Vampirdämon von MiKiYu (Untergang der Schattenfürsten) ================================================================================ Kapitel 5: Blut und Knochen --------------------------- Als Mireylle wieder zu sich kam, saß sie an eine der Steinwände gelehnt. Die Kälte des Gesteins war ihr bereits tief in die Knochen gestiegen und schwächte ihren angeschlagenen Körper noch mehr. Verzweifelt klammerte ihr Geist sich am Bewusstsein fest. Sie verstand nicht. Die Luft um sie herum war nun in Bewegung und obwohl sie es in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, wusste Mireylle um die offene Tür. Angestrengt sammelte sie ihre Konzentration, um das Geschehen um sie erfassen zu können. Trippelnde Schritte durchquerten den Raum. „Oh, Remon wird uns alle zusammen umbringen. Er wird völlig durchdrehen. Bei ihm weiß ich ehrlich gesagt wirklich nicht, was er machen wird. So etwas ist noch nie geschehen! Wer weiß, wozu er imstande ist, wenn er einmal ernsthaft wütend ist!“, jammerte Arianas bekümmerte Stimme. Surells Stimme erklang ganz in der Nähe. „Jetzt mach uns nicht verrückt! Am Ende nimmt er das ganze wissenschaftlich. Außerdem beugen wir gerade größerem Schaden vor, oder? Es ist in der Tat merkwürdig, dass so etwas möglich war. Remon unterläuft nie ein Fehler in der Magie! Sie hätte den Kreis weder betreten noch lösen können dürfen. Ich verstehe es nicht. Aber das Astral da. Ich frage mich, ob…“, er seufzte. Schwere Schritte näherten sich und kurz darauf ergriff Surell Hagurens warme, starke and Mireylles Schulter. „Mädel, bist du wach?“, er wartete nicht ab. „Sag, hast du eins der Astrale angerührt?“ Ein keuchendes Husten schüttelte Mireylle, ehe sie eine Verneinung hervorbringen konnte. Der Griff wurde einen Moment lang fester, dann ließ er sie los. „Oh, verdammt!“, rief Ariana aus. „Wir können immer noch hoffen, dass es durch die magische Entladung heruntergefallen ist, Ariana. Wer kennt schon den Zugang zu diesem Ort?“. „Na, sogar dieses Menschenmädchen hat ihn scheinbar problemlos gefunden!“. Ariana kreischte nun beinahe. Es war wider ihre Art, sich solche Blöße zu geben, also musste etwas wirklich Schreckliches geschehen sein. „Hör auf, dich aufzuregen! Das steht dir ganz und gar nicht. Zeichne lieber weiter, solange ich die Berechnungen mache. Und mach bitte weniger Licht, ich muss die magischen Pfade ganz genau erkennen können.“ Sie sollte weniger Licht machen? Es war doch völlig finster! Vielleicht handelte es sich um ein Licht, welches nur Dämonen zu sehen vermochten. „Bist du sicher, dass du das schon schaffst? Ich meine…“, die Dämonin klang besorgt. Ob Surell wohl verletzt war? „Keine Sorge, die Droge hat ihre Wirkung schon verloren, mein Geist ist völlig klar.“, antwortete Surell fest. Eine Droge? Dämonen nahmen keinerlei Rauschmittel zu sich, weil sie es nicht ertrugen, ihrer klaren Sinne beraubt zu sein, das hatte Ariana ihr einmal erklärt. Sie tranken Weine, da diese auch andere Wirkungen hatten und die Trübung der Sinne bei geringen Mengen unwesentlich ausfiel, doch eine richtige Droge? Eine schiere Ewigkeit zog sich dahin und ließ Mireylle in einer Kulisse aus trippelnden Schritten, leisem Schaben, wie von Kreide auf Gestein, und dem ständigen leisen Murmeln Surells warten und frieren. Sie spürte bereits, wie die Ohnmacht stärker wurde, doch sie wollte unbedingt erfahren, was sie taten. Es war wichtig genug, um Mireylle in ihrem geschwächten Zustand auf eiskaltem Boden abzusetzen, anstatt sie kurz zu ihrem Bett zu tragen. Aber vielleicht war es ab jetzt auch egal, was mit ihr passierte, weil der Lord sie für das, was sie getan hatte, umbringen würde. „Ich bin soweit“, sagte Surell. Trippelnde Schritte erklangen und die Kreide glitt rasch über den Boden, um hier und da etwas hinzuzufügen, dann trat Ariana zu Surell. „Stell dich bitte da hinüber“, sagte er. „Gut. Ich gebe dir soviel ich kann, aber ich brauche nachher noch etwas für meinen Schutzzauber.“ Eine Pause entstand, während sie irgendwo hin ging, dann begann Surell leise zu flüstern. Mireylle vernahm das Rauschen seiner Ärmel im Wind der Bewegungen, zu dem sich ein immer lauter werdendes Dröhnen gesellte. Es erinnerte Mireylle ein wenig an das Geräusch einer Stimmgabel, doch es war wesentlich penetranter und irgendwie verzerrt. Erneut schien die Zeit sich ins Unendliche zu ziehen. Mireylle wurde mit jeder Sekunde schwächer und obwohl Surells volle Stimme immer mehr anschwoll entglitt Mireylles Geist dem Bewusstsein. Während um sie herum Magie gesponnen wurde, verfiel Mireylle in einen unruhigen Schlaf. Sie spürte die Realität am Rande der Traumebene, spürte die mächtige Vibration des Lebens, die sich geräuschvoll in grellbunten Farben über sie ergoss, sie mit in hohen Tönen anschrie, vielstimmig und voller Schmerz. Schmerz. Alles schien darin zu versinken. Er zerriss Mireylle und trug sie in Wellen des Leids über die Welt, von ihrem Körper losgerissen. Ihre Wahrnehmung bot ihr nur unverständliche Bilder, Dinge und Gefühle, die sie nicht kannte und nicht einordnen konnte. Ein Teil von ihr wies den Erfahrungen, die nicht die ihren waren, Emotionen zu. Es überreizte all ihre Sinne. Die Wolken und Strahlen aus Licht und Schmerz, die sie mit sich getragen hatten, verdunkelten sich zunehmend, bevor sie den Abgrund erblickte, dem sie unaufhaltbar entgegen getragen wurde. Es war eine Finsternis, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Sie sog das Licht förmlich ein, in einem wirren Strudel verschlang sie das Licht der Magie und damit auch das Leben. Schwärze, so unendlich wie das All. Erbarmungslos und kalt. Mireylle versuchte zu schreien, doch sie hatte keine Kehle, die hätte schreien können, keine Arme um sich festzuhalten und auch nichts, das ihr Halt hätte geben können. Grauen breitete sich in ihr aus. Das, was sie erwartete war schlimmer, als der Tod. Auf der anderen Seite der Finsternis gab es nichts. Das Nichts, wesentlich schlimmer, als der Tod. Ein Unterschied, dem Lebenden nicht zu vermitteln, doch eine Seele kannte ihn. Etwas erschien vor ihr, eine strahlende Silhouette, waberndes Licht, das menschenähnlich zu sein versuchte. Seine Umrisse wurden vom Abgrund angezogen, verschwanden im Nichts, doch sein Licht schien unerschöpflich von Innen zu kommen. Das Wesen wandte ihr Gesicht Mireylle zu und ihr blieb kaum die Zeit, seine Konturen zu erblicken, als sein brennender Blick Mireylle traf. Er brannte sich in ihre Augen ein und seine Flammen schlugen tief in Mireylles Herz ein. Einem Kometen gleich trafen sie Mireylles Innerstes und schlugen sie zu Boden, zurück in ihren Körper. Mireylle beugte sich im Bett auf und schrie, dann sank sie bewusstlos in die Finsternis der Kissen. „Immer bist du so negativ! Wir werden den Krieg gewinnen, Finior!