfluss auf ihr Schicksal. Es war zum Davonlaufen, nur das es vermutlich sehr dumm wäre, den Schutz des Palastes zu verlassen. Dies war eine hierarchische Gesellschaft und einfache Menschen standen in ihr ganz unten. Außerdem fiel es Dämonen leicht, jemanden zu finden, sie erspürten ihn, wie Girall angedeutet hatte. Etwas regte sich in Mireylles Kopf, ein Gedanke nahm langsam, aber zielstrebig Form an. Bei ihr war es anders, das hatte der Diener ihr gesagt. Es war schwieriger, sie zu erspüren, weil sie aus einer anderen Welt kam. Wenn es ihnen wirklich schwer fiel, hatte sie die Möglichkeit, sich relativ frei im Palast zu bewegen. Mireylle konnte also auch in Shahaans Gemächer eindringen, wenn kein Zauber sie daran hinderte, und damit war sie auch fähig, nach dem magischen Bann oder Gegenstand zu suchen, der sie hier festhielt. Natürlich gab es in dieser Hinsicht zahlreiche Hindernisse, unter anderem die Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, woran man einen solchen Gegenstand oder Zauber erkennen konnte, ob sie überhaupt fähig war, so etwas zu erkennen. Zudem war ihr von Girall auch ausdrücklich gesagt worden, solche Banne seien schwer bis gar nicht zu brechen, schon gar nicht ohne Magie. Andererseits musste Mireylle irgendeine Art von Magie besitzen, dessen war sie sich aufgrund allen Geschehenen völlig sicher, auch wenn sie wiederum ahnungslos dastand, was das Nutzen dieser geheimnisvollen Magie betraf. Schließlich hatte sie es nie gelernt, noch nicht einmal richtig gesehen. Mireylle wusste nicht, ob es überhaupt möglich war, das zu beherrschen, was sie in sich vermutete. Das Etwas, welches sie zwischen den Welten wandeln, in magische Felder eindringen und die Seelen anderer betreten ließ. Sie war nicht sicher, woher das Gefühl kam, doch der Gedanke, der sich in ihr formte, war: „Es ist warm“. Verwirrt suchte sie nach dem Ursprung dieser Regung und gab schließlich auf. Sie musste etwas über Banne in Erfahrung bringen, das ihr bei der Suche half. Sie würde sich einen geschickten Weg ausdenken, um endlich einige Antworten von Ariana zu bekommen, denn sie zweifelte daran, mehr durch Girall in Erfahrung bringen zu können. Und dann würde sie sich auf die Suche machen. Langsam erhob sie sich und bemerkte mit leichtem Ärger das lange, dünne Seidengewand, welches ihr auch beim letzten Mal, bei ihrer Ankunft im Palast angezogen worden war. Sie war an diesem Tag sehr schwach und ständig einer Ohnmacht nah gewesen. Als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte sie das dünne Kleid bemerkt und sich verzweifelt gefragt, was mit ihren Sachen geschehen war. Mit diesem Kleidungsstück hätte sie beinahe genauso gut nackt sein können. Es hatte einen kleinen Kampf mit Ariana gekostet, aber sie hatte es geschafft, ihre geliebte Jeans zumindest bis in den Schrank zu argumentieren. Seitdem steckte sie ständig in umständlichen Kleidern mit Unterkleidern, Rüschen und Schleifen, in die kein normaler Mensch ohne Hilfe hinein kam. Mit einem inneren Zusammenzucken dachte sie an ihren ersten Versuch, aus so einem Gestell herauszukommen. Ariana würde ihr vermutlich nie vergeben. Mireylle ging zum Schrank und entdeckte aufatmend ihre Sachen darin. Jemand hatte sie fein säuberlich aufgehängt. Sie besah den sonstigen Inhalt des Schrankes eine Weile und zog dann das verhältnismäßig einfache türkisblau schimmernde Kleid heraus. Irgendwie konnte sie es kaum erwarten, mit ihren Nachforschungen anzufangen. Kaum, dass sie sich angezogen hatte, erklang ein gedämpftes Klopfen an der Tür. Ariana betrat den Raum und schien diesen sofort auszufüllen. Wie immer hatte sie sich makellos schön gemacht. Ihre goldene Lockenpracht fiel ihr in formvollendeten Wellen über die Schulter und ihre Augen strahlten. Erneut musste Mireylle sich zusammenrissen, um den Blickkontakt nicht abzuwenden. Arianas leuchtend gelbe Augen reizten nicht nur den Sehnerv. Vielmehr gaben sie sehr betont das Wesen der dämonischen Augen preis, indem sie durch den hohen Kontrast die natürlichen Schlitzpupillen betonten. Sie hatte wahrlich den Blick einer Katze, schließlich funktionierten Dämonenpupillen ebenso. Mit wenigen Schritten war Ariana bei Mireylle und ergriff ihre Hand. „Wie geht es dir?