Sicarius Vita von Flordelis (Custos Vitae I) ================================================================================ Kapitel 22: Begegnung mit den Beinahe-Schwiegereltern ----------------------------------------------------- „Clarkmill ist bekannt für die alte Mühle und das Haus daneben, das dem Müller Clark gehörte“, erklärte Yarah, während wir in einem Restaurant saßen und auf unser Essen warteten. „Ursprünglich gab es nur diese beiden Gebäude, aber Clark begann mit seinem Mehl zu handeln, bald schon war es im ganzen Land heißbegehrt, so dass er mit der Arbeit nicht mehr nachkam. Er stellte Gehilfen ein, die sich Häuser bauten, Familien gründeten... und bevor man sich versah, wurde eine ganze Stadt daraus.“ Sie lächelte mir zu. „Heute ist die alte Mühle eine Touristenattraktion – und immer noch voll betriebsfähig. Echte Handwerkskunst sag ich dir.“ Ich erinnerte mich, dass mir so etwas schon einmal erzählt worden war. Allerdings war ich zu müde, um mir Gedanken darüber zu machen, wer das gewesen war. Vitas Strategie, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, war bislang nicht aufgegangen. Dafür nahmen aber meine Albträume und meine Angstgefühle zu. Ich wollte schreien und wegrennen, aber ich wusste, dass das nichts bringen würde, egal wie weit ich laufen würde. Yarah schob mir ein Glas zu. „Hier, trink das, das wird dich aufmuntern.“ „Nein, ich will nicht.“ Dawn, die ihr eigenes Glas Wasser mit beiden Händen hielt, während sie daran nippte, sah ebenfalls zu mir. Mir war klar, dass die beiden sich nur Sorgen um mich machten, aber ich konnte diese Gefühle und Sorgen auch nicht einfach abstellen. Müde ließ ich meinen Blick über die anderen Gäste schweifen. Die Eingangstür öffnete sich, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich konnte regelrecht spüren, wie ich blass wurde. In einer Panikreaktion rutschte ich unter den Tisch. Yarah und Dawn warfen mir fragende Blicke zu, die ich sehen konnte, als ich vorsichtig hinauslugte, um herauszufinden, wohin die beiden Neuankömmlinge gingen. Es waren ein Mann und eine Frau im mittleren Alter, zuletzt gesehen hatte ich sie vor zwei Jahren – und eigentlich war ich mir sicher gewesen, dass ich sie nie wieder sehen würde. Sie gerade hier in einem Touristenort zu treffen, wo ich eigentlich eine Pause machen wollte, kam mir wie Ironie des Schicksals vor. Aber wenigstens war ich nicht von ihnen entdeckt worden. Der Kellner blieb neben dem Tisch stehen und kniete sich neben mich. „Verzeihung? Soll ich Ihr Essen auf dem Boden servieren?“ Verlegen lächelnd schüttelte ich mit dem Kopf. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl, hielt allerdings den Kopf unten, um nicht entdeckt zu werden. Dawn stocherte in ihrem Essen herum. Da sie nicht sprechen konnte, war ihre Bestellung von Yarah aufgegeben worden und das offensichtlich zur Unzufriedenheit des Mädchens. Die Puppenspielerin kümmerte sich allerdings nicht darum, sondern sah mich neugierig an. „Sag schon, was ist los?“ „Ich erzähls euch später“, flüsterte ich. „Das ist nicht der richtige Ort dafür.“ „Oho~ Hast du eine Ex-Freundin entdeckt, Landis?