Sicarius Vita von Flordelis (Custos Vitae I) ================================================================================ Kapitel 19: Vita ---------------- Eine breit angelegte Hauptstraße führte geradewegs zum Kai, wo ein Schiff vor Anker lag. Händlerstand reihte sich auf dem Weg an Händlerstand, die meisten verkauften frischen Fisch, andere auch Geflügel (ich war mir ziemlich sicher, dass es Möwen waren, aber die Händler preisten das gerupfte Federvieh als Tauben an) und wieder andere verschiedene Stoffe, die aus Port Milfort und damit dem Ausland zu stammen schienen. Waffen und Rüstungen suchte man vergebens, aber wie ich auf meinem Weg mitbekam, waren derartige Läden nur in den Nebenstraßen zu finden. Allerdings fragte ich mich, wer außer ein paar Verrückten in diesen friedlichen Zeiten eine Waffe brauchen könnte. Es gab keine Monster, wilde Tiere rannten eher vor Menschen davon... aber wenn jemand unbedingt eine kaufen wollte, würde ich ihm dabei nicht im Weg stehen. Ich empfand es nur als eigenartig. Dawn hielt meine Hand fest, während sie neben mir herstolperte und sich mit großen Augen umsah. Selbst Aurora war zum ersten Mal hier, also war es wohl nicht weiter verwunderlich. Ich dagegen konnte sagen, dass ich bereits schon einmal an diesem Ort gewesen war. Als ich zehn Jahre alt gewesen war, war ich mit meiner Mutter in Port Milfort gewesen. Dementsprechend wirkte alles nicht mehr so groß und außergewöhnlich wie zuvor. Damals war ich tatsächlich in dem Glauben gewesen, dass es Tauben waren, die verkauft wurden. Es war bedrückend, wenn man darüber nachdachte, wie sehr sich die Welt selbst entzauberte, je älter man wurde. Erst als wir in dem Gebäude wieder stehenblieben, in dem die Tickets verkauft wurden, fiel mir etwas auf: Wir besaßen keinerlei Geld, wie sollten wir uns die Überfahrt leisten? Auch unser Essen hatten wir uns bislang gejagt oder gestohlen – oder verdient. Ich stellte Dawn die Frage, worauf sie die Stirn runzelte und angestrengt nachzudenken schien. Wenn nicht einmal sie eine Antwort darauf wusste, was sollten wir dann tun? Vielleicht konnten wir ja als Matrosen anheuern? Ein Lachen erklang hinter mir. Ich drehte mich um, nur um eine junge Frau zu entdecken. Ihr grünes, leicht gewelltes Haar fiel ihr über die Schultern, ihre braunen Augen leuchteten warm. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, Dawn wiederum versteckte sich hinter meinen Beinen. „Was haben wir da für einen süßen Jungen?“ Fragend sah ich mich um, aber der Satz galt anscheinend wirklich mir, denn ansonsten war niemand in dieser Ecke zu sehen. Ich lachte verlegen. „Oh, danke... Ich bin Landis.“ Warum ich mich direkt vorstellte, wusste ich auch nicht, aber sie schien es zu freuen, denn sie lachte noch einmal. „Ich bin... Vita. Du willst also auch nach Port Milfort?“ Ich nickte. „Genau. Dummerweise habe ich kein Geld bei mir. Kaufen einem die Händler hier auch etwas ab?“ Zwar trug ich nichts bei mir, was ich wirklich gewinnbringend verkaufen könnte, aber vielleicht würde es ja reichen. „Oh, ich glaube schon“, antwortete sie. „Aber das musst du doch nicht. Ich lade dich und das kleine Mädchen gern ein.“ Misstrauisch runzelte ich meine Stirn. „Weswegen?“ Sie lachte wieder. „Weil ich ein netter Mensch bin.“ Meine Eltern hatten mir beigebracht, fremden Menschen gegenüber immer misstrauisch zu sein – aber etwas an Vita ließ mich dieses Gefühl schnell vergessen, also stimmte ich zu. „Gut.“ Dawn zupfte empört an meiner Kleidung, aber ich ignorierte sie. Vita dagegen lächelte. „Fein, dann wollen wir uns doch mal Tickets besorgen.