“, fragte sie besorgt. Mireylle ignorierte das leichte Prickeln auf der Haut. „Gut. Wirklich. Was ist eigentlich passiert?“. Jetzt würde es Ariana schwer fallen, der Frage auszuweichen. Sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Magie, Mireylle. Ein Zauber, den du durch deinen Versuch, unsere Welt zu verlassen, ausgelöst hast. Surell Haguren hat dich aus dem magischen Feuer geholt…“. „Was war das für ein Zauber? Wieso konnte ich diese Welt nicht verlassen? Wieso wirkt jemand einen Zauber, der mich hier festhält?“. Nun hatte sie Ariana festgenagelt. Sie musste ihr nun den Urheber des Bannes nennen, der sich vermutlich überraschender Weise als Lord Shahaan erweisen würde. Ariana war nun gezwungen, die Karten offen zu legen und das kleine Komplott gegen Mireylle aufzudecken. Mireylle konnte förmlich sehen wie sie sich wand und nach einer anderen Möglichkeit suchte. „Nun…“, begann Ariana zögerlich. „Vielleicht sollten wir uns kurz hinsetzen.“. Sie schritt durch die Räume und ließ sich elegant in einem der Sessel nieder, Mireylle ließ sich in einen anderen fallen und wartete gespannt die große Wahrheit ab. Sie fragte sich, ob es sich um eine Vorführung ihrer Schauspielkunst handelte, als Ariana mit verlorener Miene aus dem Fenster schaute. „Vielleicht ist es besser, ich sage es dir, ehe irgendein Anderer es dir eröffnet und du alles missverstehst“, hauchte sie dem Fenster zugewandt. Dann fixierte ihr Blick das verwirrte Mädchen. „Wie du vermutlich schon ahnst, ist ‚Mylady’ ein ganz besonderer Titel. Es war im Anbeginn der Zeiten nicht vorgesehen, dass mächtige Dämonen, wie die Lords es nun einmal sind, einen festen Gefährten haben. Es liegt an der Natur der Dämonen, Mireylle. Wir sind in dieser Hinsicht keineswegs so treu, wie die Menschen es sind oder zumindest zu sein versuchen. Unser Ehrgeiz lag nie auf dem Gebiet der persönlichen Einschränkung. Doch im Sinne eines archaischen Bedürfnisses der Blutsnachfolge und einer Verteilung der Aufgaben ergab sich nun die Erfordernis einer Gefährtin für die Lords. Und so setzte es sich in allen vier Reichen durch, dass der Lord sich eine Lady erwählte, welche zeitlebens an seiner Seite war und ebendiese Aufgaben übernahm. Zum Schutz dieser Gefährtin wurden elementare magische Banne in der alten magischen Kunst an den Titel der Gefährtin geknüpft, die eine Analogie zu den Schutz- und Machtzaubern darstellen, welche den Lord mit seinem Reich verbinden. Selbstverständlich hat sie nur einen Bruchteil seiner Macht, doch der Schutz ist beinahe ebenso stark wie der des Lords. Der Titel der Gefährtin ist angelehnt an den Namen der ersten Dame, die an der Seite eines Lords seine Macht teilte. In der alten Sprache hieß er Miylaidie. Weshalb auch der Titel bis heute ‚Mylady’ ist.“. Ariana hielt inne, als sie den Schock in Mireylles Blick erkannte und legte ihre Hand mit einem besänftigenden Lächeln auf Mireylles Knie. „Es ist… wie Heirat?“, fragte das Mädchen verstört. „Ja, das ist es. Doch natürlich gibt es Unterschiede. Die Menschen lassen ihren Bund von einem Bürgermeister absegnen. Die Dämonen erhalten ihren Segen nur vom Lord oder der Mylady. Doch der Lord erwählt seine Mylady nur. Von wem sollte er den Bund auch absegnen lassen? Der Fürst schert sich nicht um diese Dinge. Zudem ist es unter Dämonen nicht so bindend wie eine Heirat, was den Umgang betrifft. Aber ich komme vom Thema ab. Lord Shahaan hat dir den Titel verliehen. Aber er tat es, um dich zu schützen. Jemand ohne magische Begabung ist zu anfällig für höfische Intrigen und deshalb… wählte er diese mächtige uralte Magie, um dich davor zu bewahren.