Sicarius Vita von Flordelis (Custos Vitae I) ================================================================================ Kapitel 12: Wie es begann ------------------------- In New Kinging angekommen wurde Landis mit großem Brimborium durch die Straßen geführt. Er kam erst gar nicht zu einer Anhörung vor die Königin, sondern wurde direkt in den Kerker gebracht, wo er an Armen und Beinen angekettet wurde. Seine Zelle war genau gegenüber von Auroras, aber dennoch konnte er sie von seiner Position aus nicht sehen und während die anderen bei ihm waren, auch nicht mit ihr reden. Als Frediano den Kerker betreten hatte, hatte Dorugon erneut mit seiner Schimpftirade über den Kommandanten angefangen, aber die Gruppe ignorierte ihn gekonnt. Hochmütig lächelnd stand Frediano gemeinsam mit Kenton, Nolan, Oriana und dem dazugekommenen Richard vor Landis, der ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht trug. Während die ersten beiden genervt von diesem Gesichtsausdruck waren, waren die anderen drei besorgt um Landis' Gesundheitszustand. „Also, was hast du uns zu sagen, Kommandant?“, fragte Frediano spöttisch. „Erzähl uns, wie es zu Sicarius Vita kam, erzähl uns die Geschichte deiner größten Niederlage.“ Oriana sah ihren Mann tadelnd an, aber Landis lachte leise. „Du willst es wirklich wissen? Warum?“ „Ich bin neugierig – und immerhin waren wir doch mal Freunde, oder?“ „Wir waren nie Freunde, wir haben nur das Beste aus unserer Situation gemacht. Aber bitte, wenn du darauf bestehst, dann werde ich dir mehr erzählen.“ „Ich brenne darauf.“ Landis seufzte leise, sah aber erleichtert aus. Lange hatten ihn diese Geheimniskrämerei bedrückt, nun konnte er endlich ehrlich sein und alles gestehen, musste es sogar. Und eigentlich war er dankbar für diese Möglichkeit. „Es fing alles an deiner Hochzeit mit Oriana an...“ Nolan schloss die Tür zum angrenzenden Festsaal und sah mich wütend an. „Mann, Lan! Was zur Hölle sollte das gerade? Du kannst froh sein, dass du überhaupt eingeladen wurdest, musst du deswegen grundsätzlich die Feier kaputtmachen?“ „Froh sein!? Frediano hat mich eingeladen, um seinen Triumph auszukosten! Nicht, weil er so nett ist und mich lieb hat.“ Wutschnaubend ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf diesen Tag hatte Frediano nur gewartet. Kein Wunder, dass er Oriana geraten hatte, nicht zu mir zurückzukehren, nachdem wir uns wegen einer Kleinigkeit zerstritten hatten. Wenn ich so daran zurückdenke, hätte ich ihr ihren Willen lassen und diesen verdammten Ring kaufen sollen. Aber nun war es zu spät und Oriana hatte Frediano geheiratet. Frediano, meinen Konkurrenten und nicht mich. „Lan, du bist ein verdammt schlechter Verlierer, kann das sein? So kenne ich dich gar nicht.“ „Bislang ging es auch nie um Oriana. Und jetzt komm mir nicht damit, dass ich selbst schuld bin, das weiß ich nämlich auch.“ Nolan seufzte. „Das wollte ich auch gar nicht sagen. Ich kann verstehen, dass es dich frustriert, immerhin warst du ewig mit Oriana zusammen und du liebst sie. Aber trotzdem. Vielleicht war es besser, dass ihr euch getrennt habt.“ Geknickt sah ich meinen besten Freund an. Jedenfalls hatte ich bislang geglaubt, dass er mein bester Freund war. „Bist du etwa auf Fredianos Seite?“ „Na ja, nicht direkt...