“ Haleas lachte und streckte sein Übungsschwert stolz dem Himmel entgegen. Was machte es schon, wenn sie den Vampirlord herausforderten? Er war für seine Stärke bekannt, doch das Achatreich besaß eine ausgezeichnete Armee, während die des Rubinreiches durch die ständigen Kämpfe an den Grenzen zum Jadereich geschwächt war. An den Grenzen zu Lord Karigurou sollte der Vampirdämon schon unzählige gute Dämonenkrieger verloren haben. Außerdem sagten die Gerüchte, Lord Shahaan würde sogar eine kleine Menschenarmee führen. Wenn er selbst die schwächlichen Krieger der Menschen aufbot, mussten seine Truppen äußerst geschwächt sein. Haleas Vater, Magistror, hatte ihm von den Gerüchten am Hofe erzählt. Ein seltsamer kleiner Dämon, den niemand kannte, hatte Lord Lamerian von Lord Shahaans Schwäche berichtet. Er hatte sich angeblich bei einem magischen Akt im Saphirreich völlig verausgabt und hatte sich angeblich immer noch nicht davon erholt. Zudem war Lord Alesan nun ebenfalls gegen den Vampirdämon aufgebracht, was diesem noch früh genug Probleme an der Grenze bescheren würde. Haleas glaubte nicht an die Möglichkeit, ihr Reich könnte im Krieg unterliegen. Seine Eltern und älteren Brüder waren in den Krieg gezogen und er kannte sie gut, ein Heer, auf dessen Seite sie standen, konnte praktisch nicht verlieren. Auch Finiors Familie befand sich bei den Truppen. Sie beide waren zu jung für den Krieg und wurden zurückgelassen. Eine Unverschämtheit, schließlich war allseits bekannt, wie mächtig schon die jüngsten Dämonen im Kampf sein konnten und er und Finior stammten aus sehr guten Familien. „Sie hätten uns mitnehmen sollen“, sagte er mehr zu der Holzpuppe, mit der er übte, als zu seinem Freund. Finior schlug einige Male auf seine Puppe ein, wich dem Arm des Gestells geschickt aus und schlug noch einmal von hinten zu, sprang zur Seite und rollte sich ab. Sofort war es wieder auf den Beinen und bearbeitete das Holz unerbittlich. Sein Kampfstil glich eher einem Tanz, als einer ernsthaften Auseinandersetzung und doch war sein Gesicht vor Wut und Anstrengung verzerrt. Mit sechzehn einhalb Jahren war er bereits beinahe Kriegsfähig, doch man hatte ihn trotzdem zurückgelassen. „Kampf!“, schrie er dem jüngeren zu und augenblicklich kreuzten sich die beiden Holzklingen. Die Luft begann zu schwirren, als die beiden Gegner über den Übungsplatz sprangen und einander an ihre Grenzen Trieben. Haleas wich einem von Finiors Vernichtungsschlägen durch mehr Glück als Verstand aus, indem er sich zu Boden fallen ließ und schaffte es, seine Beine mit voller Wucht in dessen Magen zu rammen. Mit einem zweiten Angriff schlug er das Schwert aus den Händen des Freundes. Ruckartig rollte er zur Seite, sprang auf und rannte mit gehobener Waffe auf Finior zu. Finior blieb keine Zeit mehr zu seiner Waffe zu sprinten, voller Zorn rannte er seinerseits auch auf Haleas zu und der jüngere Dämon verlangsamte erschrocken seine Schritte, doch es war bereits zu spät. Finior verlor nie. Holz splitterte und feine Späne segelten durch die Luft, als Finiors geballter Hass auf die wehrlose Waffe traf. Haleas Schutzschild wurde mit einem Mal davon gefegt und der Junge flog in hohem Bogen gegen eine der Wände. Geschwächt rutschte er zu Boden. Doch Finior war schon zur Stelle. Er baute sich vor ihm zu voller Größe auf, sein Schatten verdeckte die letzten Strahlen der Sonne. „Ich bin nur ein Kind und sieh, was ich mit dir anstellen kann, du Idiot! Na, willst du immer noch in den Krieg ziehen, mächtiger Haleas? Willst du immer noch Blut und Knochen für deinen Lord geben?“. Sein Gesicht brannte und seine Glieder zitterten vor Wut. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest! Was hast du von dieser Welt gesehen, außer Luxus und Spiel? Sei dankbar, dass es andere sind, die die Dummheit des neuen Lords mit ihrem Leben bezahlen!“. Einem Amboss gleich flog Finiors Hand gegen die Steinwand hinter Haleas und schlug eine Delle in das stabile Material. Haleas senkte den Blick. Er konnte nicht antworten. Ihm fehlte es nie an Mut oder Worten, doch dies war etwas anderes. Er schwieg. Langsam verzog sich der Schatten über ihm und wehmütig sah er Finiors schlanker Gestalt nach, die quer über den Hof im großen Torbogen verschwand. Der junge Dämon seufzte und wischte sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht. Das Gesicht dem Himmel entgegengestreckt genoss er den lauen Abendwind und versuchte zu verstehen. Doch es gelang ihm nicht. Finior dachte so viel anders als er. Er hatte ein unglaubliches Potential, doch er zeigte keinerlei Machtstreben, wie es den Dämonen eigen war. Vielleicht lag es an seiner Intelligenz, möglicherweise änderte sie die Art zu denken, oder sogar die Wahrnehmung. Manchmal fiel es Haleas schwer, Finiors Reaktionen nachzuvollziehen. Er reagierte dann verspätet und völlig unlogisch. Aus Haleas Sicht war das zumindest so. Auch Haleas selbst war nicht dumm und äußerst geschickt, doch schon jetzt konnte er die Übermacht seines Freundes spüren. Er würde ihn nicht einholen können, das wusste er, doch obwohl es ihn manchmal wirklich ärgerte, reagierte er bei Finior anders als bei anderen Dämonen. Vermutlich sah er in ihm keine Gefahr. Zumeist bestand Haleas Ehrgeiz darin, dem Kindheitsfreund ebenbürtig zu werden. Er seufzte und wand einen kleinen Heilzauber an, obwohl Finiors Stimme in seinem Gewissen ihm vorbetete, wie überflüssig Magieeinsatz in solchen Situationen war. Dämonen heilten ohnehin sehr schnell. Haleas wischte den Gedanken mit einem selbstironischen Lächeln beiseite und richtete sich auf, um Finior zu folgen. Ob er sich wohl schon wieder beruhigt hatte? Haleas straffte die Schultern. Er würde gehen und es herausfinden. Außerdem hatte er Hunger. Lauer Wind und Gezwitscher wehten durch das geöffnete Fenster herein, doch der Morgen weigerte sich, dem erwachenden Mädchen sein Licht zu offenbaren. Die dürre Gestalt rieb sich die Augen und blinzelte. Sie wiederholte dies mehrere Male, dann sprang sie unvermittelt auf und stolperte mit ausgestreckten Händen auf das offene Fenster zu. Auf ihrem Weg zur Quelle des frischen Windes stieß sie sich an mehreren Möbelstücken und kippte einen der reich verzierten Sessel um. Man konnte hören, wie ihr Atem immer schneller ging um dann einen Moment völliger Stille zu hinterlassen, als sie am Fenster angekommen war. Einige Sekunden vergingen, in denen sich nur der Stoff des beinahe durchsichtigen Schlafhemdes und das tiefrote Haar des Mädchens im Wind ballten, während die Sonne warm auf ihre Unterarme fiel. Die Welt schien zu erbeben, als sie unerwartet aufschrie. Der entsetzte Ton zog sich durch den gesamten Palastflügel und erreichte einen jeden im Schlosspark und im Vorhof. Erdauerte an, ebenso wie die Woge des Schreckens, die über die schutzlose Gestalt hereingebrochen war, die bar jeglicher Orientierung durch das Zimmer stolperte. Sie erschrak und schrie bei der Begegnung mit etwas Unbekanntem erneut auf. Als es sie festzuhalten versuchte, begann sie unkontrolliert darauf einzuschlagen, tobte und schrie noch mehr, als sie die Übermacht spürte. Eine starke Hand umfasste Mireylles Handgelenke und eine weitere presste sich ihr vorsichtig auf den Mund. „Beruhige dich“, sprach eine Stimme sanft, die Mireylle kaum als die Surells erkant hätte. Doch sie wollte nicht. Niemals hätte sie gedacht, dass der Verlust ihres Augenlichts sie so schwer treffen würde, doch es war, als fehlte ihr nicht nur das Sehen, sondern auch jegliches Gefühl. Es fehlte ihr wie die Luft um Atmen. „Ganz ruhig, junge Mylady“, sprach er auf sie ein. Mireylle hörte auf, sich zu winden und ihr gedämpftes Schreien ertrank in hilflosem Schluchzen. Der Dämon presste sie an sich und strich ihr beruhigend über den Kopf. Er erntete unaussprechliche Dankbarkeit und auch so etwas wie Unverständnis. Gehörte Seelsorge auch zu den Aufgaben, die ihm von Shahaan übertragen wurden, oder war es eine Handlung nach der Art der Dämonen, um sie zu verwirren und Macht auf sie ausüben zu können? Einen Augenblick konnte sie sich einreden, es sei ihr gleichgültig, doch dann nahm die Skepsis überhand. Mireylle beruhigte sich und riss sich los. Stets bemüht, im Gleichgewicht zu bleiben, machte sie einige Schritte rückwärts und richtete ihre blinden Augen aus purer Gewohnheit auf die Stelle, wo der Dämon stehen musste. Es galt ihre Situation einzuschätzen. „Was ist passiert?