“, fragte sie belustigt. Ich warf ihr nur einen wütenden Blick zu und begann zu essen, um so schnell wie möglich aus dem Restaurant rauszukommen. Nicht lange danach waren wir schließlich mit dem Essen fertig (wohl hauptsächlich, weil ich die beiden so sehr antrieb). Yarah zahlte und trat gemeinsam mit Dawn den Weg zum Ausgang an. Ich dagegen begab mich wieder auf alle Viere, während ich ihnen folgte, um nicht entdeckt zu werden. Dass gerade dieses Verhalten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, entging mir dabei allerdings. Nur noch wenige Schritte vom Ausgang entfernt, wuchs meine Sicherheit. Vorsichtig richtete ich mich auf, lief aber immer noch gebückt weiter – als ich plötzlich eine Stimme hörte: „Willst du etwa gehen, ohne uns zu grüßen, Landis?“ Ertappt hielt ich inne und wandte den Kopf. Die beiden Personen von vorhin sahen mich von ihren Plätzen aus leicht lächelnd an. Ich erwiderte das Lächeln nur zögernd. Yarah und Dawn traten neben mich. „Und? Willst du uns jetzt vorstellen, Landis?“ „Onkel Josh, Tante Bell, das sind Yarah und Dawn. Yarah, Dawn, das sind Joshua und Bellinda Helton.“ Der strenge Blick des Mannes mit dem graumelierten Haar wurde weich. Die schwarzhaarige Frau dagegen schien misstrauisch zu bleiben, während sie meine Begleiterinnen beobachtete. Yarah legte den Kopf schräg. „Helton? Du meinst wie Oriana Helton?“ Ich nickte bedrückt. „Das sind ihre Eltern.“ „Nein wie nett“, bemerkte die Puppenspielerin lächelnd. „Endlich lernen wir also die Eltern der berühmten Oriana kennen.“ „Yarah!“ „Setzt euch doch zu uns“, bat Joshua. Allerdings klang es mehr wie ein Befehl. Etwas, was ich schon lange von ihm gewohnt war. Wir setzten uns zu dem Ehepaar an den Tisch und noch bevor jemand etwas sagen konnte, stellte Yarah eine Frage: „Woher kommt der Nachname? In Király haben doch nur hochrangige Personen einen solchen.“ Joshua nickte. „Korrekt, junge Dame. Bis vor kurzem war ich Kommandant der Cherrygrove-Wachen.“ „Warum seid Ihr es nicht mehr?“, fragte sie neugierig weiter. Ich gab ihr unter dem Tisch einen Tritt, aber das schien sie gar nicht zu beeindrucken, denn sie sah Joshua weiterhin neugierig an. Allerdings war es diesmal Bellinda, die antwortete: „Der plötzliche Tod einer Freundin erinnerte uns an die kurze Dauer des Lebens. Mein Mann ging in Pension und nun reisen wir durch Király.“ „Wer ist gestorben?“, fragte ich besorgt. Die beiden sahen mich nachdenklich an als ob sie erst überlegen mussten, ob sie es mir erzählen sollten. Eine aufkeimende Panik verschaffte mir einen Kloß im Hals. Schließlich seufzte Bellinda. „Deine Mutter, mein Lieber.“ Richard seufzte leise. „Du hast es schon damals erfahren und so getan als ob du nichts wüsstest?“ Landis nickte mit gesenktem Kopf, ohne zu antworten. Oriana seufzte. „Armer Lan...“ „Wundert es dich nicht, dass er deine Eltern getroffen hat und sie dir nichts davon erzählt haben?“, fragte Frediano, als er zu ihr hinübersah. Sie erwiderte seinen Blick kühl. „Wer sagt denn, dass sie das nicht haben?“ Sämtliche Blicke richteten sich auf sie. Selbst Landis sah überrascht auf. „Sie haben dir von unserem Treffen erzählt?“ Oriana nickte. „Sie haben mir einen Brief geschrieben, in dem sie mir von dir erzählt haben. Allerdings meinten sie, dass...“ „Dass?“ Sie schluckte ein wenig, als sie weitersprach: „Na ja, sie meinten, du würdest nicht mehr lange leben...“ „Wie kamen sie darauf?“, fragte Nolan. Landis lachte. „Oh, ich weiß schon. Dazu komme ich jetzt.