Sicarius Vita von Flordelis (Custos Vitae I) ================================================================================ Kapitel 31: Kirschblüten ------------------------ Es gibt Kulturen, in denen stehen Kirschblüten für einen frühen Tod. Ich war nie wirklich mit diesen Kulturen in Kontakt gekommen, aber die Geschichten darüber waren nie aus meinem Gedächtnis verschwunden. Deswegen empfand ich es auch als böses Omen, als plötzlich ein starker Wind aufkam und unzählige dieser Blüten um uns herumwirbelten. Aurora und ich lehnten gegen einen der Bäume und sahen uns um. Yarah saß auf dem Boden und zog mit einem Stock Striche in die weiche Erde. Aidan stand mit gezücktem Bogen da, seine Schwester hielt ihr Naginata im Anschlag. Keiner von beiden würde einen Angriff aus dem Hinterhalt dulden. Kureha war im Gasthaus geblieben. Da sie nicht kämpfen konnte, war es besser, sie in Sicherheit zu lassen. Wir befanden uns schon seit über zwanzig Minuten unter den Bäumen, so dass ich mich langsam fragte, ob er überhaupt noch kommen würde. Normalerweise war er nicht für Verspätungen bekannt. Yarah pustete Luft durch ihre geschlossenen Lippen. „Aidan, hast du den Brief auch überbracht?“ Der Junge nickte. „Ja, ganz sicher. Ich habe sogar gesehen, wie er ihn gelesen hat.“ Ungeduldig brummend lief Yarah nun auf und ab. Mein Blick fiel auf das Haus von Troy, in dem noch Licht brannte. Bestimmt arbeitete er noch immer, während Renea und das Kind bereits schliefen. Ich beneidete die beiden richtig darum, dass sie ein so normales und friedliches Leben führen konnten. Kaum zu glauben, dass mir genau das früher als ganz und gar nicht erstrebenswert vorgekommen war. Als der Wind plötzlich wieder abflaute, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Knirschende Schritte erklangen auf dem Kiesweg und im nächsten Moment stand der Bürgermeister vor uns. Seine kleine, gedrungene Gestalt war einfach unverwechselbar. Inzwischen führte er einen Gehstock mit sich, die Zeit hatte eben auch an ihm genagt. Er musterte uns genau aus seinen dunklen Augen. Sein Blick blieb an mir hängen. „Oha! Bist du nicht der Sohn von Richard?“ Er erkannte mich also auf Anhieb, na ja, ich war damals auch für einige Probleme im Ort verantwortlich gewesen, also war es wohl nicht verwunderlich. Ich nickte ihm zu. „Das ist richtig.“ „Und was willst du jetzt hier?“ Misstrauisch ging er in Abwehrhaltung. Ich dagegen stellte mich wieder aufrecht hin. „Ich bin hier, um die Sylphe Vita zur Strecke zu bringen, bevor diese Sie tötet.“ „Warum sollte sie das?“ Keine Frage danach, wer sie sein sollte, also kannte er sie wirklich. Ich antwortete nicht auf seine Frage, er fuhr augenblicklich fort: „Vita arbeitet für Sir Caulfield. Warum sollte er mich töten wollen?“ Klasse, was sollte ich darauf antworten? Die Wahrheit? Als ob er mir die glauben würde. Da ich nicht antwortete, übernahm Yarah das: „Frediano ist mit Sicherheit nicht derjenige, der Vita die Anweisungen gibt. Vita handelt auf eigene Faust. Sie hat Ihren Sir Caulfield bereits getötet, Sie sollten also lieber auf uns hören.“ Er runzelte seine Stirn, was die Falten in seinem Gesicht noch verstärkte. Ich nahm an, dass er überlegte, ob sie wirklich die Wahrheit sagte und wenn ja, wann das wohl geschehen sein sollte und wer ihm dann in Fredianos Namen die Briefe schrieb. Aber vielleicht dachte er auch nur an sein Bett, so wie ich gerade an meines - ich war zwar nicht müde, aber ich sehnte mich nach Ruhe. Ein leises Lachen erklang. Ich musste nicht lange überlegen, um zu wissen, von wem es kam. Diese Stimme hätte ich auch nach über fünfzig Jahren wiedererkannt. Vita trat aus dem Schatten einiger Bäume. Genau wie die Nymphen hatte sie sich in den letzten drei Jahren kein bisschen verändert, im Gegensatz zu mir oder den anderen drei. Wie üblich trug sie ihr kaltes Lächeln zur Schau. „Landis, es ist lange her. Hoffentlich hast du dich in deiner freien Zeit genauso gut erholt, wie ich. Ist es nicht schön, wieder zu Hause zu sein?