“ Ich stand auf und sah ihn böse an. Nolan schien mit sich selbst zu kämpfen. „Weißt du, Lan, seit Oriana dich verlassen hat, bist du wirklich unausstehlich geworden. Es ist nicht gerade einfach, es mit dir auszuhalten.“ „Fein! Dann will ich dich auch nicht länger mit meiner Anwesenheit bestrafen!“ Ich fuhr herum, stieß meine Hüfte schmerzhaft an einem Tisch und verließ das Restaurant durch den Hinterausgang, der sich in diesem Raum befand. Ich konnte hören, wie Nolan mir noch etwas hinterherrief, blieb aber nicht stehen. In meinem Kopf hatte sich der Gedanke bereits festgesetzt. Wenn ich eine solche Zumutung war, würde ich einfach gehen. Vermutlich war es die Mischung aus Depression und Alkohol, die mich an diesem Gedanken festhalten ließ, aber an diesem Abend erschien er mir äußerst schlüssig und als einzige praktikable Lösung – und dass Nolan mir nicht folgte, verstärkte diesen Eindruck nur noch mehr. Dass er glaubte, dass ich nur nach Hause gehen und meinen Rausch ausschlafen würde, darauf kam ich in diesem Moment nicht. Dabei wollte ich noch nicht nach Hause. Ziellos lief ich durch die Gegend und ließ meine Gedanken wandern. Doch immer wieder kam ich zu dem Schluss, dass ich ein Störfaktor für meine Freunde war – und deswegen inzwischen vermutlich allein war. Ohne Nolan, ohne Kenton – und ohne Oriana, die ich mehr geliebt hatte als alles andere. Je mehr ich durch die dunklen Straßen lief desto schwerer wurden meine Schritte und auch meine Augenlider. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam – aber irgendwann stieg ich auf einen mit Stroh beladenen Wagen und schlief auf diesem ein. Ich weiß noch, dass ich träumte, ich würde mich auf einem Schiff mitten in einem Sturm befinden. Aber ich erwachte erst, als mich jemand anstieß. Mit schmerzendem Kopf und tauben Gliedern, öffnete ich meine Augen und sah die Person verschlafen an. „Hä?“ „Was tust du auf meinem Wagen?“ „Oh, tut mir Leid, ich...“ Ich richtete mich auf und sprang vom Wagen herunter. Alles drehte sich um mich, in meinem Kopf hämmerte es wie verrückt. Der Besitzer des Wagens, ein älterer Mann mit Bart, sah mich böse an. „Also wirklich, ein blinder Passagier! Kein Wunder, dass mein Pferd so schwer ziehen musste!“ Ich sah mich um. Wir standen mitten im freien Feld, eine Stadt war nicht weit entfernt zu sehen, aber es war keine, die ich kannte. Überhaupt kam mir die ganze Gegend nicht bekannt vor. Besorgnis machte sich in mir breit und auch Verwirrung. Wo war ich nur hingeraten? „Tut mir Leid“, sagte ich noch einmal. „Ich muss wohl eingeschlafen sein...“ Der Mann schnaubte. „Typisch! Kaum ist eine Hochzeit in New Kinging, schon sind sie alle betrunken. Die jungen Leute heutzutage...!“ Er ließ den Satz offen, spuckte dafür aber aus. Ich schluckte eine scharfe Erwiderung herunter. „Wo sind wir denn?“ Er zeigte über seine Schulter zu der Stadt hinüber. „Das da drüben ist Jenkan.“ Ich kannte den Namen der Stadt – und auch, dass sie ziemlich weit entfernt von New Kinging lag. Wie sollte ich nur wieder nach Hause kommen? Der Mann, scheinbar erzürnt über mein Verhalten, kümmerte sich nicht mehr um mich, sondern ging einfach davon und zog auch sein Pferd und den Wagen mit sich. Ich sah ihm hinterher. Es hätte ohnehin nichts gebracht, mit ihm weiterzufahren, denn ganz offensichtlich lief er in die entgegengesetzte Richtung von New Kinging. Aber was sollte jetzt aus mir werden? Ob ich in Jenkan Hilfe finden