Sicarius Vita von Flordelis (Custos Vitae I) ================================================================================ Kapitel 30: Wieder zu Hause --------------------------- Ich atmete tief ein. Der typische Geruch der Kirschblüten drang in meine Lungen, es fühlte sich gut an, genau wie sich ein Zuhause anfühlen musste. So lange war ich in dem Glauben gewesen, diesen Ort nie wieder zu betreten. Schwer zu beschreiben, was ich in diesem Moment empfand, als ich am Stadttor stand und mich umsah. Kurehas Blick ging zu den Kirschbäumen, die im Moment in voller Blüte standen. Die Faszination war direkt in ihr Gesicht geschrieben. Etwas, was ich nur zu gut verstehen konnte, immerhin war das in Király kein weit verbreiteter Anblick. Die ersten Jahre waren auch wir Kinder davon begeistert gewesen. Mit der Zeit gewöhnte man sich allerdings daran. Dennoch ging mein Herz bei diesem Anblick wieder auf. Viel zu lange hatte ich darauf verzichten müssen. Allerdings erinnerte es mich auch an meine Kindheit mit Oriana und den Schwur, den wir unter einem dieser Bäume geschlossen hatten. Der Schwur, der durch mein Verhalten gebrochen war. Aber die guten Erinnerungen verdrängten das Schlechte sofort. Auch die beiden Geschwister wirkten fasziniert, wenngleich weniger als Kureha. Besonders Nadia versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und trug ihre übliche Kälte zur Schau. Lediglich das Glitzern ihrer Augen sagte, was sie empfand. Allerdings musste ich sagen, dass sie sich in den letzten drei Jahren verändert hatte und deutlich freundlicher geworden war. Mein Blick ging umher, ohne dass ich nach etwas Bestimmten suchte. Es war einfach so wundervoll, wieder hier zu sein. Meine Füße führten mich automatisch die Straße entlang, bis ich vor meinem alten Haus stehenblieb. Allerdings schien mein Vater nicht mehr dort zu leben, jedenfalls kam mir die Familie nicht sonderlich bekannt vor. Zum ersten Mal seit ich diese Stadt betreten hatte, spürte ich wieder so etwas wie Traurigkeit. Es war also nicht alles so wie früher, aber eigentlich war mir das vorher klar gewesen - oder hätte es zumindest sein sollen. Es dauerte nicht lange, bis ich eine bekannte Stimme hörte, die meinen Namen rief. Als ich herumfuhr, erkannte ich jemanden, den ich schon fast vergessen hatte. „Onkel Faren!“ Die violetten Haare und das markante Grinsen waren unverkennbar. Der in die Jahre gekommene Mann kam lächelnd auf mich zu. „Du bist es also wirklich, Landis.“ Ich nickte heftig. „Ja, ich bin wieder zurück.“ „Das ist ja wunderbar! Aber leider wohnt dein Vater nicht mehr hier.“ Faren machte eine ausholende Handbewegung, wie immer, wenn er sich selbst dabei ertappte, etwas Dummes gesagt oder etwas Offensichtliches ausgesprochen zu haben. „Das habe ich inzwischen auch gemerkt...“ Yarah und der Rest der Gruppe kamen inzwischen bei mir an. Die Puppenspielerin schmunzelte. „Landis, wer ist das?“ Ich trat einen Schritt zur Seite, so dass die Gruppe ihm gegenüber stehen konnte. „Onkel Faren, das sind Freunde von mir.“ Ich stellte sie alle der Reihe nach vor, bevor ich fortfuhr: „Leute, das ist Sir Faren, ein Kavallerist aus Cherrygrove. Er war mitunter für unsere Ausbildung verantwortlich.“ „Warum nennst du ihn Onkel?“, fragte Aidan neugierig. Faren nahm mir die Antwort ab: „Das ist leicht zu erklären. Ich bin nebenbei ein Freund seines Vaters.