“ Ich antwortete nicht darauf, sagte nicht einmal etwas. Stattdessen sah ich wieder zum Bürgermeister und sah diesen eindringlich an. Allerdings wirkte er immer noch nicht sonderlich überzeugt. Vita legte sich einen Finger an ihre Lippen. „Oh, mein lieber Bürgermeister, Yarah hat nicht ganz Unrecht. Und dummerweise bin ich deiner nun überdrüssig.“ Interessanterweise wirkte er nicht einmal sehr überrascht. Ich war es allerdings schon, als er plötzlich seinen Gehstock fallenließ – zumindest die untere Hälfte. Den Griff, aus dem ein Messer ragte, hielt er immer noch in der Hand. Im einfallenden Mondlicht schimmerte die Klinge, ich konnte glühende Runen wahrnehmen. Er hatte also dieselbe Idee wie meine Mutter gehabt. Welch ein Zufall. Besorgnis zeigte sich nun auf Vitas Gesicht. Ihr waren die Runen also auch nicht entgangen. Sie ließ einen Stab vor sich erscheinen, den sie sofort ergriff, um sich zu verteidigen. Das erste Mal, dass sie ihn benutzte, offensichtlich fürchtete sie sich vor einem direkten Kontakt mit den Runen, nachdem sie bereits gespürt hatte, was sie bewirken konnten. Für einen Moment standen wir uns schweigend gegenüber. Ein Surren erklang. Im nächsten Moment folgte ein Windstoß – und dann steckte ein Pfeil neben meinem Kopf im Stamm des Baumes. Aidan war bleich geworden - mindestens genausosehr wie ich -, aber dafür war Vitas selbstsicheres Lächeln zurückgekehrt. „Derlei Waffen können mir nicht schaden, mein Junge.“ Nur den Bruchteil einer Sekunde später prallte Nadias Naginata auf Vitas Stab. Obwohl er wie aus Holz aussah, schien es tatsächlich ein Metallstab zu sein. Vita stieß das Mädchen von sich. Sie taumelte rückwärts und riss ihren Bruder mit sich zu Boden. Aurora warf einen ihrer Feuerbälle auf die Sylphe. Um den Angriff abzuwehren, löste Vita eine Hand von ihrem Stab. Sie erstellte eine Art Schild vor sich, an dem das Feuer wirkungslos verpuffte. Der Bürgermeister nutzte ihre fallen gelassene Verteidigung. Mit einer heftigen Bewegung stieß er das Messer in ihren Arm. Ausgehend von der Verletzung begann ihr Körper wieder zu glühen. Schmerzerfüllt schrie sie auf. Sie richtete ihr vor Wut verzerrtes Gesicht auf den Bürgermeister, der ein wenig zurückwich. Dieses Mal zögerte sie nicht so lange. Mit deutlich sichtbarer Anstrengung zog sie sich das Messer aus dem Arm. Da dieses Messer einen ungravierten Griff hatte, bekam sie keine Brandblasen an der Hand. „Verdammter Mensch!“, spuckte sie aus. „Wie kannst du es wagen!?“ Sie hob die Hand mit dem Messer, ich konnte mir bereits denken, was sie vorhatte. Hastig zog ich die verbliebenen Nadellanzetten heraus – oder besser: Ich versuchte es. Aus irgendeinem Grund gehorchte mein Körper mir plötzlich nicht mehr. Ich konnte nur zusehen, wie Vita ausholte. Der Bürgermeister fuhr herum und begann ängstlich wegzulaufen. Doch das Messer, das ihn in den Rücken traf, stoppte seine Flucht. Verletzt stürzte er zu Boden. Vita lief langsam auf ihn zu. Verzweifelt versuchte er, wegzukriechen, doch nach wenigen Sekunden war die Sylphe bereits bei ihm. Heftig trat sie ihm auf die rechte Hand. Ein lautes Knacken erklang. Der Bürgermeister schrie auf. „Hör auf damit, Vita!“, verlangte Yarah laut. Die Sylphe warf ihr einen betont kühlen Blick zu. „Du hast recht. Es wird Zeit, das hier zu beenden.“ Damit hob sie wieder ihren Stab. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich, dass das Metall am oberen Ende spitz zulief. Es schien scharf genug zu sein, durch menschliche Haut zu dringen. „N-nein, bitte nicht...