konnte? Ein wenig Geld hatte ich ja dabei, vielleicht könnte ich jemanden finden, der mich dafür zurückbringt. Wenn nicht, müsste ich laufen. Machbar, aber weit und einsam. Als ich mich in der Stadt umsah, stellte ich mehrere Dinge fest: Es stimmte, dass es in Jenkan viele Webereien gab. Und selbst vor normalen Wohnhäusern standen Webstühle. Ich erinnerte mich, dass Königin Juno von Király viele Webstücke aus dieser Stadt hatte. Kein Wunder also, dass hier so fleißig gearbeitet wurde, wenn sogar das Königshaus ein Kunde hier war. Und dann fiel mir der Scheiterhaufen auf dem Marktplatz auf. Er sah nicht aus wie ein Relikt aus alten Zeiten, eher als würde er häufig benutzt werden. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es sich wohl anfühlte, angebunden zu werden, wie der Rauch in den Lungen biss, während die Hitze einen verzehrte. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ließ mich trotz den warmen Temperaturen frieren. Allein die Vorstellung war grausam, wie musste dann erst die wirkliche Erfahrung sein? Noch während ich dastand und den Scheiterhaufen begutachtete, erschienen einige Männer, die Holz transportierten und dieses aufzuschichten begannen. Was ist denn jetzt los? Andere Menschen gesellten sich dazu und beobachteten die Arbeiter genauso wie ich. „Heute gibt es wieder eine Verbrennung?“, fragte eine Frau. Der Mann neben ihr nickte. „Ja. Ein kleines Mädchen, das vom Teufel besessen ist.“ Neugierig sah ich hinüber. „Vom Teufel besessen?“ „Ich habe sie gesehen. Sie hat rosa Haar und rote Augen und redet nicht. Sogar ihr Gesichtsausdruck bleibt immer derselbe. Es ist richtig unheimlich.“ Was für Hinterwäldler, dachte ich. Als ob irgendjemand vom Teufel besessen sein könnte. „Das arme Kind“, seufzte eine andere Frau. Ein vom Teufel besessenes Kind soll verbrannt werden? Das ist... nicht richtig. Mein Gerechtigkeitssinn meldete sich laut und durchdringend. Ich konnte nicht zulassen, dass sie einem unschuldigen Kind etwas antun. Also musste ich ihr helfen. Aber dafür musste ich erst einmal wissen, wo sie überhaupt war. Also fragte ich mich unauffällig bei den anderen durch. Jeder nahm an, dass ich nur wissen wollte, wie das Mädchen aussah, bevor sie zu einer unkenntlichen Masse verbrannt worden war. Schon allein beim Gedanken daran wurde mir schlecht. Ich folgte den Beschreibungen in eine dunkle Seitengasse, die nicht sehr vertrauenserweckend auf mich wirkte. Dass sich hier eine Art Irrenanstalt, wie die Leute es bezeichneten, befand, verwunderte mich gar nicht. Vor dem Gebäude befanden sich bereits mehrere Leute in Uniformen, die allesamt Angestellte der Anstalt zu sein schienen. Ein Mann mit Anzug befand sich zwischen ihnen, neben ihm stand ein kleines Mädchen, das auf die Beschreibung passte. Sie musste ungefähr sechs Jahre alt sein und schien sich nicht an dem zu stören, was um sie herum vorging, während sie fleißig diskutierten, wie man ein Kind am besten auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Ich blieb in der Entfernung stehen und sah das Mädchen interessiert an. Plötzlich hob sie den Kopf und erwiderte meinen Blick. Etwas wie Leben erschien darin, verschwand aber sofort wieder. Ich fragte mich, wo sie herkam und was sie hier tat. Eine solche Haarfarbe und solche Augen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Und ich war mir sicher, dass es so