“ Mireylle war einfach nur perplex. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Shahaan hatte sie also geheiratet, oder zumindest etwas Vergleichbares, und hielt es nicht für nötig, sie davon in Kenntnis zu setzen? Geschweige mal zu fragen. Zu ihrem Schutz? Es klang logisch, es war sogar durchaus logisch. Auch ohne Magie war das höfische Leben in der Geschichte ihrer Welt von tödlichen Intrigen nur so gespickt gewesen. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr schien sie sich an die Logik dieser Entscheidung zu gewöhnen, obgleich es ihr schleierhaft war, warum Ariana nicht schon seit langem die Mylady des Reiches war. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie häufig sie Shahaans Bett teilte. Das Ganze rückte auch den theatralischen Abschiedskuss endlich ins richtige Licht. Mireylle begriff und akzeptierte, als eine Kombination aus natürlichem Überlebensinstinkt und Logik die Empörung besiegte. „Es ist dieser Schutz, der dich hier aufgehalten hat. Er hat dich vor deiner eigenen Welt geschützt. Wir werden mit Remon darüber reden, sobald er zurückgekehrt ist.“. Sie log. Ganz klar und offensichtlich log Ariana sie an und Mireylle war zu verblüfft von dieser Wende, um zu widersprechen. Das konnte nicht der Grund dafür sein. Er hatte sie von Anfang an so genannt und trotzdem war sie frei gewesen, sich zwischen den Welten zu bewegen. Mireylle fragte sich, wie lange Ariana sie schon belog, doch irgendein Teil von ihr sagte Mireylle, dass nur der letzte Teil gelogen war. Wahrheit war ein guter Trick, um eine Lüge zu überdecken. Eine in Wahrheit eingebundene Lüge erschien einem viel eher glaubhaft und Ariana kannte dieses Mittel. Wie jeder gute Lügner versuchte sie nicht, das Thema schnell zu wechseln, sondern steigerte sich erst hinein, um dann auf etwas Weiterführendes umzuleiten. Sie erzählte Mireylle von einigen Intrigen am Hof, die tödlich geendet hatten und erklärte ihr, wie ungenau das Wissen um die alte Magie war, welche unter anderem für die titelbezogenen Banne verwendet worden war. Sie entstammte einer alten Zeit und Sprache, welche im Laufe der Jahrtausende vergessen worden und im Umbruch der Zeiten untergegangen war. Hatte Shahaan nicht etwas Ähnliches gesagt? Die Magie, die ihr nichts anhaben konnte, war sie nicht auch aus dieser Zeit? Weshalb sollte diese Magie also irgendeine schützende Wirkung auf sie haben? Oder war sie etwa anders, als die Magie der Astrale. Die schwere Tiefe ihrer Ahnungslosigkeit wurde Mireylle nur allzu bewusst. Schon bald überredete Ariana Mireylle auf ihre bestimmende Art zu einem Spaziergang durch den Park, womit das Thema im Allgemeinen als abgeschlossen galt, sie würde darüber kein weiteres Wort mehr verlieren.Im Gang begegneten die beiden Surell, der mit mürrischem Gesichtsausdruck den Gang entlang marschierte und ihnen nur einen knappen Gruß gönnte. „Er ist nun mal ein Krieger“, entschuldigte Ariana seine schroffe Art. „Es ist ihm zuwider im Palast herumzusitzen während der Lord Krieg führt.“ Ariana verbrachte den gesamten Tag bei Mireylle und ließ sie keinen Moment aus den Augen. Möglicherweise ahnte sie, Mireylle nicht ganz überzeugt zu haben. Sie erteilte Mireylle im Laufe des Tages Unterricht in höfischem Benehmen und erzählte ihr ein wenig von den Sitten und Bräuchen dieser Welt. Es war die Aufgabe, die Shahaan ihr zugedacht hatte. Doch den größten Wert legte die schöne Dämonin auf Mireylles Äußeres. Sie zwang sie erneut die Hofschneiderin stundenlang über sich ergehen zu lassen, bestellte einen Juwelier in den Palast und wählte Unmengen kostbaren schmuck für sie aus. Arianas Bemühungen endeten alles in allem damit, dass Mireylle sich wie ein Schmuckstück fühlte. Vor allem