“ Die erstickte Stimme des Bürgermeisters war kaum noch zu hören. Emotionslos stieß Vita die Spitze durch den Körper des Mannes, der augenblicklich verstummte. Der Stab leuchtete für einen Moment auf. Mit einem Ruck zog Vita den Stab wieder heraus. Ein ekelhaftes Geräusch begleitete das spritzende Blut, doch die Spitze war völlig sauber und kein bisschen besudelt. Sie wandte sich mir zu, mein Körper reagierte immer noch nicht, was mich in leichte Panik versetzte. Ich war noch nicht bereit zu sterben, auch wenn die Kirschblüten, die unablässig auf mich niederfielen, mir etwas anderes zu sagen versuchten. Ich musste weiterleben, ich musste...! Meine Gedanken waren noch nicht beendet, da spürte ich, wie mein Körper wieder reagierte – allerdings tat er das völlig von allein. Als ich wieder klar denken konnte, sah ich eine Wurfnadel, die in Vitas Stab steckengeblieben war. Genau wie sie starrte ich verblüfft auf die Nadel, die sich durch das Metall gebohrt hatte. Eine normale Wurfnadel wäre dazu nie in der Lage gewesen. Von der Einschlagstelle breiteten sich rasend schnell Risse aus – und mit einem Mal zerfiel der Stab in unzählige glitzernde Teile, die sich gemeinsam mit der Nadel auflösten. Damit besaß ich nur noch drei. Vita starrte ungläubig auf ihre leeren Hände. „Wie kann das...? Diese Nadeln...“ Dieses Ereignis musste sie durcheinandergeworfen haben. Sie warf mir einen fassungslosen Blick zu, dann fuhr sie hastig herum und verschwand in einem Sturm von Kirschblüten. Aurora stellte sich vor mich. „Alles in Ordnung, Lan?“ Ich nickte langsam. „Was war mit dem Stab? Warum verschwindet sie einfach?“ „Der Stab ist ihre Waffe und ein Teil ihres Körpers“, erklärte Yarah, die alles nur beobachtet hatte. „Ohne ihn kann sie einen Teil ihrer Kraft nicht mehr anwenden.“ Sie deutete auf die Stelle, an der ich meine Nadellanzetten aufbewahrte. „Genau dasselbe wie mit den Nadeln deiner Mutter.“ „Habt ihr dann auch...?“ Aurora und Yarah nickten, antworteten aber nicht weiter. Die Geschwister hatten sich inzwischen ebenfalls aufgerichtet. „Wir sollten langsam gehen, bevor uns jemand sieht – oder uns noch mehr sehen.“ Nadia sah zum Haus des Kommandanten hinüber. Es brannte immer noch Licht, aber inzwischen war ich mir sicher, dass Troy nur während der Arbeit eingeschlafen war. Ansonsten wäre er bestimmt längst bei uns gewesen. Ich nickte den anderen zu. Hastig begaben wir uns zurück zum Gasthaus. Doch das ungute Gefühl in meinem Magen war stärker als je zuvor. Als nächstes wäre ich dran und wenn ich Vita dann immer noch nicht töten könnte... Landis verstummte und sah zu Boden. „Und dann bist du nach New Kinging gekommen“, schloss Kenton. Der Gefangene nickte zustimmend, schwieg aber weiterhin. Oriana runzelte ihre Stirn. „Woher wusste der Bürgermeister, dass Vita ihn töten wollte?“ „Vielleicht hat Tante Asterea ihn gewarnt?“, mutmaßte Nolan. „Wahrscheinlich hat er ihr anfangs nicht geglaubt, aber irgendwie schon und deswegen hat er die Runen in das Messer gravieren lassen.“ „Oder Frediano hat ihn gewarnt“, sagte Kenton leise. Die anderen sahen ihn fragend an, er räusperte sich. „Nun, Frediano mag keine Seele mehr haben, aber die Erinnerungen sind noch da, wie Vita anscheinend gesagt haben soll. Vielleicht wollte Frediano gar nicht, dass bestimmte Leute sterben und hat versucht, sie zu warnen.“ „Das kann schon sein“, bemerkte Landis, immer noch mit gesenktem Kopf. „Aber dein Tod scheint ihm egal zu sein“, meinte Kenton zum Schluss. Lachend hob der Gefangene den Kopf wieder. „Nicht ganz. Er will mich nicht tot sehen, er will mich vernichten, genau wie ich ihn. Und deswegen...“ Er machte eine Pause, bis plötzlich ein lautes Geräusch, ähnlich dem eines Nebelhorns erklang. „Und deswegen muss ich euch nun verlassen.