“ „Du bist ziemlich schnell während der Hochzeit verschwunden, mein Lieber“, bemerkte Bellinda nach dem Essen, während sie auf ihren Nachtisch wartete. „Allerdings dachten wir alle, du wärst nur in dein Bett gefallen.“ „Manchmal wünschte ich, so wäre es auch gewesen“, seufzte ich. „Na ja... oder vielleicht auch nicht. Wie sieht es in New Kinging aus?“ Unsere bisherigen Themen hatten bislang eher aus alten Erinnerungen bestanden. Aus Furcht vor der Antwort war ich die Gegenwart umgangen, aber früher oder später musste ich das fragen. Joshua nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Frediano ist inzwischen Kommandant der Kavallerie und Oriana hat uns vor kurzem zu Großeltern gemacht.“ Die Worte ließen mich erstarren. Sie hatten also ein Kind bekommen. Damit war der Kampf wohl endgültig verloren. „S-sind sie auch glücklich zusammen?“ Diesmal überließ Joshua es seiner Frau zu antworten. Sie schüttelte mit dem Kopf, zögerte aber sofort. „Ähm... vielleicht schon. Seit ihrer Heirat hat sich Ria ziemlich verändert. Es fällt sogar mir schwer, zu erraten wie es ihr geht. Aber dass sie ihre Tochter liebt, das ist offensichtlich.“ „Eine Tochter...“ „Frediano dagegen scheint ganz und gar nicht glücklich über sie zu sein“, bemerkte Joshua. „Aber möglicherweise ist er auch nur sehr von seiner Arbeit eingenommen.“ Nachdenklich runzelte ich meine Stirn. Was könnte Frediano nur gegen eine Tochter haben? Ob er sich einen Sohn als Erstgeborenen gewünscht hatte? Bellinda tätschelte meinen Kopf, eine Angewohnheit von ihr, die noch aus meiner Kindheit stammte. „Sei nicht traurig, mein Lieber. Du findest bestimmt auch noch eine Frau.“ Genau das, was ich nicht wollte. Zumindest nicht im Moment. „Ja, sicher...“ Dawn warf mir einen besorgten Blick zu. Bellinda sah das Mädchen an. „Du hast uns noch gar nicht erzählt, wo du auf deine beiden Begleiterinnen trafst.“ Yarah nahm mir die Antwort ab: „Dawn und ich begegneten Landis in Port Milfort, wo wir eine Vorführung unseres Marionetten-Theaters hatten. Ich bin eine alte Bekannte von Asterea, weswegen ich beschloss, ihn auf seiner Reise zu begleiten.“ Meine Mutter war gegenüber den beiden immer sehr schweigsam gewesen, was ihre Vergangenheit anging, so dass keiner der beiden sich darüber wunderte, dass sie noch nie zuvor von Yarah gehört hatten. „Welches Ziel soll diese Reise haben?“, fragte Joshua weiter. Bislang war das nichts gewesen, worüber ich mir Gedanke machte, also antwortete ich das erste, was mir darauf einfiel: „Kein Festes. Ich will nur Király sehen, bevor ich sterbe.“ Sogar Joshuas Blick wandelte sich nun in Besorgnis. Yarah und Dawn sahen mich ebenfalls irritiert an. Ich lachte verlegen. „Na ja... ich mein ja nur.“ „Bist du etwa krank, mein Lieber?“, fragte Bellinda fürsorglich. Da ich schon damit angefangen hatte, beschloss ich, die Schiene weiterzufahren. Ich nickte. Bedrückt tätschelte sie meinen Kopf. „Mein armer Landis. Wie lange weißt du das schon?“ Ich brauchte nicht lange nachzudenken, um zu einer logischen Antwort zu kommen: „Seit drei Jahren.“ Bellinda warf ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu. Er seufzte. „Ist dies der Grund, weswegen du unsere Tochter verlassen hast?“ Ich verzichtete auf die Korrektur, dass die Trennung im gegenseitigen Einverständnis erfolgt war und nickte noch einmal, während ich einen leidenden Gesichtsausdruck aufsetzte. Mütterlich nahm Bellinda mich in den Arm, da ich direkt neben ihr saß. „Warum hast du denn nichts gesagt, Landis? Wenn wir das gewusst hätten...