die unangenehme Art, wie Ariana sie durch den Palast führte, um sie insgeheim den anderen Dämonen zu präsentieren, machte Mireylle sauer. Trotzdem ließ sie alles mit sich machen und gehorchte jeder Anweisung in der Hoffnung, Ariana würde sie dann schneller in Frieden lassen. Sie hätte ohne die Gesellschaft der Dämonin eh nichts mit sich anzufangen gewusst, wie sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief. Nach dem allabendlichen Unterricht im Lesen und Schreiben wurde Mireylle endlich alleine gelassen. Ein wenig grimmig stellte sie fest, wie miserabel sie im Schreiben dieser Sprache, die der ihren so ähnlich war, vorankam. In dieser Welt hatte niemand Wert auf einfache, schnell zu schreibende und zu lesende Buchstaben gelegt. Vielmehr war jedes einzelne Exemplar ein kleines Kunstwerk und Mireylle fiel es schwer, sich vorzustellen, wie man auf diese Weise Wissen verbreiten konnte. Nun, vermutlich war das hier nicht so wichtig, wenn man den Entwicklungsstand dieser Welt betrachtete. Mireylle ließ sich reichlich zeit, nachdem sie das Licht gelöscht hatte. Sie wollte sichergehen, nicht verfolgt zu werden und vielleicht wartete Ariana ja noch vor der Tür. Leise schlich sie zu ihrem Schrank und holte die Jeans und ein Top hervor. In einem ballfähigen Kleid würde sie viel zu eingeschränkt sein. Langsam zog sie sich um und schlich im vom Mond erzeugten bläulichen Zwielicht zur Tür. Sie legte ein Ohr an den dünnen Spalt zwischen den beiden Türflügeln, um zu lauschen. Soweit sie das beurteilen konnte, war niemand in der Nähe. So geräuschlos sie konnte drückte Mireylle die Klinke runter und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Nachdem sie sich sicher war, schlich sie hinaus. Der Gang lag still und verlassen vor ihr. Mondlicht fiel sanft auf die dicken Teppiche und tauchte den Flur in ein friedliches Halbdunkel. Nach reichlicher Überlegung hatte sie sich entschieden, auf dem Weg zu Shahaans Flügel so weit wie möglich den Hauptwegen zu folgen. In der Nacht waren keine Boten unterwegs und andere Diener nahmen eher die kurzen Dienstbotenwege, die das Gebäude auf unsichtbare Art durchdrangen. Mireylle ging sich stets umschauend die vier breiten Treppen hoch, wobei sie ständig darauf achtete, sich hinter Statuen zu verstecken, wenn patrouillierende Wachen in der Nähe waren. Zu ihrer eigenen Verwunderung fiel es ihr nicht weiter schwer und deshalb maß sie der Behauptung, sie wäre schwerer zu erspüren, nun höhere Bedeutung zu. Scheinbar konnten die magisch eher schlecht ausgerüsteten Dämonenwachen sie gar nicht aufspüren, denn sie gingen einmal äußerst nah an ihr vorbei, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Zugegebener Weise hatte Mireylle sie Luft angehalten und ihr Herz eisern beruhigt, doch es war gelungen. Froh, der Gefahr entkommen zu sein, schlich sie durch die Tür zum Flügel des Lords und erschrak fast zu Tode, als sie zwei Wachen beinahe in die Hände gelaufen war. Sie hatte sie hinter der Biegung eines Ganges nicht bemerkt. Unsicher, ob sie den gelangweilten Söldnern aufgefallen war, machte sie Kehrt und sprintete einen der Gänge entlang, um sich hinter der nächsten Abzweigung zu verbergen. Alarmiert hielt sie abrupt inne, als ein Gefühl sie warnte. Sie spickte um die Ecke und entdeckte zwei Wachen, die langsam auf sie zuschlenderten. Mireylle rannte einen Teil des Weges zurück um an einer früheren Kreuzung einen anderen Weg einzuschlagen, doch sie hörte bereits leise Stimmen, als sie dieser näher kam. Sie blickte um die Ecke und zog ihre Nase blitzschnell zurück, als sie ein weiteres Wächterpaar bemerkte. Nun war sie eingekesselt. Früher oder später würden die Wachen an der Kreuzung ankommen und Mireylle hätte keinen Fluchtweg. Der Geschwindigkeit der Schritte nach zu urteilen, würde es eher früher als später sein. Die Schritte kamen nun in wirklich