“, fragte sie wesentlich härter, als beabsichtigt. Er zögerte, dann entschied er sich für eine Äußerung. „Du bist erblindet. Woran erinnerst du dich?“. Mireylle schnaubte bei der Bemerkung stumpf. „Ich war unter dem Palast und habe einen Raum betreten. Dort war ein Einhorn gefangen, in einem Kreis aus Magie.“ „Es war ein magisches Tripelpentagramm, um genau zu sein“, unterbrach der Heerführer sie. „Und dann?“ Mireylle dachte nach. „Ich dachte dies wäre es, das mich an euere Welt bindet, und habe versucht, mich zu befreien, indem ich das Einhorn entfernt habe. Es war vermutlich die Quelle der magischen Macht.“ Der Dämon pfiff. „Das hast du selbst erkannt? Ja, es war eine der Quellen, doch dadurch, dass sie fehlte, hätte nicht viel passieren dürfen. So wie ich das sehe, war es die Quelle des Zaubers, der den Kreis vor deinem Eindringen geschützt hat. Remon wird stinksauer sein, wenn er erfährt, dass er sich verrechnet hat. Das passiert dem sonst nie.“. Der Dämon klang jetzt beinahe gesellig. Mireylle hatte den gesamten Zauber also zerstört. Shahaan würde deswegen definitiv wütend sein, womit sie sich in einer wirklich gefährlichen Situation befand. Und Surell Haguren wurde plötzlich freundlich. „Warum bin ich erblindet?“, fragte sie schließlich. „Das weiß ich nicht so genau. Vermutlich ist es eine Folge der magischen Entladung, allerdings hätte sie dich eigentlich umbringen müssen.“. Deswegen war er also so nett. Er war einfach nur erleichtert, Shahaan ihren Tod nicht erklären zu müssen. „Es ist aber vermutlich nicht dauerhaft“, bemerkte er. „Du weißt schon. Regeneration.“ „Ich bin kein Dämon, ich besitze keine regenerativen Kräfte“, erklärte Mireylle. Spielte er mit ihrer Hoffnung? „Ach, was! Was immer du bist, du besitzt sie. Deine Haut ist nach dem magischen Brand völlig verheilt. Du hast keine Ahnung, wie du im ersten Moment ausgesehen hast, Mädel!“ Mireylle stockte. Es war also tatsächlich etwas mit ihrer Haut passiert und das Prickeln und die Empfindlichkeit rührten daher, dass die Haut noch völlig neu gewesen war! „Was ist mit den Astralen? Sind sie in Ordnung?“, fragte sie. „Wisse wir nicht so genau. Eins ist heruntergefallen, aber wir können nicht feststellen, ob es noch ganz ist. Ich meine: Keiner kann es berühren oder in Magie einflechten, außer er ist ein Lord. Oder eine Mylady.“, fügte er hinzu. Surells Sätze warfen so einige Fragen auf, doch Mireylle war unfähig, sich darüber Gedanken zu machen. Das, was ungesagt blieb, beschäftigte sie zu sehr. Was würde nun passieren? „Geht ihr nun zu Lord Shahaan?“. Die Finsternis um Mireylle begann zu prickeln, als der Dämon einige schwere Atemzüge tat. Es war kaum zu bemerken, er hatte sich gut im Griff, doch Mireylles Ohren hatten an Schärfe gewonnen. „Das wird geregelt.“, antwortete er unverbindlich. Schritte erklangen gedämpft und es klopfte. „Das wird Mary sein. Sie kümmert sich solange um dich. Bis bald.“. Mit diesen Worten ging er zur Tür und ließ Mary ein, die höflich grüßte. Dann ging er seinerseits durch die Tür. Mitten in der Bewegung verharrte er. „Mach keine Dummheiten, klar?“. Mireylle dachte daran, ihm einen zornigen Blick zu widmen und entschied sich dagegen. Sie schnaubte nur. Eilige, sichere Schritte verhallten in der Ferne, während Mary durch den Raum rannte und die Möbel richtig stellte. Mireylle kannte das Menschenmädchen. Sie war für Shahaans Gemächer zuständig und hatte sich auch schon einige Male um Mireylles Zimmer gekümmert. „Hallo, Mary“, grüßte sie und versuchte zu einem der Sessel zu gelangen. Augenblicklich kam Mary herbei und führte sie. „Ist alles in Ordnung, Mylady? Wegen Ihrer Augen, meine ich.“ „Ich sehe nichts, aber ich muss mich wohl fürs erste damit abfinden, nicht wahr?“, erwiderte Mireylle. „Ja“, sagte Mary in ihrer unschuldigen Art und machte sich wieder an die Arbeit. Nun hatte Mireylle ja reichlich Zeit, um nachzudenken. Der Krieg zog sich wie ein Schatten über das gepeinigte Land und drang tief in das Achatreich. Er hinterließ nur Verwüstung und Berge von Leichen. Das zunehmend von Stürmen und Urmächten gepeinigte Land ächzte unter dem mächtigen Schlag des Vampirlords und ging nach und nach in die Knie, obwohl es an der Front immer noch verbissen verteidigt wurde. Es zerbarst von innen, denn die beiden Astrale, die bisher die Pfade der Magie bestimmt und Schutzzauber aufrecht erhalten hatten, fehlten dem Achatreich nun. Der Heerführer nahm die Berichte des Boten interessiert entgegen. Er lehnte sich in seinem Empfangssessel vor und seine Augen leuchteten, seine Hände zuckten aufgeregt. Doch nach Abschluss des Berichtes verzichtete Surell erneut darauf, dem Boten eine Nachricht mitzugeben. Viele Tage waren nun vergangen, an denen er zögerte, Remon von der Sache mit den Astralen zu unterrichten. Das Schlimmste von allem aber waren die ständigen Fragen des Mädchens. Seit einer geschlagenen Woche bearbeitete sie ihn schon und es fiel ihm von Mal zu mal schwerer in diese hellblauen, von der Blindheit getrübten Augen zu sehen und sie zu belügen. Es war unsinnig, denn schließlich konnte sie ihn nicht sehen, nicht mit ihrem Blick einfangen oder fixieren, und trotzdem leuchtete zunehmend Entschlossenheit daraus hervor und lähmte seine Zunge. Irgendwie hatte er das Gefühl, sie würde dennoch erkennen, was er dachte. Er nahm Ariana ihre ständigen Streiche sehr übel. Wann immer sie sich unbeobachtet fühlte, vollführte sie kleine Zauber, die Mireylle stolpern oder anstoßen ließen. Es war eine dumme und Kindische Art, Rivalität auszutragen, und irgendwie passte es ganz und gar nicht zu der schönen und stolzen Dämonin. Ein wenig erinnerte es ihn an ihre Jugend, als Ariana sich ab und an die Zeit damit vertrieb, Bedienstete in den Keller zu locken und ihre sadistischen Spielchen mit ihnen zu treiben. Aber das war schon über hundert Jahre her und lag bereits weit hinter ihnen. Er seufzte, als der Bote abzog, und wandte sich wieder den langweiligen Verwaltungsgeschäften zu, über die Shahaan ihn aus unerfindlichen Gründen wachen ließ. Vielleicht traute er Desando, seinem Verwalter, nicht. Es war unnötig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen und so setzte er sich an den Arbeitstisch und begann die Dokumente zu überfliegen. Im Ohrwinkel hörte er schnelle Schritte näher kommen und sah auf, als die Tür aufgestoßen wurde. Es war das Mädchen. Sie sah ziemlich aufgeregt aus und starrte ich direkt an. „Ich sehe wieder etwas!“, verkündete sie freudestrahlend und ein Lächeln stahl sich auf Surells Züge. „Ist das alles?“, fragte sie, doch der vorwurfsvolle Tonfall wollte ihr nicht gelingen. „Ich habe den Morgen gesehen. Du weißt nicht, wie schön alles plötzlich ist! Freu dich doch mal mit mir!“. Grinsend erhob sich der Heerführer und ging zu dem unruhigen Geschöpf hinüber. „Ich habe den ganzen Morgen lang mit Mary über Farben gesprochen! Ach, es ist wundervoll!