“ „Und der Vater von Kenton und Ren“, fügte ich hinzu. Auch wenn die Verwandtschaft mit Kenton nicht sonderlich offensichtlich war. Er kam offensichtlich nach seiner Mutter, seine Schwester dagegen hatte mehr Charakterzüge von ihrem Vater geerbt – jedenfalls erinnerte ich mich so an sie. Yarah sah mich überrascht an. „Kenton sagt mir ja was, aber wer ist Ren?“ „Kentons kleine Schwester“, antwortete ich. „Also, ihr eigentlicher Name ist Renea.“ Faren schmunzelte. „Hast du sie noch nicht vergessen, hm?“ „Wie könnte ich? Sie war wie eine Cousine.“ Es war wohl das erste Mal, dass jemand einen solchen Vergleich anbrachte, was die amüsierten Gesichter der anderen erklärte. Normalerweise hörte ich auch nur von „wie Geschwister“, aber so nah war Renea mir nie gestanden, also hatte ich etwas anderes verwenden wollen. „Da fällt mir ein,“, durchbrach Faren das eingetretene Schweigen wieder, „dass Renea erst vor wenigen Tagen Mutter geworden ist. Möchtest du das Kind vielleicht sehen? Kenton hatte leider noch keine Zeit.“ „Klar doch!“ Wenn das Kind nur halb so süß wie Renea früher war, würde sich der Ausflug lohnen. Ich wandte mich den anderen zu. „Was ist mit euch?“ Sie schüttelten einstimmig die Köpfe. „Wir werden ins Gasthaus gehen. Bei so einer Familienvereinigung stören wir doch nur.“ Yarah kicherte leise, bevor sie mit den anderen davonging. Dabei hätte ich persönlich nichts gegen Begleitung gehabt, aber Renea vielleicht, also war es so doch besser. „Eine seltsame Gruppe, die du da hast“, bemerkte Faren. Ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Das stimmt schon irgendwie.“ Doch er kümmerte sich nicht weiter darum, wofür ich ihm sehr dankbar war und führte mich zu einem anderen Haus. Ich erkannte es sofort als das von Onkel Joshs rechter Hand wieder – der jetzt anscheinend der neue Kommandant war. Wie hieß er nochmal? Ah ja, genau, sein Name war Troy. So wie er mir in Erinnerung geblieben war, war er sicherlich ein strenger Kommandant. Es wunderte mich allerdings, dass er gerade Renea geheiratet haben soll – sie war immerhin um einiges jünger als er. Ohne zu klopfen führte Faren mich in das Haus hinein und schon bald standen wir im Wohnzimmer. Auf einem Schaukelstuhl konnte ich eine wunderschöne junge Frau mit schwarzem Haar sehen. Ein helles Licht schien um sie herum zu strahlen. Junge Mütter hatten einfach etwas an sich, das mich faszinierte. Sie hob den Blick von dem Bündel auf ihrem Arm und lächelte mir zu. „Besuch?“ Renea hatte sich kaum verändert, auch wenn sie nun deutlich größer und auch ihr Gesicht um einiges schmaler, ihr ganzer Körperbau graziler geworden war. Ihre braunen Augen wirkten nicht mehr so verspielt wie früher, dafür leuchteten sie nun warm von innen heraus. Faren nickte schmunzelnd. „Ren, erinnerst du dich noch an Landis?“ Plötzlich begannen ihre Augen wieder mit dem alten Schalk zu glänzen. „Landis, du bist das?“ Ich nickte lachend. „Ja, ich bin das.“ Vorsichtig trat ich einen Schritt näher, um das Baby zu betrachten. Es schlief gerade, das rote Gesicht wirkte noch ein wenig zerknautscht, die Geburt konnte wirklich noch nicht lange her sein. „Wie süß“, bemerkte ich leise. „Ihr Name ist Rina.“ Ich kramte in meinem Gedächtnis, fand aber die entsprechende Bedeutung des Wortes nicht, so dass Faren mir nachhalf: „Das bedeutet so viel wie Liebe – jedenfalls in der Sprache der Orakel.