rascher Folge und nur viel zu spät erkannte sie, dass die Wachen rannten. Man hatte sie also gesehen. Die beiden rauen Stimmen tauschten ein paar aufgeregte Worte und Mireylle hörte das schleifende Geräusch von Metall, das aus einer Schwertscheide gezogen wurde. Einen Moment kam ihr die Vorstellung, mit einem Schwert bedroht zu werden, beinahe lächerlich vor. Jemand, der aus ihrer Zeit stammte! Jemand aus dem Zeitalter der Technik würde von einer simplen, schlecht gearbeiteten Metallkonstruktion bedroht werden und vielleicht sogar dadurch sterben. Es war nur allzu ironisch. Mireylles Herz begann hemmungslos zu pochen als die Schritte unmittelbar nah kamen. Das war das Ende. Sie wusste nicht, was geschehen würde, doch selbst wenn sie überlebte, hatte sie ihre Chance mit Sicherheit verwirkt. Sie lehnte sich gegen die Wand und ließ sich mit geschlossenen Augen langsam zu Boden gleiten. Plötzlich quietschte eine Tür und ein Ruf ertönte. Die Schritte hielten inne und die Erklärungsversuche der Wachen verstummten in einer Art furchtsamer Stille. Erst jetzt erkannte sie die Stimme, die nun mit den Wachen sprach. Es war Girall. Ängstlich legte Mireylle sich auf den Boden und spickte um die Ecke. Die beiden Söldner hatten ihr den Rücken zugewandt, nur Girall stand noch so, dass er sie im Augenwinkel bemerken konnte, wenn sie versuchte sich auf die andere Seite der Kreuzung zu schleichen. Girall drehte sich mitten im Gespräch von Mireylle weg und zeigte auf etwas am anderen Ende des Ganges. Ohne lange zu zögern sprang Mireylle auf die Beine und huschte über den Gang. Girall hatte sie unbewusst gerettet. Kopflos rannte sie den Gang hoch und wünschte sich nichts sehnlicher, als die Sicherheit ihres Bettes. Der Schrecken saß ihr noch tief in den Knochen. Vor der Nächsten Kreuzung wurde sie langsamer und versicherte sich erst, dass niemand im Quergang war, ehe sie weitereilte. An der nächsten Biegung musste sie nach links und schon konnte sie durch die Tür aus dem Flügel flüchten. Doch erneut hörte sie Stimmen und rannte kopflos zu der freien Kreuzung zurück. Sie schaffte es gerade noch so, um die Ecke zu sprinten, ehe Wachen in den Gang einbogen. Panisch versuchte sie, sich zu beruhigen, als sie weiter rannte. Ihr Atem ging nun schwer und ihr Herz raste. Schweiß rannte ihr übers Gesicht und den Rücken herunter. So würden die Dämonensinne sie bald entdecken. Sie rannte weiter in die Stille der Dunkelheit flüchtend. Erst als sie sich in einem von Fenstern gesäumten Gang wieder fand erkannte sie, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatte. Ihre Orientierung war in diesem Teil des Flügels gleich Null. Sie näherte sich dem markanten Eingang eines der gewaltigen Balkone und als sie vorbeischleichen wollte, erkannte sie zu ihrem Schrecken, dass sich jemand auf dem Balkon befand. Mireylle wagte es, genauer hinzusehen und erkannte den Heerführer Surell Haguren. Er stand an die Abgrenzung gelehnt da, doch obwohl er ihr zugewandt war, konnte er Mireylle nicht sehen. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen geschlossen. Das leichte Hemd, das er trug, erlag ebenso wie das Haar dem Spiel des Windes und Mireylle fragte sich, ob es Dämonen wohl angeboren war, so ausdrucksstarke Posen zu wählen. Das Bild, das er bot, war ebenso fesselnd, wie bewegend. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich abzuwenden und an dem Balkonzugang vorbei zu schleichen. Sie rannte wieder los, als sie sich wieder mit dem Weg auszukennen glaubte. Nach einer Weile stellte Mireylle verzweifelt fest, dass sie sich völlig verirrt hatte. Noch nicht einmal zu dem Fenstergang zurück hatte sie es geschafft. Sie war verloren in einem Labyrinth aus Gängen, das sich immer enger um sie gezogen zu haben schien und allmählich vermutete sie, mitten in einen Schutzzauber gerannt zu sein. Müde ließ sie sich auf den Boden sinken und lehnte sich an die Wand. Nun hatte sie doch verloren. Zu erschöpft, um in Panik zu geraten schloss sie die Augen und begann zu schniefen. Wenn man sie hier überhaupt jemals fand, würde es ihr schwer fallen, sich herauszureden und Ariana würde sie keinen Moment lang unbeaufsichtigt lassen. Vielleicht würde sie sie sogar einsperren und Shahaan benachrichtigen. Es war vorbei und Mireylle entschied, dass trauerndes Weinen an dieser Stelle durchaus angebracht war. Verzweifelte Tränen rannten heiß über ihre Wangen und zornig schlug sie gegen die Wand, um ihrem Schmerz Luft zu machen. Sie verharrte in der Berührung, als sie die Wärme spürte. Sie öffnete die Augen und sah wie blaue Muster in der Wand aufleuchteten, da wo ihre Hand sie berührte. Erschrocken zog Mireylle diese zurück und die Zeichen erloschen in einem leichten Nachglimmen. Neugierig streckte sie die Hand erneut aus und berührte die Tapete mit der Fingerspitze. Als würde das Licht aus ihrem Finger rinnen, breitete es sich an der Wand aus und brachte zahlreiche Schnörkel zum Leuchten. Mireylle meinte ein Muster zu erkennen und legte entschlossen die gesamte Handfläche auf. In ihrer Vermutung bestätigt zögerte sie einen Moment, ehe sie beide Hände fest auf das Zeichen presste und ein komplexes Pentagramm zum hellen glühen brachte. Völlig unerwartet leuchtete es grell auf und Mireylle spürte, wie sie durch die Wand gesogen wurde. Die Finsternis, in der sie sich wieder fand, roch feucht und abgestanden. Sie konnte rein gar nichts erkennen und stolperte bar jeglicher Hoffnung an der steinernen Wand entlang. Irgendwo hörte sie ein glitschiges Tropfen und mit jähem Grauen fragte sie sich, wo sie hineingeraten war. Hier standen ihre Chancen, entdeckt zu werden definitiv schlechter als im Palastgang. Auch war ihr nicht klar, wie sie es geschaffte hatte, das Pentagramm zu aktivieren, aber vielleicht lag es ja an der titelgebundenen Magie. Nach einer Weile wurde ihr das Gewicht bewusst, das sie zu Boden drückte. Sie musste sich tief unter der Erde befinden. Sie befand sich unter dem Palast. Der Gedanke erschien in ihrem Kopf und setzte sich durch, bis er zu Gewissheit wurde. Irgendwie glaubte sie die Anwesenheit des Palastes zu spüren. Es war ähnlich wie die Aura des Lebenden, die sie in ihrer Welt stets sehen und spüren konnte. Möglicherweise gewöhnte sich dieser Sinn ja an Shahaans Welt. Und tatsächlich begann sie in der Finsternis etwas wahrzunehmen. Es war, als ob sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, nur konnte sie diese dabei ebenso gut geschlossen halten. Das Glimmen von Leben erfüllte den Moosverseuchten Gang und Mireylle begann seine Konturen zu erkennen. Wie von selbst beschleunigten ihre Füße den Gang, als sie sicherer wurde. In der Ferne glaubte sie eine Treppe zu erkennen. Bei dieser Stelle angelangt fühlte Mireylle erst mit der Fußspitze nach, ehe sie den Aufstieg wagte. Der Treppenaufgang war schmaler, feuchte Wände schmiegten sich an Mireylles Schultern. Während Mireylle die endlosen Gänge durchstrich und lange, gewundene Treppen empor kletterte, zog sich die Zeit endlos dahin. Doch die dunkle Stille des unterirdischen Labyrinths erfüllte sie unerwarteter Weise nicht mit Schrecken. Sie hatte stattdessen etwas Beruhigendes und Vertrautes an sich. Leben schien durch die Gänge zu pulsieren. Mit einer Zielstrebigkeit, die sie selbst verblüffte, fand Mireylle ihren Weg von Ebene zu Ebene, wobei sie nur dem Licht des Lebens folgte. Das Gefühl von Wärme nahm mit der Zeit immer weiter zu, bis die Luft um sie herum tatsächlich wärmer wurde. Sie näherte sich der Quelle, dem Ursprung. Sie kannte diese Magie. Es war einer der magischen Pfade, den die Magie auf ihrem Weg um die Welt nahm. Mireylles Sinne begannen zu schwirren und mit einem Mal fühlte sie sich leicht und befreit. Nahezu