“. „Wie gut ist deine Sicht?“, erkundigte der Dämon sich. Mireylle senkte den Kopf, schaute aber augenblicklich wieder fest in seine Augen. „Nun, ich sehe vorwiegend Licht und Schatten, ich kann auch Farben gut erkennen, doch das meiste verschwimmt zu bunten Flecken. Aber für jemand, der eine ganze Weile gar nichts gesehen hat, ist das schon mehr als genug. Ich habe problemlos alleine hergefunden!“ „Es bringt Hoffnung“, bemerkte Surell. „Komm, wir machen gleich einen Spaziergang, damit du mehr von der Welt siehst!“, fügte er mit einem Blick auf den Arbeitstisch an. Er hatte vergessen, wie dumm es war, mit dem Mädchen alleine zu sein. Die erste unangenehme frage folgte innerhalb kürzester Zeit. Sie hatten es nicht einmal aus dem Palastflügel geschafft, dachte er wehmütig. Und er hatte ihr einen ganzen Spaziergang versprochen. Wo war sein verdammter dämonischer Verstand hin? Er mochte sie irgendwie, die am Schmerz gewachsene Entschlossenheit und ihre Art, seine Gedanken ohne jegliche Magie zu lesen, beeindruckte ihn einfach. Sympathie durfte man bei Dämonen nicht überbewerten. Unter Dämonen führte das oft zu mehreren nächtlichen Verabredungen, aber selten zu mehr. Mit Menschen ließen sie sich gar nicht erst ein. Er schreckte aus seinen Gedanken und sah überrascht in Mireylles klare Augen, die ihn fesselten. „Ich habe dich etwas gefragt!“ Empörung drang aus ihrer Stimme und einen Moment lang dachte der Dämon daran, was andere Dämonen wohl hinter seinem Rücken sagten, weil er das Menschenmädchen derart formlos mit sich sprechen ließ. Dann fiel ihm ein, wie wenig er sich um das Gerede dieses höfischen Packs scherte. Aber auch diesmal würde er ihr nichts sagen. Der Bote verließ den Raum. Surell hatte geschwiegen. Schließlich hatte er mit Arianas Hilfe alles wieder in Ordnung gebracht. Es gab keinen Grund zur Sorge. Die Probleme, die den Lord beschäftigten, wogen weitaus schwerer. Der Lord des Achatreiches weigerte sich, an der Front gegen Shahaan anzutreten und zog es stattdessen vor, seine gesamte Streitmacht im Kampf zu opfern. Auf diese Weise würde kein einziger Dämon des Achatreiches mehr leben, wenn Shahaan es endlich für sich gewann. Dies würde seine weiteren Pläne behindern. Um kleine Vorfälle im Palast konnte der Lord sich gerade nicht kümmern. Auch wenn diese weitaus geheimnisvoller waren, als das Verhalten Lamerians. Seufzend legte er die Papiere zur Seite, als er Mireylles Nahen gewahr wurde. Allmählich hatte ihr Auftauchen nach der Audienz der Boten rituelle Züge angenommen. Er horchte auf, die wütende Entschlossenheit ihrer Schritte erkennend. Innerlich rüstete er sich für eine diplomatische Schlacht. Wider sein Erwarten hielt sie vor der Tür inne, um sanft anzuklopfen. Auf Surells Aufforderung trat sie schweigend ein und verschloss die Tür. Das Mädchen sah im Nähertreten zu Boden und viel zu spät bemerkte der Heerführer die Wärme ihrer Wangen und den schnellen Herzschlag. Ihre Augen durchbohrten ihn. „Ich habe mit dem Bote gesprochen“, sagte sie mit bebender Stimme. „Und mit den drei anderen.“. Surell war verwirrt, denn keiner von ihnen hatte die Befugnis, Informationen an Dritte weiterzugeben. Was konnte sie wissen? „Vielleicht liegt es daran, wie dieser Tag begonnen hat, daran, dass Marys Verschwinden offenbar keinen weit und breit kümmert. ‚Sie ist nur eine Bedienstete’, hat Ariana gesagt! Aber sie wollte gestern Abend noch einmal zu mir kommen und heute früh will immer noch keiner wissen, wo sie sein könnte. Ich verstehe es nicht!“. „Mireylle…“, begann der Dämon in beruhigendem Tonfall. Die Magie, die er dabei wirkte wurde ihm erst durch den hasserfüllten Blick des Mädchens bewusst. Augenblicklich stockte er. „Hör auf! Ich kenne diese Tricks inzwischen gut genug, also beleidige meine Intelligenz nicht damit! Ich will deine Meinung dazu auch gar nicht wissen. In dieser Hinsicht unterscheidest du dich nicht im Geringsten von den anderen Dämonen. Eure verdammte Arroganz!“. Wut pulsierte unvermittelt in Surells Adern. Instinktiv richtete er sich auf. „Ihr könnt nicht derart mit mir reden, Mylady!“, presste er hervor. „Du hast mich belogen!“, donnerte die Stimme des Mädchens. „Ich verlange zu wissen, warum du Shahaan nicht informiert hast!“ „Du hast nicht die Befugnis…“, setzte Surell an. „Ha! Du hörst dich schon so an, wie sie! Ihre Mittel sind dir also recht, wenn es dir gerade nützt. Ich bin die Mylady, auch wenn es nur ein Trick ist. Gerade deswegen funktioniert es. Es ist eben ein ziemlich guter Trick, weißt du? Deshalb habe ich auch alles von den Boten erfahren, was ich wissen musste. Der Zauber der Autorität beeindruckt sie weitaus mehr, denn der Schutz, der um mich liegt.“ „Es ist meine Entscheidung, was ich ihm berichte und was nicht. Es geschieht auf meine Verantwortung, also halte dich da raus, Mylady!“. Er konnte nicht fassen, wie sehr sie ihn aus der Ruhe gebracht hatte. Wie konnte sie glauben, der fadenscheinige Titel würde bei ihm etwas nützen? „Wenn du keinen Boten schicken willst, dann nutze die Gelegenheit und geh persönlich zu ihm! Ich sehe doch, wie sehr du hier leidest!“ Sie senkte den Kopf. „Nur um auf mich aufzupassen.“, fügte sie kleinlaut hinzu. Ihre Feststellung hatte den Heerführer völlig aus der Bahn geworfen. Wieso kümmerte es sie, wie es ihm dabei ging, von Shahaans Schlacht ausgeschlossen zu sein? Er fragte sich, wie oft sie ihn beobachtet hatte in den Momenten, in denen er sie und Shahaans Befehl in die ewige Finsternis wünschte. „Das kann ich nicht. Ich kann dich hier nicht alleine lassen.“. Ariana würde ihr bei erster Gelegenheit einen tragischen Unfall bescheren. „Es war Remons ausdrücklicher Befehl. Und er war nicht diskussionsfähig, glaub mir“. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf Surells Lippen. „Ich verstehe überhaupt nicht, wie er einen Heerführer zurücklassen konnte. Du bist für derartige Aufträge nicht geeignet.“. Anstrengung spiegelte sich in den Zügen des Mädchens, als sie mit sich rang. „Wir sollten sowieso beide gehen, schließlich habe ich seinen Bannkreis zerstört“. Sie wollte also die Verantwortung übernehmen, bemerkte der Dämon anerkennend. „Er könnte dich umbringen“. „Wir werden sehen.“, antwortete Mireylle langsam und empfing ein anerkennendes Lächeln. Sie hatte den Test bestanden, es war ihr ernst. Surell sah alle dagegen sprechenden Gründe als entkräftigt an. Sie sollte eine Chance bekommen, ihren Mut auszuleben, und ihm selbst kam dieser Vorwand nur mehr als gelegen, wie ihr zweifelsohne bewusst war. Im Hinterkopf begann er bereits die Planung ihres Aufbruches. Ariana musste sich um die bürokratischen Aufgaben und den Schutz der Astrale kümmern, solange sie fort waren. Es würde sich schwierig gestalten, denn der unbekannte Feind innerhalb des Palastes wartete mit Sicherheit nur auf eine solche Gelegenheit. Seit der letzten Erschütterung der Magie spürte er ebenso wie die anderen Dämonen eine gewisse Schwäche in seiner Magie und der Kampf wurde damit zunehmend von physischen Fähigkeiten bestimmt. Immer noch verwundert erinnerte sich der Dämon an Mireylles Reaktion auf die magische Erschütterung. Sie hätte sie gar nicht spüren dürfen, doch sie erwachte schreiend aus ihrer Bewusstlosigkeit, nur um nach dem Ende der Erschütterung wieder in diese zu verfallen. Er sah forschend in das Gesicht des Mädchens, das ihm voller innerer Anspannung entgegenstarrte. „Ich werde mich um die Sache mit Mary kümmern. Anschließend kläre ich mit Ariana die Bewachung der Astrale ab. Bist du nun zufrieden?