“ Die Orakel hatte ich schon fast wieder verdrängt. Aber sie waren auch uninteressant für mich, immerhin wurden sie nur auf den anderen Kontinenten verehrt. In Király interessierte man sich weder für ihr Wohlergehen noch für ihre Vorhersagen. Abgesehen von Renea, die von klein auf davon fasziniert gewesen war. Ich erinnerte mich noch gut an ihre Enttäuschung, als sie erfahren hatte, dass sie kein Orakel werden könnte. „Ein hübscher Name.“ Renea strahlte über das ganze Gesicht. Ja, so sah sie schon eher aus wie das junge Mädchen, an das ich mich erinnerte. „Wie lange bist du schon wieder hier?“, fragte sie mich plötzlich. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin erst seit ein paar Minuten wieder in der Stadt.“ „Du warst ziemlich lange weg“, bemerkte sie gedankenverloren. Es waren sieben Jahre gewesen, eine wirklich lange Zeit, in der so viele Veränderungen eingetreten waren. Und dennoch fühlte es sich immer noch wie mein Zuhause an. „Und du hast inzwischen also geheiratet und eine eigene Familie bekommen, hm?“ Statt einer Antwort sah sie nur wieder lächelnd auf ihre Tochter hinab. Renea war eindeutig glücklich. Beneidenswert. Auf einmal hatte ich das Gefühl, in diesem Raum ersticken zu müssen. Ich verabschiedete mich hastig und verließ das Haus wieder. Faren folgte mir direkt. Erst vor der Tür blieb ich wieder stehen, ich atmete tief ein. „Weißt du das von Oriana schon?“ Ich drehte mich nicht um, als ich nickte. „Sehr zu freuen scheint es dich aber nicht.“ Diesmal fuhr ich doch herum. „Dich würde es sicherlich auch nicht freuen, wenn dir so etwas passieren würde.“ Für eine Weile blickte er mich schweigend an. Ich stellte mich auf eine „Solange-deine-Frau-glücklich-ist-solltest-du-auch-glücklich-sein“-Rede ein, aber was ich stattdessen bekam, verwunderte mich. Er begann zu lachen und klopfte mir auf die Schulter. „Du hast recht. Mich würde es nicht freuen, wenn die Frau, die ich liebe, plötzlich nen anderen heiratet und eine Familie gründet – selbst wenn sie damit glücklich ist.“ Ich atmete erleichtert aus. In den letzten Jahren war ich mir mehr als nur egoistisch vorgekommen, aber dass es noch andere Leute gab, die so dachten wie ich, beruhigte mich. „Danke, Onkel Faren.“ Lächelnd winkte er ab. Er begleitete mich zum Gasthaus. Auf den Weg dorthin stellte ich einige Fragen über die vergangenen Jahre, die er mir lächelnd beantwortete. Wie ich mir gedacht hatte, war Troy nach Onkel Joshs Rücktritt Kommandant geworden und mein Vater nach New Kinging gezogen. Dass man den Tod meiner Mutter für Selbstmord hielt, überraschte mich nicht. Ich war gespannt, welche Geschichte man mir in der Hauptstadt erzählen würde. Natürlich erzählte ich nicht, dass ich davon bereits wusste, sondern zeigte mich betroffen. Vielleicht sollte ich Schauspieler werden, wenn das mit Vita vorbei war und ich wider Erwarten überleben würde. Vor dem Gasthaus verabschiedete ich mich von Faren und ging hinein. Nach einer langen Wiedersehensrede der Besitzerin (gespickt mit allerlei Anekdoten über Streiche, die ich und Nolan ihr früher gespielt hatten), ging ich schließlich in das Zimmer, das Yarah gemeinsam mit den beiden Mädchen bewohnte. Aidan und Nadia hatten dieses Mal ein eigenes Zimmer, genau wie ich. Die Puppenspielerin sah mich lächelnd an. „Na, alles erledigt?