elanvoll erklomm sie die nächste Treppe und fand sich vor einer Tür wieder. Unsicher hielt sie inne und dachte nach, dann presste sie beide Handflächen auf das alte Holz und es begann zu leuchten. Wie schon zuvor erschien ein komplexes Pentagramm und leuchtete blitzartig auf. Mireylle starrte das Pentagramm an, zu dem ihre Instinkte sie geführt hatten. Es geschah nichts. Das hatte sie nicht erwartet. Unbehagen breitete sich in ihr aus und wich einem Anflug von Verzweiflung. Nach einer Weile stöhnte sie laut auf und betätigte die Türklinke. Mit einem leisen Quietschen schwang die Tür auf und eröffnete Mireylle den Weg zu einem beleuchteten Gang. Man gewöhnte sich ziemlich schnell an Magie. Am anderen Ende des Ganges befand sich ein Torbogen, durch den perlmutternes Licht fiel. Mireylle ging auf Zehenspitzen darauf zu und lugte in den Raum. Der Anblick verblüffte sie und ließ sie ein paar Schritte vortreten. Es fiel ihr schwer, die Situation zu erfassen. Es handelte sich um einen runden Raum, in dessen Mitte sich ein Wesen auf einer gehobenen runden Plattform befand, welches Mireylle spontan als Einhorn einordnete. Das Licht ging von dem Wesen aus, das auf den Boden der Plattform gesunken war. Die Augen des Tieres waren weit aufgerissen und das Weiße darin hatte einen ungesund gelben Stich. Irgendetwas hielt das Einhorn auf dieser Plattform fest. Mireylle wagte nicht, weiter vorzutreten. Stattdessen betrachtete sie die hüfthohen Säulen genauer, die einen Kreis um die Plattform bildeten und ebenso wie diese einen Teil des dreidimensionalen Pentagramms bildeten, dessen Linien wie leuchtende Fäden den Raum durchzogen. Mireylle erschrak, als sie in den leuchtenden Magiebündeln, die über einigen der Säulen schwebten, die vertraute Form von Astralen erkannte. Es waren vier. Die Magie in der Luft war zum Schneiden dick. Das Einhorn gab ein erbarmungswürdiges Geräusch von sich, doch so leid es Mireylle auch tat, sie traute sich nicht, durch die magischen Linien hindurch zu schreiten. Sie wusste nicht, womit sie es hier zu tun hatte. Es wurde zweifellos von Shahaan errichtet und war somit ein mächtiges magisches Gerüst. Nun, daran bestand sowieso kein Zweifel, doch diese Magie konnte ihr vielleicht auch Schaden zufügen. Nach einem weiteren Geräusch schaute Mireylle gequält zu dem Einhorn hinüber und ein irrationaler Teil von ihr gab nach und veranlasste sie, einen Schritt auf das magische Gebilde zu zu machen. Im letzten Moment gewann die Vernunft oder auch die Angst überhand und hielt Mireylle an. Dem armen Geschöpf in die traurigen Augen blickend schloss Mireylle schließlich die ihren und dachte an Tierschutz. Irgendwie hatte ihre Welt doch so ihre Vorteile. Noch nie hatte ein Wesen sie mit solchen Augen angeschaut. Sie sehnte sich nach ihrer Heimat, nach dem vertrauten Rhythmus des Lebens und plötzlich konnte sie ihn im Puls dieser Welt vernehmen. Sie streckte ihren Geist umsichtig danach aus und zog sich zurück, als ein Lodern über ihre Fingerspitzen rann. Blitzartig öffnete sie die Augen und erkannte gerade noch, wie die bläulichen Flammen von ihren Fingern wieder in den Bannkreis gezogen wurden und darin verschwanden. Es fiel ihr buchstäblich wie Schuppen von den Augen. Das war der Ursprung des Zaubers, der sie hier festhielt. Und das Einhorn bildete zusammen mit den Astralen die magischen Quellen für den Bann. Hass brandete in ihr auf, heiß und lodernd, alles verzehrend. Shahaan quälte ein armes Wesen zu Tode, um sie ihrer Freiheit zu berauben. Er spielte nur mit ihr, die ganze Zeit! Und zu allem Übel war sie nicht fähig, ihn dafür zu hassen. Sie wusste um seine Methoden, darum, wie er sie mit Lügen, Gesten und Blicken um den Finger wickelte und doch war sie nicht fähig, ihn zur Gänze zu verdammen, sie konnte es einfach nicht. Zornig entschied sie, es zu versuchen. Sie wollte ihre