“. Die Frage erwies sich als rhetorisch. Die Augen des Mädchens strahlten, als sie ihn breit anlächelte. „Wann brechen wir auf?“ „Noch heute Nacht. Ich sage Girall, er soll dir ein Mädchen schicken, das dir beim Packen hilft.“ Damit ließ Surell sich in den Sessel fallen und nahm einige Unterlagen zur Hand. Aus den Augenwinkeln sah er Mireylle zur Tür schreiten und sie öffnen. Sie stockte in der Bewegung drehte sich noch einmal zu ihm und knickste blitzschnell, ehe sie hinaus eilte. Ariana beherrschte die Rolle der Lehrmeisterin voll und ganz. Erst nachdem das Mädchen gegangen war, sprang Surell aus dem Sessel, schwang die Tür zum Balkon auf und streckte sich glücklich in der Sonne. Endlich wieder etwas Bewegung. Sie brachen im schwindenden Licht der Dämmerung auf. Surells Idee, zu Pferd zu reisen, wurde sofort verworfen, als Mireylle ihm ihre Unfähigkeit auf diesem Gebiet eingestand. In ihrer Welt bewegte man sich auf andere Weise über größere Strecken hinweg. Sie nannte das Fortbewegungsmittel „Auto“ und schon nach kurzer Einführung dieses selbst fahrenden Gerätes erkannte der Heerführer dessen Komplexität. Das Mädchen hatte schon oft versucht, ihm zu erklären, auf welche Weise die Menschen in ihrer Welt ihr Leben vereinfacht hatten, doch ihre Ausführungen langweilten ihn zumeist, da ihm von vielen der Dinge jegliche Vorstellung fehle und das Gespräch zumeist mit einer Auseinandersetzung alltäglicher Aufgaben von Dienern und Menschenvolk endete. Für diese Dinge interessierte sich der Dämon noch nie, eine Eigenschaft, die Mireylle während der langen Kutschenfahrt mindestens ebenso oft bemängelte, wie das Fehlen so genanter Stoßdämpfer, von denen Surell von Beschwerde zu Beschwerde eine immer deutlichere Vorstellung gewann. Nachdem das Mädchen schlussendlich eingeschlafen war, saß er noch lange wach. Obwohl es vielleicht logischer gewesen wäre, machte er sich wenig Sorgen um Shahaans Reaktion. Letztlich konnte der Lord ihn nur wegen seiner Unaufmerksamkeit strafen, es war kein tatsächlicher Schaden entstanden. Erneut betrachtete er das entspannte Gesicht des Mädchens und fragte sich, warum sie so dringend auf eine Benachrichtigung bestand. Offensichtlich war sie sich sicher, nicht selbstständig in ihre Welt zurückkehren zu können, denn sonst hätte sie es mit Sicherheit bereits getan. Vielleicht hoffte sie in dieser Sache auf Shahaans Hilfe, doch dieser würde ihrem Wunsch nicht nachgeben, falls er dafür überhaupt Verantwortung trug. Möglicherweise hatte das Mädchen den Kuss auch falsch verstanden und stellte dem Lord auf diese Art nur nach, doch eigentlich traute Surell ihr mehr Intelligenz zu. Sie hatte das Wesen der Dämonen recht schnell erfasst und fiel kaum noch auf die übliche kleine Gemütsmagie herein, die die Dämonen zu jedweder Gelegenheit nutzten. Abermals wanderte sein Blick zu dem ruhenden Gesicht des Mädchens. Sie hatte sich beim Einstieg in die Kutsche mit ihrem Kleid sehr ungeschickt angestellt. Anschließend war sie unruhig auf der gepolsterten Sitzbank umhergerutscht und nun hatte die Müdigkeit sie übermannt und den geringen Komfort vergessen lassen. Was Shahaan wohl mit ihr vorhatte? Sie war in Bezug auf diese Welt ebenso ahnungslos, wie ein Kind, aber gleichzeitig sprachen ihre Augen von völliger Klarheit. Sie schien zu verstehen, zu erfassen. Sie hätte ein Dämon sein müssen, wäre es in dieser Welt vielleicht gewesen. Sie begann bereits, ihre natürliche Zurückhaltung zu überwinden und ihrem Gefühl und Intellekt zu folgen. Doch bisher war sie noch auf keinerlei Widerstand gestoßen. Er war gespannt, wie sie sich in einer schwierigeren Situation verhalten würde. Er würde es nicht wagen, sich in Remons Pläne einzumischen, soviel war sicher. Seufzend klappte er das Buch zu und betrachtete den vergoldeten Einband kurz, ehe er es unter die Sitzbank schob und die Kissen aufschüttelte. Auch er würde seine Kräfte brauchen, wenn sie Remon Shahaan gegenüber standen. Sie hielten in einem kleinen Städtchen an der Grenze und rasteten einen halben Tag, ehe sie weiterfuhren. Surell hatte entschieden, diesem im Bezug auf die Realität des Lebens offensichtlich verzärtelten Mädchen nicht allzu viel von den Lebensumständen der Menschen oder den Auswirkungen des Krieges zu zeigen. Trotzdem hatte er nach dem unvermeidlichen Umgang mit einfachen Menschen bereits einen strengen Zug in den Augen des Mädchens festgestellt, der ihm ein wenig Sorgen machte. Es war die Art subtiler Unzufriedenheit, die einen Sturm herauf zu beschwören vermochte. Die ausgebildeten Sinne eines Dämonenkriegers weckten Surell, lange bevor sie ihr Ziel erreichten. Forschend beugte er sich vor und zog die schweren, blauen Vorhänge beiseite, um die Tageszeit festzustellen. Er hatte bis in den Mittag herein geschlafen und dem Mädchen war es in der warmen Dunkelheit der Kutsche ebenso ergangen. Das grelle Licht fiel auf sie und sie begann das Gesicht verziehend zu erwachen. Der Dämon lächelte, richtete mit einigen raschen Bewegungen sein Äußeres und band sich sein Schwert um, ehe er die Tür öffnete und aus der fahrenden Kutsche sprang. Irgendwo da draußen tobte die Schlacht. Kampfmagie prickelte in der Luft und lockte den Heerführer. Seine scharfen Augen konnten bereits das Heer ausmachen. Vom Ruf der Schlacht beflügelt beschleunigte er seine Schritte, bis er mit höchstmöglicher Geschwindigkeit auf die kämpfenden Heere zueilte. Sein Übermut ließ ihn springen und im Überschlag theatralisch die Waffe ziehen. Einem dichten Netz gleich, flog seine Magie Surell voraus und setzte den Schutz vieler naher Gegner außer Gefecht, während sein geschicktes Schwert eine breite Schneise in das blau gewandete Feld zog. In der Kutsche richtete Mireylle sich alarmiert auf, als sie das Kampfgeschrei wahrnahm. Ihr Herz schien bei dem Blick aus dem Fenster einen Moment seine Aufgabe zu vergessen. Doch sofort nahm es seine Arbeit umso energischer auf, um dieses Versäumnis schnellstmöglich nachzuholen. Vor der Kutsche erstreckte sich ein weites Feld, das einmal von Weizen bewachsen gewesen sein mochte, aber nun lagen die schutzlosen goldenen Halme zertreten von den Füßen unzähliger Kämpfer in einem Dreck, der Mireylle mit Schrecken erfüllte. Nicht Wasser, nein, Blut tränkte nun die verwüsteten Felder und im erbarmungslosen Licht des Mittages erkannte Mireylle mit Schrecken Berge von Leichen. Unfähig, sich von der Grausamkeit abzuwenden, die diesen Wesen widerfahren war, starrte sie die achtlos aufgehäuften Körper an und zitterte. Ihr Blick riss sich erst davon los, als eine Brise den widerlichen Verwesungsgestank zu ihr hinübertrug. Mit Tränen in den Augen wendete sie sich ab und vertraute ihre letzte Mahlzeit dem Erdboden an. Die Kutsche hielt mit einigem Abstand von der Schlacht und völlig benommen stolperte Mireylle hinaus. Ihr Blick wanderte zum Ort des Geschehens und alles in ihr schrie vor Schmerz, ein Schmerz, der nicht ihr selbst zu entspringen schien. Das schwindende Leben schrie, während der namenlose Schatten des Unterganges sein Gewand über die Welt breitete. Der Krieg wanderte über das Feld und blind, wahllos, ja beinahe teilnahmslos schlug er links und rechts Schneisen der Vernichtung