“ Bevor einer der anderen noch etwas fragen konnte, zerfiel Landis' Körper plötzlich in mehrere Einzelteile, genau wie die Puppen in Old Kinging. Die anderen sogen erschrocken die Luft ein – lediglich Kenton schien gar nicht überrascht zu sein. Er fuhr herum und verließ die Zelle, nur um an die gegenüberliegende zu gehen. Ohne lange darüber nachzudenken, öffnete er die Tür, worauf Aurora heraustrat. „Wurde langsam auch Zeit. Danke, Ken.“ „Was bedeutet das?“, fragte Nolan verwirrt. „War das alles hier etwa geplant?“ „Sicher“, antwortete der Berater, als er sich ihm wieder zuwandte. „Was denkst du, wer die Ankündigung des Angriffs geschrieben und wer mir dabei geholfen hat?“ Aurora warf sich in die Brust, während Nolan schmollend die Unterlippe vorschob. „Du hättest mir etwas erzählen können. Ich dachte immer, wir sind Freunde.“ Kenton schüttelte leicht den Kopf. „Wir beide wissen, dass du kein Geheimnis für dich behalten kannst - und ich konnte es mir nicht erlauben, Frediano von meinem Plan wissen zu lassen.“ Bevor Nolan wieder protestieren oder gar eine längere Diskussion starten konnte, hob der Berater die Hand. „Aber wir haben jetzt keine Zeit dafür. Sir Richard, Nolan, bitte geht und redet mit Ihrer Majestät über das, was Landis erzählt hat.“ Die beiden nickten und liefen sofort los. Schließlich wandte Kenton sich an Oriana. „Und du solltest dich auf den Weg zum Dach machen.“ „Was hast du vor?“, fragte sie besorgt. „Beeil dich lieber“, erwiderte er statt einer Antwort. Sie fuhr herum und lief hastig davon. Aurora trat neben Kenton. „Gehen wir dann auch?“ Er nickte zustimmend und verließ gemeinsam mit ihr den Kerker. Während Landis im Kerker das Ende der Geschichte erzählte, versammelten sich sechs Personen in der Dunkelheit vor dem Palast. Sie alle trugen Umhänge, um sich vor dem eingesetzten Regen zu schützen. „Es ist schon fast Mitternacht“, bemerkte die größte Gestalt plötzlich. „Genau um Mitternacht tritt der Plan in Kraft“, verkündete Yarah zum erneuten Mal. Als einzige trug die Puppenspielerin keine Kapuze mehr, der Regen schien ihr nichts auszumachen. Sie atmete tief durch. „Sir Joshua, Lady Bellinda, wir werden gemeinsam in den Thronsaal gehen. Aidan, du suchst gemeinsam mit Kureha den Prinz und die Prinzessin auf. Und du, Nadia, wirst Landis aufs Dach helfen.“ Die Angesprochenen nickten zustimmend. Pünktlich auf den ersten Glockenschlag der Turmuhr, trat eine weitere Gestalt hinzu. „Es wird Zeit.“ Diesmal war es Yarah, die nickte. Sie hob eine Pfeife an ihre Lippen. Als sie hineinblies, erklang ein Ton, ähnlich eines Nebelhorns, auch wenn das Instrument gar nicht danach aussah. Landis wusste genau, dass auf diesen Ton die genaue Nachbildung von ihm, die den anderen seine Geschichte hatte erzählen sollen, auseinanderfiel. Besonders in den drei Jahren, in denen sie in Old Kinging gewesen waren, hatte er dies oft beobachtet. Jemand öffnete die Türen des Palastes. Yarah lächelte Landis zu. „Bereit?“ Er nickte. „Bereit.“ Gemeinsam betraten sie die Eingangshalle, wo sie sofort auseinanderspritzten, damit jeder einzelne seine Aufgabe erfüllen konnte. Landis und Nadia begaben sich in Richtung des Daches. Im Inneren des jungen Mannes brodelte es voll Ungeduld, seinem alten Rivalen gegenüberzutreten. Vor der letzten Treppe blieb Nadia wieder stehen. „Ich werde hier warten. Geh du allein hoch.“ Dankbar nickte er ihr zu, dann lief er hinauf. Er ging durch eine Tür hindurch und stand plötzlich wieder im Regen. Die Dachterrasse war leer – abgesehen von der Gestalt, die ihr Schwert hob und es Landis entgegen streckte. „Ich habe auf dich gewartet.“ Er zog sein eigenes Schwert. „Hast du ja lange genug. Bringen wir es hinter uns?“ „Nur zu gern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)