Freiheit! Wenigstens so konnte sie ihm ihre innere Stärke beweisen, das heißt, wenn er es nicht für Dummheit hielt, wenn er sie tot hier auffand. Mireylle atmete noch einmal durch und machte einen Schritt vorwärts. Sofort begannen die Ringe des Pentagramms sich um sie zu drehen und rot zu glühen. Die Luft um Mireylle flimmerte und begann zu knistern, kleine aber grelle Explosionen fanden um sie herum statt, hielten aber einen Abstand von einigen Zentimetern um ihren Körper. Mutiger geworden bewegte Mireylle sich durch das Gebilde und ignorierte die Ringe, die sich immer schneller drehte. Hoffnungsvoll hob das Einhorn den Blick, als das Mädchen sich näherte. Der Abstand der Explosionen verringerte sich und Mireylle rannte nun durch das Pentagramm. Sie streckte ihre Hand zu dem Einhorn aus und spürte einen Sog, als diese die unsichtbare Wand durchdrang. Ein Flackern folgte und dann bildeten sich Risse in der magisch strahlenden Kuppel. Das Einhorn erhob sich schwankend und sprang hindurch. Es flackerte erneut und Mireylle schrie vor Schmerz auf. Keuchend presste sie die verletzte Hand an ihre Brust und versuchte, wieder aus dem magischen Feld hinaus zu gelangen. Das Einhorn lief und kroch abwechselnd über den Boden, auch über ihm entstanden Explosionen, doch sie wurden von rötlichen Blitzen begleitet. Irgendwie gelang es dem Wesen, die äußerste Grenze des Pentagramms zu durchschreiten, wonach es sich aufrichtete und ohne einen Blick zurück davon galoppierte. Mireylle sah dem undankbaren Wesen fassungslos nach. Sie selbst kam nicht so gut voran. Irgendetwas machte ihr die Beine bleischwer, sodass sie kaum den einen vor den anderen setzen konnte. Die kleinen Explosionen prickelten bereits wie Funken auf ihrer Haut und sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen. Mit einem Ruck war der Schutz um sie herum durchbrochen und wilde Magie ergriff von Mireylle Besitz. Sie riss an ihren Gliedern, verkrampfte ihr Herz und ließ Schmerzen wie Wellen über sie hereinbrechen. Vor Mireylles Augen verschwamm alles und sie sah ihre eigene Kindheit. Der Zauber folterte sie mit den Bildern von Erinnerungen, die sie längst verkraftet zu haben glaubte. Etwas zerrte an ihrem Sein und für einen Moment spürte sie, wie ihre Seele sich von ihrem Körper löste. Daraufhin entflammte in ihr ein Licht, das sie von innen zu verbrennen schien, aber es band sie wieder an ihren Körper. In dem Moment, in dem sie in ihn zurückgekehrt war, trat ein Augenblick vollkommener Stille ein, wie die Ruhe vor dem Sturm, und das Glimmen wurde dunkler. Mit einem Mal geschah eine mächtige Entladung und mit ohrenbetäubendem Krach leuchtete Mireylle selbst auf. Das nächste, woran sie sich erinnerte, war ihr Gesicht auf kaltem, feuchten Boden und völlige Dunkelheit. Sie fiel in Ohnmacht. Langsam kam sie zu sich, als sie Stimmen durch die wattige Benommenheit ihres Bewusstseins vernahm. Sie öffnete die Augen, aber die Finsternis versteckte die Person vor ihr, die redete. Sie erkannte Arianas Stimme im Hintergrund, sie schien sehr aufgeregt. Erst danach wurde ihr klar, dass der Heerführer zu ihr sprach. Er hatte sie aufgerichtet und fühlte ihren Puls. Er schien auf etwas zu warten. Dann drang die Frage zu ihr durch. „Mädchen, lebst du?“. Mireylle versuchte zu antworten, doch es gelang ihr nicht. Sie nahm alle Konzentration zusammen und schaffte, die Lippen zu bewegen. Sie hauchte ein ‚Ja’. Surells Muskeln in ihrem Rücken entspannten sich ein wenig. „Wie viele Finger siehst du?“, fragte er, doch Mireylle konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Ein Moment angespannter Stille folgte. „Ariana, mach bitte noch eine Lichtkugel, näher bei ihr“, sagte er. Ein zischendes Geräusch erklang und Mireylle spürte Wärme nahe ihrer Wange. „Verdammt!“, keuchte der Heerführer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)