in das überfüllte Feld. Wo immer er hielt senkte sich Finsternis über die Welt hinab, ließ das Blut der Kämpfer gefrieren und riss jegliche Hoffnung aus den Seelen der Krieger, noch ehe ihr Herz seinen letzten Schlag tat und ihre Seele für immer in das ewige Nichts verschwand. Dem stummen Takt der Vernichtung folgend wogte das Heer im Kampf und der schmerzerfüllte Todesschrei der Seelen fraß sich tief in Mireylles Sein. Mit jedem Schrei, jedem Schwertstich, starb das Leben, all seine Essenz. Gefühle, Sehnsüchte und Hoffnungen fielen Mut, Stolz und Überzeugung zum Opfer. Warum? Was war der Grund? Niemand suchte nach einer anderen Lösung, das Leben erfüllte die Dämonen offensichtlich mit keinerlei Ehrfurcht. Mit plötzlich aufkeimender Entschlossenheit hob Mireylle ihren leidenden Blick und kalte Wut spiegelte sich nun in ihren Augen wider. Sie war sich selbst nicht im Klaren darüber, woher dieser Mut, das mürrische Selbstvertrauen, kam, das sie nun den Kriegern entgegen bewegte. Keinerlei Gefühl drang zu ihr durch, als Mireylle sich mit raschen Schritten dem spritzenden Blut näherte. Viel zu spät sprang der alte Dämon auf dem Kutschbock auf, er hatte ihr Fortgehen nicht wahrgenommen. Verwirrt lief er ihr nach, doch sie war bereits viel zu nahe an den Kämpfenden. Sie lief in ihr eigenes Verderben, doch zu seiner Verwunderung achtete niemand auf das Mädchen, das sich mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen den kämpfenden Gestalten durch das Schlachtfeld bewegte. Er zog seine Waffe, er musste versuchen, sie zu schützen, sonst war sein Leben verwirkt. Der Dämon starb noch ehe er die Schlacht erreichte. Seine Magie hatte den Pfeil nicht aufhalten können. Mireylle ließ sich von ihren Beinen immer tiefer in das Schlachtfeld tragen. Am Rande ihrer Wahrnehmung war sie sich der Schlacht gewahr, irgendwie notierte sie auch Surells stürmisches Vordringen in ihre Nähe, doch nichts konnte sie in ihrer inneren Kälte berühren. Ihr Ziel war die Mitte des Schlachtfeldes, ihr magisches Zentrum, wo die Magie in Stabilität einer Wand glich. Ein Bann zog sie dorthin. Der Ort, an dem die Magie am stärksten und die Welt gleichzeitig am schwächsten war. Es erinnerte sie an das Nichts, dem sie im Traum entgegen gezogen worden war. Der Punkt, dem das verflossene Leben haltlos entgegenströmte. Gebannt blieb sie stehen, unfähig einen weiteren Schritt zu tun. Erst das knallende Geräusch nahe bei ihr aufeinander treffender Schwerter riss Mireylle aus ihrer Trance. Erschrocken drehte sie den Kopf und zuckte zusammen. Gleich neben ihr stand Surell und hielt das Schwert eines Angreifers auf, der es auf Mireylle abgesehen hatte. Schweiß perlte über das Gesicht des Heerführers und ein schwer zu deutender Zug spiegelte sich darauf wider. Sich der Gefahr erst jetzt gewahr werdend sank Mireylle auf den Boden und folgte mit ihrem Blick furchtsam dem Heerführer, der sie im Kampf schützend umkreiste. Ein neuer Gegner stürmte auf ihn ein. Zorn und Entschlossenheit standen in seinen Zügen, als er Magie und Kraft gleichermaßen in den Kampf schleuderte. Mit geschickten Zügen parierte Surell den Angriff immer wieder. Doch Mireylle erwies sich in seinen Kampfzügen als Hindernis. Er musste die ganze Wucht der Schläge hinnehmen, statt einfach geschickt auszuweichen und seinen Gegner ins Leere stolpern zu lassen. Auch musste er für ihren magischen Schutz sorgen, denn die verwirrende Magie, die bis vor kurzem ihren Weg durch das Schlachtfeld ermöglicht hatte, war mit einem Mal gewichen und hatte ein einfaches Mädchen zurückgelassen. Ein Teil von Surell fragte sich, wie sie wohl auf die Brutalität der Schlacht reagieren würde, doch als er einen flüchtigen Blick zu ihr hinüber warf, hing der ihre entsetzt an Remon Shahaan, dessen Magie einen weiten leeren Kreis gleich neben ihnen schuf. Der Lord ließ immer nur drei Kämpfer zu sich durch. Seine Augen brannten in rotem Licht, während sein treuer Begleiter Hadesschatten glatt durch Fleisch und Knochen der Herausforderer schnitt. Mit beinahe erregtem Gesichtsausdruck schloss der Vampir die Augen, als warmes Blut ihm entgegenspritzte um Kleidung, Haar und Gesicht gleichermaßen zu benetzen. Noch ehe Mireylle den Eindruck des kurzen Momentes verarbeitet hatte, drehte der Vampir sich eindrucksvoll und tötete zwei weitere Gegner. Sein im Zopf zusammengefasstes schwarzes Haar hatte sich in blutverkrusteten Strähnen aus diesem heraus gelöst und wirbelte theatralisch durch die Luft. Der Lord tanzte den Tanz des Todes. Sein Kampfstil glich einem Tanzritus, der Tod und Blut heraufbeschwor und mit seiner Eleganz und Schönheit der Brutalität des Krieges spottete. Unfähig, diesen Anblick weiter zu ertragen, wandte Mireylle den Blick ab. Die Zeit zog sich dahin, als sie den Kampf zu durchschauen begann. Das angreifende Heer war von den Hügeln herangezogen, doch trotz seiner hohen Stärke sank die Anzahl der Angreifer mit zunehmender Geschwindigkeit. Mireylle hatte angefangen, die beiden Heere anhand der Rüstungen und der Farben zu unterscheiden. Weit und breit konnte sie nur Dämonen erkennen, doch keinen, der dem Lord in seiner Art glich. Die Augen aller besaßen das dämonische Leuchten, doch keine Augen erstrahlten in dem rot des Vampirs, keine Magie hatte denselben metallischen, trockenen Beigeschmack. Er hatte sich als Lord der Vampirdämonen vorgestellt, doch er schien der einzige derartige Dämon zu sein. Es hatte eine Andeutung, ein Spott in dem Wort gelegen, den sie damals nicht zu erfassen vermochte. Auch jetzt blieb die tiefere Bedeutung ihren gequälten Sinnen verwehrt. Schon bald konnte sie kaum noch Angreifer entdecken, nur an den äußeren Rändern des Heeres tobte noch der Kampf. Einige Dämonen begannen bereits, die Leichen magisch aus dem Schlachtfeld zu entfernen. Mireylles Blick folgte ihrem stummen Flug zu den Totenhügeln. Währenddessen erschlug Surell den letzten nahen Angreifer und auch der Lord entfernte nun den magischen Bannkreis und kam schnellen Schrittes zu ihr. Surell hatte gerade zu einigen vorwurfsvollen Worten angesetzt, doch er hielt inne, um den Lord sprechen zu lassen. Dieser ließ seinen Blick forschend über die Gesichter beider wandern. „Begebt euch zum Lager. Ich lasse für Mylady Mireylle ein Zelt räumen. Bringt sie dort unter, dann kommt ihr zu mir, Surell Haguren“. Damit nickte er ihnen beiden zu und ging davon. Mireylle sah seinem sicheren, federnden Schritt nach und ihr wurde schlecht, als alle Eindrücke auf einmal über sie herein brachen. Surell holte ein Taschentuch hervor und reichte es ihr, bevor er ihr aufhalf. Sie gingen langsam und Mireylle wankte dabei gefährlich. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi und weigerten sich beständig, sie zu tragen. Nach einigen Metern wurde Surell es leid. Die Blicke der Dämonen in der Umgebung waren ihnen neugierig gefolgt und missbilligend betrachteten sie die Schwäche des Menschenkindes. Mit einem schnellen „Wenn Ihr erlaubt, Mylady“ hob Surell sie an und trug sie in Richtung des Lagers davon. In der Mitte des Zeltlagers angelangt setzte Surell Mireylle ab, die sich neugierig umsah. Sie hatte noch nie ein militärisches Lager gesehen. Ganz in der Nähe erkannte sie Shahaan, der mit scharfer Stimme Befehle gab und sich nebenbei mit einem feuchten schwarzen Tuch Gesicht und Hände abwischte. Seine Augen leuchteten noch immer in unangenehmen Rot. Ein Schatten bewegte sich nahe des ihm nächsten Zeltes und weckte Mireylles Aufmerksamkeit mit der vorsichtigen Art seiner Bewegungen. Die Flanke des Zeltes gewährte der Gestalt Schutz vor dem verräterischen Licht und ließ ihn nahe an Shahaan heran kommen. Viel zu spät erkannte Mireylle die Gefahr und wunderte sich über das Schweigen des Heerführers. Trotz ihrer Verunsicherung rannte sie einige Schritte vor und öffnete den Mund zu einem warnenden Ruf, als in der Hand des Schattens eine Klinge aufblitzte und die Gestalt blitzartig auf den Lord zu schoss. Doch Shahaan schien den Jungen bereits lange wahrgenommen zu haben und drehte sich schwungvoll um, noch ehe dieser nahe genug war, um ihm Schaden zufügen zu kommen. Es wirkte, als prallte der junge Krieger von einer Wand ab. Die Klinge flog ihm in hohem Bogen aus der Hand und er fiel rückwärts stolpernd zu Boden. Als er zu Shahaan aufblickte, hatte dieser Hadesschatten bereits gezückt. Mit Schrecken bemerkte Mireylle, dass der Junge kaum Sechzehn Jahre alt war. „Wie ist dein Name?“, donnerte Shahaans Stimme. „Ich bin Haleas, Sohn des mächtigen Matistros Adivian und der erhabenen Valentine Adivian!“, entgegnete der Junge stolz. „Ah. Adivian, ein mächtiger Name. Dein Stolz ist dein Untergang, Junge. Hast du geglaubt du wärest fähig das zu tun, Kind, was wesentlich mächtigere und erfahrenere Dämonen nicht zu tun vermochten? Oder wolltest du mir mit diesem feigen Übergriff nur spotten?“. Die Stimme des Lords triefte vor Verachtung. „Ihr seid der Mörder meiner gesamten Familie, Lord! Durch Euere Hand sind mir Vater und Mutter ebenso genommen, wie meine drei Brüder. Ich habe Rache geschworen, selbst wenn ich nicht im Heer unseres Reiches mitkämpfen darf. Selbst wenn es mich mein Leben kostet! Ihr seid ein wahrer Vampirdämon! Ein ruchloser Abschlachter, der Nichts im Sinn hat, als Blut und Macht! Ihr habt Euch dem Fürsten widersetzt und seid tief in unser Reich eingedrungen, um es zu erobern und um Euere Mordlust zu befriedigen! Wie ein Dieb habt ihr uns unserer beiden Astrale beraubt und habt unser Reich den Urmächten ausgeliefert, nur um Euere Macht zu vergrößern! Ihr widert mich an!“. Der Junge spuckte zu Boden und starrte Shahaan fest in die Augen, auch wenn der Schweiß ihm in Strömen den Rücken hinunter rannte. Mireylle war schockiert. Sie konnte mit dem Jungen mitfühlen, der alles verloren hatte. Verzweiflung hatte ihn zu dieser Dummheit getrieben. Und Stolz verbot ihm nun, um sein Leben zu flehen. Mireylle ahnte schreckliches, als die Augen des Vampirdämonen aufblitzten. Mit einer um Aufschub flehenden Geste rannte sie vor, doch Surell hielt sie zurück. Wütend drehte sie sich nach ihm um, doch sein Blick war warnend. „Du hättest den Mund halten und um dein Leben flehen sollen, um erst Erfahrung sammeln und mich später erneut herausfordern zu können. Doch dein Stolz ist der Ursprung deiner Dummheit. Das ist es nicht, was einen wahren Dämon ausmacht, Junge.“. Noch ehe Mireylle erschrecken konnte, hatte der Lord ausgeholt und der Kopf des Kindes rollte über den Boden. Entsetzt schrie sie auf. Er war noch ein Kind gewesen. Plötzliche Entschlossenheit packte sie und ließ sie vorstürmen. „Das hättet ihr nicht tun dürfen!“, schrie sie den Vampir an, dessen Züge einen vagen Anflug von Erstaunen preisgaben. „Er war noch so jung!“. „Es liegt nicht in Euerem Ermessen, darüber zu entscheiden, Mylady“, erwiderte er mit ruhiger Stimme. Ein leichter warnender Unterton schwang in seinen Worten mit. „Gerade, da ihr eigentlich überhaupt nicht hier sein dürftet, Mylady Mireylle. Wenn Ihr also so gut wärt, mir Euer Erscheinen zu erklären?“ Mireylle war verblüfft. Er ging einfach über ihren Einwand hinweg und wechselte das Thema. Seine Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber ärgerte sie zunehmend. „Ich bin hier, um herauszufinden, wie ihr es geschafft habt, mich an diese Welt zu binden, Lord!“, schmetterte sie ihm entgegen. „Hier seid ihr in Lebensgefahr. Ihr hättet das Schloss nicht verlassen dürfen.“. Er antwortete wieder nicht! „Meint ihr Euere Gegner? Oder vielleicht Euch selbst, Lord? In Eurer Nähe fühle ich mich kaum sicherer denn bei Euerem Feind.“. „Nun, Ihr scheint Euch doch außergewöhnlich sicher zu fühlen, wenn Ihr es wagt, so mit mir zu sprechen, Mylady. Ich bitte Euch, Euch in Euer Zelt zurückzuziehen, während ich mich mit Surell Haguren unterhalte. Ich werde Euer Anliegen danach mit Euch besprechen.“ „Nein, ich werde diesem Befehl nicht folgen! Antwortet mir jetzt! Wieso haltet ihr mich hier fest?“. Nun schien der Lord ernsthaft verärgert. Zum ersten Mal erschienen wahre Emotionen auf seinem Gesicht, ehrlicher als alles zuvor. „Seid nicht so dumm, mir zu widersprechen, Mireylle!“ „Werdet ihr mich dann auch köpfen, wie diesen armen Jungen da, Lord?“. „Erwartet ihr von mir, dass ich meinen Feind erst reifen lasse? Er wäre mir nie gewachsen gewesen, Mädchen. Doch sein Leben wäre einzig und allein von dem Drang geleitet gewesen, mich zu vernichten. Früher oder später hätte es ebenso geendet wie jetzt.“ „Wo ist Euer Respekt vor dem Leben nur geblieben? Ohne mit der Wimper zu zucken habt ihr das Leben dem Nichts überlassen!“ Verblüffung lief wie ein Schauer über sein Gesicht, um es kalt zurück zu lassen. „Haltet Euch aus meinen Entscheidungen raus, Mylady! Ihr geht zu weit!“ „Es ist, wie der Junge sagte. Euch interessiert nichts als Macht. Nichts als Blut und Knochen! Und auch mich erfüllt das Leuchten Euerer Augen mit Ekel. Euere Erregung, gezeugt durch Tod und Blut!“. Wütend beobachtete sie, wie die Augen des Dämons sich unwillkürlich weiteten. Sein zorniger Blick wand sich von ihr ab. „Meredas! Bring die Mylady zu ihrem Zelt und sorge dafür, dass sie darin auf mich wartet.“, rief er einem der verdutzten Dämonen in der Nähe zu. „WAS?“, erwiderte Mireylle ungläubig. Ein Dämon nahte. „Mylady…“, grüßte er und richtete einen auffordernden Blick auf sie. Sie würde sich beugen, der Zwang war zu mächtig. Trotzdem warf sie Shahaan noch einen hasserfüllten Blick zu, ehe sie sich abführen ließ. Meredas geleitete Mireylle bis zu einem geräumigen Zelt mit großem rotem Banner. Er folgte ihr nicht in das Innere, obwohl sein Blick sie dorthin geleitete. Mireylle beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er schweigend davor Aufstellung bezog. Schwäche befiel sie, als sie sich ihrer Machtlosigkeit gewahr wurde, und Tränen rannen ihr die Wangen herunter, während sie sich umsah. Ein geräumiges Bett und ein großer Tisch waren die größten Gegenstände des Raumes, einige Kisten und Truhen säumten die Wände des Zeltes. Sie ging zum Tisch und bediente sich an dem Wasserkrug, der darauf stand. Doch es verstärkte nur den Fluss der Tränen. Erschöpft warf sie sich auf das Bett, um sich auszuweinen, und nickte letztendlich ein. Mireylle erwachte, als ein merkwürdiges, ebenso fremdes wie vertrautes Gefühl sie packte. Sie sah sich instinktiv im Zelt um und erblickte tatsächlich eine Gestalt, die in den Schatten auf einer der Kisten saß. Es konnte nicht der Lord sein. Die Gestalt war von kleinerer Statur, der Körperbau eher filigraner Art. Zudem hockte ihr Besucher in einer Art und Weise auf der Kiste, die für den Vampirlord äußerst ungebührlich sein würde. In der Dunkelheit leuchteten die Augen kurz auf. Erschrocken richtete Mireylle sich auf und ihrem Schrei vorbeugend legte die Gestalt einen Finger auf die Lippen. „Pssssst, Mylady. Ihr solltet uns nicht verraten.