“ Ich nickte. „Habe ich hier etwas verpasst?“ „Uh-uh. Aber möglicherweise kennst du das letzte Opfer.“ Bei dem Gedanken, wer es alles sein könnte, zog sich mein Magen zusammen. Ich mochte so gut wie jeden in dieser kleinen Stadt, allein der Gedanke, dass einer von ihnen Vitas nächstes Opfer sein könnte... „Es ist der Bürgermeister“, sagte Yarah, gespannt auf meine Reaktion. Ein erleichtertes Aufatmen konnte ich mir nicht verkneifen. Die einzige Person, die ich auf jeden Fall nicht mochte. Dank Faren wusste ich immerhin, dass der Bürgermeister derselbe wie schon immer war – und den hatten wir Kinder noch nie leiden können, er uns aber genauso wenig. „Dann willst du ihn auch sterben lassen?“, fragte Kureha monoton. Mein Blick ging zu ihr hinüber. In den letzten drei Jahren war meine Furcht ihr gegenüber geschwunden. Sie besaß einen exzentrischen Zug – aber sie war ein liebenswertes Mädchen. Hinter der unheimlichen Fassade war sie auch nur ein normales Kind, wie viele andere auch. Allerdings war sie beizeiten gefühlskalt, so wie im Moment. Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Um den wäre es kein großer Verlust. Dass der überhaupt noch Bürgermeister ist...“ Na ja, das lag wohl an der „Immerhin wissen wir bei dem schon, woran wir sind“-Mentalität der Leute. Man ging wohl ungern Risiken ein, wenn es um die eigene Stadt ging. Yarah schmunzelte. „Fein, aber denk daran, dass du danach dran bist.“ „Ich weiß, ich weiß. Aber inzwischen bin ich zuversichtlich, dass ich es schaffen kann.“ Mit der Zeit war meine Zuversicht gewachsen. Ich würde Vita töten – aber dennoch war da immer noch dieses Gefühl, dass ich ebenfalls nicht überleben würde. Ich verdrängte das Gefühl. „Wir sollten langsam die anderen zu uns rufen. Bis heute Nacht müssen wir noch eine Menge besprechen, oder?“ „Woher weißt du, dass sie heute zuschlagen wird?“, fragte Yarah neugierig. Ich lächelte. „Das ist nur so ein Gefühl.“ Oriana schmunzelte. „Ja, du bist wirklich ein guter Schauspieler. Du hast uns die ganze Zeit vorgespielt, von nichts eine Ahnung zu haben. Dabei wusstest du alles.“ Seufzend lehnte Landis sich gegen die kalte Steinwand hinter sich. „Es tut mir Leid, aber es war notwendig.“ „Warum?“, fragte nun auch Richard. „Du hättest uns sagen können, dass die anderen dir schon so viel erzählt haben, statt uns auszufragen.“ „Ich denke, jeder von uns hatte seine Geheimnisse und seine Eigenarten, nicht?“ Nolan kratzte sich verlegen am Kopf. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Landis im Recht war. Doch plötzlich begann er zu lächeln und wandte sich an Kenton. „He, Lan ist doch unschuldig! Können wir ihn dann nicht endlich freilassen?“ Der Angesprochene sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Nun, sobald er den Bericht beendet hat, werde ich das der Königin vortragen. Sie muss dann entscheiden, ob das der Wahrheit entspricht oder eine Lüge ist. Es liegt auch in ihrer Hand, ein Strafmaß zu bemessen.“ Nolans vergnügtes Lächeln riss nicht ab. Er war der felsenfesten Überzeugung, dass die Königin Landis wieder gehen lassen würde, sobald sie von der Geschichte erfahren hatte. Die anderen wandten sich wieder dem Gefangenen zu. „Erzähl weiter“, bat Kenton. „Was ist dann passiert?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)