etwas auch nicht so oft gab. Die Diskussion schien beendet, die Angestellten gingen davon und ließen den Mann im Anzug und das Mädchen allein. Ich stand eine Weile da und sah sie immer noch an. Was sollte ich tun, um dem Mädchen zu helfen? Und warum hatte ich überhaupt den Drang, ihr zu helfen? Ich kannte dieses Mädchen doch nicht einmal. Aber dennoch... ich konnte nicht zulassen, dass man sie töten würde, wenn ihr einziges Verbrechen darin bestand, nicht zu reden. Der Mann im Anzug beobachtete das Mädchen mit Argusaugen. Wie sollte ich sie da wegholen? Als ich mich an der Wand abstützen wollte, spürte ich ein seltsames Stechen an meiner Seite. Ich richtete mich wieder auf und sah in meine Tasche. Ich konnte mich nicht erinnern, die Wurfnadeln meiner Mutter eingesteckt zu haben. Vor allem fragte ich mich, weswegen ich das getan hatte. Die fünf Nadellanzetten waren ihr Heiligtum, sie zu stehlen kam einem Verrat gleich. Nur einmal hatte ich sie unerlaubterweise genommen und mich gleich daran gestochen, worauf meine Mutter ausgerastet war. Danach fasste ich sie nie wieder an. Aber möglicherweise kamen sie mir im Moment wie gerufen. Der Mann beachtete mich immer noch nicht. Ich behielt nur eine Nadel in der Hand, die anderen steckte ich wieder ein. Ich zögerte nicht mehr lange. Wer wusste denn schon, wann die anderen wiederkamen. Ich warf die Nadel. Erschrocken schrie der Mann auf und griff sich an den getroffenen Arm. Ich preschte vor, hob das Mädchen hoch und rannte mit ihr davon. Der Mann schrie mir einige Dinge hinterher, die ich nicht mehr verstand, zu sehr konzentrierte ich mich auf meinen Weg und darauf, nicht zu stolpern. Das Mädchen rührte sich nicht, während sie in meinen Armen lag und sagte auch nichts. Ihr Blick blieb monoton wie zuvor. In diesem Moment war ich froh über meine Ausbildung bei der Kavallerie. Dort hatte ich auch Konditionstraining gehabt, das mir bei einer solchen Flucht um einiges weiterhalf. Erst als ich die Stadt weit hinter mir gelassen und in einem Wald angekommen war, blieb ich wieder stehen. Ich ließ das Mädchen herunter und lehnte mich gegen einen Baum, um Luft zu holen. Die Kleine sah mich ausdruckslos und stumm an. Aber ich hatte auch nicht erwartet, dass sie plötzlich einfach zu sprechen anfangen würde, von daher wunderte es mich nicht. Der Verlust der Nadel deprimierte mich. Meine Mutter würde mir bestimmt eine riesige Standpauke halten, wenn ich mit nur vier Nadeln wiederkam. Allerdings hatte ich auch nicht vor, wieder zurückzugehen und die Nadel zu holen. Das sollte sie dann schön selbst machen. Wieder sah ich das Mädchen an. „Wie heißt du denn?“ Wie erwartet antwortete sie nicht, starrte mich nur weiter an. Ihre roten Augen erinnerten mich ein wenig an die aufgehende Sonne. Da sie offensichtlich nicht redete und ich ihren Namen nicht kannte, beschloss ich, ihr einen zu geben. „Ich werde dich Dawn nennen, ist das in Ordnung?“ Sie neigte den Kopf. Ich nahm das als Ja. „Gut, ich bin auf dem Weg nach Hause. Willst du mitkommen?“ Sie deutete ein Nicken an. Ich lächelte. „Also, auf geht’s!“ Ich hatte zwar kein Vehikel gefunden, um mich nach Hause zu bringen, aber immerhin würde ich nicht allein reisen – und bestimmt gab es noch andere Städte auf dem Weg, wo ich nach einer Mitfahrmöglichkeit Ausschau halten konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)