“ Wenige Minuten später befanden wir uns bereits an Bord des Schiffes. Die dunklen Wolken, die sich am Horizont zusammenbrauten und das unruhige Wasser, welches den Bug schaukeln ließ, ließen mich nichts Gutes ahnen. Aber wir mussten nach Port Milfort, um die Puppenspielerin zu finden, da führte kein Weg daran vorbei. Kaum an Bord war Vita bereits von unzähligen Leuten umgeben, die auf sie einredeten. Offensichtlich fuhr sie öfter auf dieser Strecke, weswegen man sie hier kannte und mochte. Sie stand inmitten der Menschen und antwortete lächelnd, wenn sie dazu kam. Ich kümmerte mich nicht darum und ging lieber mit Dawn unter Deck. Sie wirkte immer noch wütend und wenn sie sprechen könnte, hätte sie mir bestimmt einiges erzählt. Ich war in dem Moment froh darum, dass sie es eben nicht tat. Unter Deck roch es intensiv nach Öl, laute Geräusche erklangen aus dem Maschinenraum. Dawn rümpfte empört ihre Nase, ich ignorierte das. Sobald ein Sturm kam, war es unter Deck sicherer als draußen. Es sei denn, das Schiff würde mit Wasser volllaufen, aber das war wirklich nur der schlimmste anzunehmende Fall. Die Fahrt an sich begann ruhig, wurde aber turbulenter je näher das Unwetter kam. Donner erklang im Zusammenspiel mit dem lauten Wellengang. Dawn und ich saßen aneinandergelehnt auf einer Bank und warteten darauf, dass der Sturm nachließ oder wir in einen Hafen einliefen – je nachdem, was zuerst passieren würde. Doch keins von beiden trat ein. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn plötzlich fand ich mich selbst auf der Hochzeit von Frediano und Oriana wieder. Inmitten der Gäste entdeckte ich eine grünhaarige Frau mit einem sanften, aber kalten Lächeln. War sie wirklich da gewesen? Oder spielte mir mein Unterbewusstsein einen Streich. Gleichzeitig hörte ich Barams Stimme: „Sie hatte eine Haut wie aus Porzellan, grünes Haar und nussbraune Augen. Sie war aber ganz anders als die anderen Nymphen. Wobei, wenn ich es recht bedenke... die erste war keine Nymphe, sie war eine Sylphe.“ Dann war Vita diese Sylphe und sie hatte etwas mit Frediano zu tun? Aber warum war sie nun hier? Was hatte das alles zu bedeuten? Ein besonders lauter Donnerschlag weckte mich aus dem Schlaf. Der Raum, in dem ich eingeschlafen war, war in Dunkelheit gehüllt. Außer Dawn, die immer noch ruhig schlief, war sonst niemand zu sehen. Wo waren nur die anderen Passagiere? Dann gab es noch etwas, was nicht stimmte, aber mir fiel einfach nicht ein, was das sein könnte. Es war wie bei einem Bild, bei dem man davorsaß und krampfhaft nach dem Fehler suchte. Egal wie offensichtlich er war, man fand ihn einfach nicht. Um das Mädchen nicht zu wecken, stand ich vorsichtig auf und verließ den Raum. Die Stille lastete auf meinen Ohren – und da fiel mir endlich ein, was nicht stimmte: Der Motor war verstummt, das Schiff hatte also gehalten. Aber warum? Neugierig begab ich mich an Deck. Überall herrschte Dunkelheit, erneut fragte ich mich, was wohl passiert war, während ich geschlafen hatte. Das alles kam mir vor wie aus einer der unzähligen Horrorgeschichten, die Nolan und ich uns immer erzählt hatten, als wir jünger gewesen waren. Aber das war doch lächerlich, so etwas konnte nicht sein. Doch mein Innerstes sagte mir, dass es noch schlimmer war. Der Boden war glitschig von dem Regen, doch dieser hatte inzwischen zumindest aufgehört. Wenige Schritte entfernt stand Vita, umgeben von einem hellen Licht, das unheimlich aus der Dunkelheit herausstach. Da sie außer Dawn und mir das einzig verbliebene Lebewesen an Bord zu sein schien, verstärkte sich in mir das schlechte Gefühl. Der Drang zu flüchten wuchs in meinem Inneren, aber es gab keinen sicheren Ort auf diesem Schiff. Während ich mich an die Reling klammerte, ging ich langsam auf sie zu. Immer wieder rutschten meine Füße unter mir weg, als ob ich direkt auf Eis stehen würde – und auf diesem war ich nie sonderlich elegant gewesen. Wenige Schritte von Vita entfernt blieb ich stehen. „He... was ist hier los?“ Sie wandte sich mir zu. Erst da fiel mir auf, dass das Lächeln auf ihrem Gesicht nie ihre Augen erreichte, auch wenn es mir vorher so vorgekommen war. Ihre Augen waren kalt und leblos, wie die einer Puppe. Dummerweise erinnerte mich diese Erkenntnis an die Geschichte der lebendig gewordenen Mörderpuppe, die von Nolan ausgedacht worden war. Was für ein schlechter Zeitpunkt... „Du bist wieder wach, Landis, das ist schön.