“ Sie verstummte, ich wollte gar nicht wissen, wie der Satz enden sollte und schwieg deshalb. Ob ich ein schlechtes Gewissen wegen dieser Lüge hatte? Ganz und gar nicht. Ich war immer noch der Überzeugung, dass all diese Ereignisse Teil des Schicksals waren und ganz am Ende mein eigener Tod stand. Auch wenn es keine Krankheit war, so war es doch bereits bestimmt. Also war es keine sonderliche große Lüge. „Ich finde es ehrenhaft, dass Ihr ihn begleitet, Lady Yarah“, sprach Joshua. Sie winkte ab. „Oh, ich bitte Euch, das ist doch selbstverständlich für mich. Astereas Kinder sind meine besten Freunde.“ „Immerhin müssen wir uns keine Sorgen darum machen, dass er einmal allein sein wird.“ Bellinda lächelte Joshua zu, als sie mich wieder losließ. Yarah räusperte sich. „Es war uns ein Vergnügen, Euch zu treffen, aber leider müssen wir nun weiter. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“ „Schon?“, fragten beide enttäuscht. Ich ging darauf ein und nickte. „Ja, wir haben es eilig.“ „Sei vorsichtig, mein Lieber“, bat Bellinda inständig. „Und geh doch wieder mal bei Ria vorbei, wenn du noch Zeit hast.“ „Natürlich.“ Früher oder später würde mich mein Weg zu Frediano führen und dann würde ich auch sie treffen. Hoffentlich würde ich bis dahin dafür bereit sein. Zigarettenqualm erfüllte den Schankraum der kleinen Kneipe in einer Seitenstraße von New Kinging. Neben all den zwielichtigen Gestalten, zerbrochene Existenzen eines Lebens, stachen der ehemalige Kommandant der Cherrygrove-Wachen und seine Frau unangenehm heraus. Eine blonde Frau lief zielsicher an den Tischen vorbei und ignorierte das Pfeifen, das ihr folgte. Ihre Zöpfe schaukelten bei jedem ihrer Schritte hin und her. Lächelnd setzte Yarah sich schließlich an den Tisch. „Schön, dass ihr so schnell kommen konntet.“ „Es war sehr kurzfristig“, stimmte Bellinda zu. „Wir waren über Eure Nachricht überrascht, Lady Yarah“, gab Joshua zu. „Was können wir für Euch tun?“ Die Blicke des Ehepaars zeigten unverhohlene Neugier, was die Puppenspielerin mit einem zuversichtlichen Gefühl erfüllte. Mit der Unterstützung der beiden würde sicher alles gut werden. „Sir Joshua, wie Ihr vielleicht gehört habt, wurde Landis als Anführer von Sicarius Vita verhaftet, im Moment wird er gerade verhört.“ Bellinda keuchte erschrocken. „Landis?“ Yarah nickte zustimmend. „Richtig. Ich werde euch die Geschichte von Sicarius Vita und die Wahrheit über Landis erzählen – ich tue das, weil Ihr ein gutes Wort für Landis bei der Königin einlegen müsst. Ich bin sicher, dass er noch mehr Fürsprecher haben wird, aber ein paar verlässliche Sprecher mehr schaden nicht.“ Wie so oft warfen sich Joshua und Bellinda einen Blick zu, dann sahen sie wieder Yarah an. „Fein, erzählt uns, was es zu erzählen gibt. Wenn wir von Landis' Unschuld überzeugt sind, werden wir ein Wort bei der Königin für ihn einlegen.“ Yarah atmete erleichtert auf. Die Furcht, dass beide bei dem Namen Sicarius Vita ihre Unterstützung hätten verweigern können, fiel endlich von ihr ab. Lächelnd begann sie den beiden die gekürzte Fassung der Geschichte zu erzählen, ohne dass sonst jemand im Raum davon Notiz nahm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)