“ Er sprang auf und trat vor, seine Hand lockte sie näher heran. Er war alles andere als das, was sie erwartet hätte. In einer gewissen Weise erinnerte seine Kleidung Mireylle an ihre eigene Welt. Er trug eine Schwarze Hose mit Nietengürtel, an einer der Gürtelschlaufen hing eine Kette aus schwarzen Perlen und weißen Würfeln, die ihren Abschluss in einem kleinen Totenschädel fanden. Die Schuhe sahen verdächtig nach lila Sneakers aus. Das dunkelrote Netzshirt wollte so gar nicht zu der grellgrünen Ballonmütze passen. Ein weiterer Totenschädel hing als Ohrring am linken Ohr des jungen Dämonen. „Verzeih, wenn ich so offen bin, Mireylle. Aber glaubst du wirklich, Lord Shahaan würde dich jemals wieder in die Freiheit entlassen?“ „Wer bist du?“, wollte Mireylle nun wissen. Die Aura des Jungen war verzerrt, auf seltsame Art. „Nenn mich Traumprinz. Meine Augen und Ohren sind praktisch überall, ich bin sehr neugierig. Also wunder dich nicht. Nun, glaubst du wirklich, Shahaan würde dich gehen lassen? Vorausgesetzt du überlebst seinen heutigen Zorn, heißt das.“ Mireylle dachte nach. Was hatte sie sich hiervon versprochen? Er hatte Recht. „Nein, nicht wirklich“. Ein breites Grinsen zierte das Gesicht von Traumprinz. „Das würde ich an deiner Stelle auch so sehen. Also warum bleibst du bei ihm? Du solltest dir deinen Weg zurück zu deiner Welt selbst suchen. Sag Danke für den Schutz, den dir der Titel der Mylady gibt und geh nach einem Weg zurück suchen.“ „Aber wonach sollte ich suchen? Ich bin hier verloren“. Traumprinz hob skeptisch eine Auenbraue. Dann sah er theatralisch zur Decke und tippte dabei mit dem rechten Zeigefinger an sein Kinn. „Hmmmm…. Mal sehen…. Ich würde sagen… Nach einem Weg in deine Welt! Wie bist du vorher dorthin gelangt?“ „Ich bin ihrem Puls gefolgt“, erwiderte sie schlicht. Traumprinz schlug mit der Faust in die offene Hand. „Na also! Das heißt: Du musst nach einem Ort suchen, an dem du deine Welt spürst.“ „Die Katakomben unter dem Palast!“ „Ha! Lag es wirklich an den Katakomben?“ Das hatte sie vermutet. Die Katakomben, wo die Magie floss. „Der Fluss der Magie! Es ist Elementare Magie, frei und uralt, nicht wahr?“ Ein glückliches Lächeln breitete sich in Traumprinz Gesicht aus. „Da hast du Recht. Aber ich würde dir nicht empfehlen, dorthin zurückzukehren“. „Du willst unbedingt, dass ich Shahaan verlasse. Warum?“ „Oh, ich kenne ihn schon ziemlich lange, weißt du? Außerdem wird sein Wille anderenfalls immer dein Leben dominieren“. „Aber alleine bin ich schutzlos“. „Unsinn. Dass das nicht stimmt, solltest du inzwischen schon gemerkt haben. Du kannst es nicht steuern, aber du bist keinesfalls schutzlos. Ähm…“ Er fummelte an einer Gürtelschlaufe herum und streckte ihr dann die Kette entgegen. „Das kannst du haben. Es ist magisch und verstärkt den Schutz, den du durch deinen Titel hast. Es aktiviert ihn bei Gefahr. Uuuund: Ich werde ab und an nach dir sehen, abgemacht?“ Mireylle wusste kaum, wie ihr geschah, doch mechanisch nahm sie den Gegenstand entgegen. „Wie sollte ich den Magiefluss suchen?“ „Oh, lass dich von deinem Gefühl leiten. Das wird dich nicht täuschen.“ Sie wollte diese Welt verlassen, doch der Hass, den sie noch immer in den Knochen spürte, hielt sie zurück. „Aber wer wird diesen Wahnsinn aufhalten?“ Traumprinz lachte lange. „Denkst du denn, du wärst dazu imstande? Niemand wird den Wahnsinn dieser Welt aufhalten können, denn er ist überall. Er hat sie schon längst vergiftet, durch und durch. Du kannst ja eine Widerstandsbewegung heraufbeschwören, aber würde das nicht ebenso in Blut und Tod enden?“ Mireylle zögerte, ehe sie die nächste Frage stellte: „Was passiert mit dem Leben? Was ist das Nchts?“ „Es ist die Leere zwischen den Welten, die Leere, die sie trennt. Und das Leben wird dorthin gesogen, ganz wie du vermutet hast“, sagte er mit plötzlichem Ernst. „Wer bist du?“ „Traumprinz!“. Er lachte. „Wer bist du, Traumprinz?“ Wieder wurde sein Blick ernst. „Das ist nicht so wichtig. Ich bin noch nicht einmal. Nicht wichtig.“ Er verschwand einfach. Nach einiger Zeit der Verwirrung fällte Mireylle eine Entscheidung. Sie würde suchen gehen. Sie hatte nichts zu verlieren, außer der Ungewissheit. In diesem Moment trat Surell ins Zelt. Er trug die Truhe mit ihren Sachen. „Da hast du dich ja ganz schön was getraut, Mylady. Ich bin immer noch erstaunt, warum Remon dich nicht auf der Stelle zu Staub gemacht hat, ehrlich. Allerdings war das wirklich sehr beeindruckend, wie jemand ohne magische Macht das mächtigste Wesen weit und breit angeschrieen hat.“. Er lachte nur kurz und stellte die Truhe ab, dann wurde sein Gesicht ernst. „Ich hoffe, dass sich das nicht rächt. Dämonen sind sehr stolz, und Remon ganz besonders.“ „Schon gut, Surell, mach dir keine Gedanken. Du hast mit der Sache mit den Astralen genug Probleme, vermute ich mal. Also mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht.“ Einen Augenblick sah der Dämon unentschlossen aus, dann entspannte er sich und nickte. „Wenn du meinst, Mylady“ Sie lächelte aufmunternd. Sie würde diese Dinge auf andere Art lösen. „Ja. Könntest du mich jetzt bitte allein lassen, ja? Sei mir nicht böse.“ Der Heerführer kratzte sich am Hinterkopf und nickte anschließend. Langsam und nicht ohne Zögern verließ er das Zelt. Sofort schlug Mireylle die Truhe auf und zog Jeans und ein Shirt an. In ihren Rucksack packte sie einige Kleinigkeiten, vor allem aber ihre Wasserflasche, die sie zuvor auffüllte, und sämtliche Nahrungsmittel, die die in dem Zelt finden konnte. Sie machte sich aus einem großen Tuch sogar ein Bündel, um mehr tragen zu können. Irgendwo im Lager hörte sie einen Aufschrei. Nach und nach entwickelte sich Lärm, den Mireylle als Kampflärm erkannte. Es fand also ein nächtlicher Übergriff statt. Das kam ihr mehr als gelegen. Bevor sie aus dem Zelt trat, konzentrierte sie sich kurz. Sie musste nur nutzen, was sie hatte. Wenn sie es nicht wollte würde niemand sie bemerken. Voller Vertrauen griff sie nach dem Kettchen, das sie an ihrer Hose befestigt hatte und kletterte dann unter der Rückwärtigen Wand des Zeltes hervor. Glücklicherweise befand sich niemand in der Nähe. Langsam und vorsichtig schlich sie aus dem Lager und dem Wald entgegen. Dieser Teil des Lagers war wie ausgestorben. Auf halbem Weg sah sie ein Pferd. Sie konnte zwar nicht reiten, aber bei einer Flucht war ein Pferd mit Sicherheit hilfreich. Sie ging langsam darauf zu und strich ihm beruhigend über das Fell. Es handelte sich um ein ruhiges und unterwürfiges Tier, das sogar Mireylles seltsamen Aufstieg zuließ. Sie hatte keine Zeit gehabt, nach einem Sattel zu suchen und begnügte sich mit dem bereits vorhandenen Zaumzeug. Nach einem problematischen Beginn schaffte sie es, das Pferd in die gewünschte Richtung zu steuern und sich mit einiger Geschwindigkeit vorwärts zu bewegen. Am Rande des Waldes hielt sie an und drehte sich vorsichtig um, um noch einmal zum Lager zurück zu blicken. Es tat ihr Leid um Surell. Er hatte sich zu einer angenehmen Gesellschaft entwickelt. Aber sie musste nun gehen und einen Weg zurück suchen. Innerlich Abschied nehmend drehte Mireylle sich wieder um und ritt in den Wald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)