“ „Was ist hier passiert, Vita?“ Sie lachte, wobei sich ihr Gesichtsausdruck kein Stück veränderte. „Ich habe sie alle verschwinden lassen. Immerhin wollte ich mit dir allein sein.“ Ich wich zurück, was aber nur dazu führte, dass ich schmerzhaft auf meinen Hintern fiel. Sie kniete sich vor mich und hob mein Kinn an. Die Berührung ihrer Hand war eiskalt, ich schauderte. „Na na na, mein Kleiner. Willst du etwa wegrennen? Das ist aber nicht nett. Lass uns reden.“ „W-worüber?“ Am liebsten wäre ich aufgesprungen und weggelaufen, doch meine Beine versagten mir den Dienst. „Ah~ Du weißt, wer ich bin, oder?“ „Na ja, nicht direkt“, wehrte ich ab. Sie tätschelte meinen Kopf. „Du musst mir doch nichts vormachen, ich weiß genau, was du geträumt hast, immerhin war ich es, die dir diesen Traum schickte.“ Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. War sie also wirklich eine Sylphe? Aber was wollte sie dann von mir? Und was hatte sie mit Frediano zu tun? „Da sind so viele Fragen in dir...“ Ihre Finger strichen über meine Wange, ein taubes Gefühl überkam diese Stelle. Was tat sie da mit mir? „Und ich werde sie dir alle beantworten. Ich bin eine Sylphe, das stimmt. Nebenbei habe ich einen kleinen Vertrag mit Frediano und um ihm zu helfen, werde ich dich leider töten müssen. Wie schade, denn ich mochte deine Mutter, mein Kleiner~“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Warum musst du mich töten?“ Sie hob die Schultern. „Weiß ich nicht. Ich mische mich nicht in die Ziele meiner Klienten ein und bekomme dafür das, was ich von ihnen will. Egal wie schwer das Opfer ist.“ „Opfer?“ „Da hast du mich richtig verstanden. Ich arbeite nicht umsonst und nicht für Geld. Meine Unterstützung sichert man sich auf ganz andere Art und Weise. Aber nun genug geredet.“ Sie zog mein Gesicht zu sich, ihre Lippen näherten sich meinen. Wieder versuchte ich, mich zu wehren, aber sogar meine Arme enttäuschten mich in diesem Moment. Was immer sie vorhatte, mir gefiel das nicht, aber mein gesamter Körper reagierte nicht. Ein lautes Krachen, das nicht von einem Donner zu stammen schien, ließ Vita innehalten. Genervt blickte sie zur Seite. „Nicht du auch noch!“ „Lass ihn los!“ Ich erkannte Auroras Stimme sofort. Seufzend richtete Vita sich wieder auf. „Du nervst, meine Liebe. Zu schade, dass ich dich damals nicht erledigen konnte, als ich die Gelegenheit dazu hatte, ich-“ Bevor sie den Satz beenden konnte, wurde sie von einem Feuerball umgeworfen. Das Leben kehrte in meinen Körper zurück. Hastig richtete ich mich auf und wich wieder zurück. Aurora griff nach meiner Hand. „Komm schon, wir müssen hier weg!“ „Aber wohin denn?“, fragte ich, während ich ihr hinterherstolperte. Immerhin befanden wir uns auf einem Schiff, wo sollten wir also hin? Aurora schien das auch nicht zu wissen, denn sie führte mich nicht unter Deck, sondern nur zum Heck, wo sie wieder stehenblieb. „Und nun?“, fragte ich. Mit angespanntem Gesichtsausdruck sah sie sich um. Wonach immer sie Ausschau hielt, sie schien es nicht zu finden, denn ihr Ausdruck änderte sich kein bisschen. Ich dagegen hörte Schritte hinter uns, was mich nicht gerade aufmunterte. „Aurora, beeil dich.“ Kurzentschlossen packte sie mich fester. „Egal, was passiert, lass ja nicht los.“ „Was? Was hast du vor!?“ Statt zu antworten kletterte sie auf die Reling und zog mich mit sich. „Aurora, nein, bitte nicht! Das ist doch wahnsinnig!“ „Tja, hier stirbst du garantiert, im Wasser nur vielleicht!“ Sie hatte ja recht, aber mir gefiel das trotzdem nicht. Doch bevor ich noch einmal Widerspruch einlegen konnte, sprang Aurora bereits hinunter, ich ihr hinterher. Nur Bruchteile von Sekunden später, traf ich auf der Wasseroberfläche auf und verlor mein Bewusstsein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)