D · L · N von Rose (Dark Long Night) ================================================================================ Kapitel 1: Dark Long Night -------------------------- Diese Kurzgeschichte ist aus einem ganz bestimmten Grund entstanden - ich wollte damit etwas beweisen - und ich habe es geschafft, weswegen mir diese Geschichte sehr am Herzen liegt. ich hoffe, sie regt euch etwas zum Nachdenken an. --- Als der Krieg begann, war ich noch jung. Ich verstand damals nicht, was meine Mutter damit meinte, als sie sagte, Vater würde niemals zurückkehren. Heute weiß ich, dass er für nichts und wieder nichts gefallen ist. Der Krieg forderte viele unschuldige Opfer, darunter unzählige Kinder und Frauen. Und eines Tages starb auch meine Mutter infolge eines unvorhersehbaren Angriffs der benachbarten Truppen. Meine Schwester und ich blieben allein zurück in einem Land, das langsam von der Machtgier unseres Königs zerfressen wurde und so begann ich, ihn immer mehr zu hassen. Als mein Hass seinen Höhepunkt erreichte, fand auch der Krieg seinen ersten Höhepunkt. Zu allem Überfluss bedeutete das, dass jene, die etwas für ihr Land hätten tun können, in den Kriegsdienst einberufen wurden. Dazu zählte auch ich. Mit 14 Jahren wurde ich in die königliche Armee befohlen. An diesem Punkt zerbrach ich. „Bruder, das Essen ist fertig. Wenn du dich nicht beeilst, wird es kalt.“ Ich hasste es, meiner Schwester entgegenzutreten. Seitdem ich mich verändert hatte, trat sie mir mit Verachtung entgegen. Vielleicht war es sogar gerechtfertigt, dass sie das tat, doch es verletzte mich zutiefst, immerhin hatte ich außer ihr keine lebenden Verwandten mehr. Mir blieb aber nichts anderes übrig, als mich an zu ihr an den Tisch zu setzten. Ich hatte seit drei Tagen nichts Anständiges gegessen. „Sag nicht – Wann hörst du endlich auf damit?!“, schrie sie mir entgegen, als ich durch die Tür schritt und sie mich erblickte. „So kann das nicht weitergehen, Lucrezius! Du kannst nicht ewig vor deinen Pflichten davonlaufen, indem du dich verstellst! Kannst du eigentlich noch in den Spiegel sehen, sag es mir! Kannst du in den Spiegel sehen?!“ Ich nahm mir, den Kopf gesenkt und die Hände zu Fäusten geballt, einen Teller Suppe und schwieg. Natürlich konnte ich nicht in den Spiegel sehen, wie auch? Was ich im Spiegel sehen würde wäre nicht ich, sondern eine Existenz, die ich mir geschaffen hatte, um dem Kriegsdienst und seinen Folgen zu entgehen. „Ich rede mit dir, Bruder! Weich mir nicht immer aus! Mir reicht es. Ich ertrage deinen Anblick einfach nicht mehr, hörst du? Du bist das erbärmlichste Wesen, das mir je unter die Augen getreten ist.“ „Schön, dann kann ich ja gehen“, waren die einzigen Worte, die sie von mir hörte und während ich im Stehen schnellst möglichst meine Suppe in mich hineinwürgte, hörte ich, wie sie fluchend ein Glas auf den Boden warf. „Dann geh doch! Ich bin nicht auf dich angewiesen!“ Sie wusste genau, dass sie auf mich angewiesen war, obwohl ich so war, wie ich bin. Denn auch sie trug im Inneren etwas mit sich, das ihr das Leben erschwerte, eine Krankheit, die sie nach und nach um den Verstand brachte. Aber ich liebte meine Schwester wie am ersten Tag und tief im Inneren wusste ich, dass sie es auch tat. In diesen Momenten, in denen ich sie verletzten musste, um mir nicht selbst zu schaden, verabscheute ich mich fürchterlich. Wieso mussten Menschen nur immer an sich denken? So ging ich also abermals, um in wenigen Tagen zurückzukehren, wie ich es seit einer geraumen Zeit tat. „Ah, das Blumenmädchen ist wieder da.“ Der Marktplatz war stets gefüllt, wenn ich dazu stieß. Man hatte mich also schon erwartet. Ich versuchte ein Lächeln vorzutäuschen, hielt den Korb, den ich mitgenommen hatte, vor mich, und sagte verschüchtert: „Heute habe ich Rosen mitgebracht.“ Das war mein Leben. Ich tarnte mich als Frau, um dem Krieg zu entkommen, um zu vergessen, wie schwach ich wirklich war, dass ich nicht einmal in der Lage war, ein Schwert zu halten, um dem Gelächter meiner Kameraden zu entgehen. Ich war nie besonders männlich gewesen. Schon als kleines Kind lobte man meine zierlichen Züge, meine porzellanweiße Haut und das fein geschnittene Gesicht. Außerdem war ich für einen Jungen zu klein. Ich wirkte wie eine Puppe – und so fühlte ich mich auch, unfähig, etwas zu tun. Was meinen Ausbildungsalltag jedoch nicht einfacher machte, war die Tatsache, dass ich kein Blut sehen konnte. Der Gedanke daran, wie die Anderen darauf reagierten, trieb mir Tränen in die Augen. Sie hatten endlich jemanden gefunden, den sie nach Lust und Laune quälen und aufziehen konnten. Hier mit Kleid und Schürze auf dem Marktplatz Blumen zu verkaufen war nur halb so schmerzhaft wie auf die Vergangenheit zurückzublicken. Die Flucht war die einzige Wahl, die ich hatte und so beschämend es auch sein musste, ich hatte mich daran gewöhnt. Ich wollte den Krieg einfach vergessen. Ein Kunde rüttelte mich wieder wach, denn ich war so in meinen Erinnerungen versunken, dass ich den Trubel des Marktes gar nicht mehr wahrnahm. „Eine Rose bitte.“ Es war ein Mann, kaum älter als ich, gekleidet in einer Uniform, die ich nicht kannte. Wahrscheinlich kam er aus einem der Königreiche, die noch nicht in den Krieg verwickelt waren, sich aber intensiv darauf vorbereiteten. Er wirkte jedenfalls so, als wäre er ein fähiger Krieger. „Hier, bitte. Das macht 3 Silberstücke.“ Ich sah auf zu ihm und betrachtete sein Gesicht näher. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht. Sie schienen glatt durch mich durch zu blicken. Außerdem bildeten sie einen starken Kontrast zu seinen langen, schwarzen Haaren. Wäre ich wirklich ein Mädchen gewesen, hätte mich sein schönes Gesicht bestimmt sofort verzaubert. Der Mann reichte mir das Geld und lächelte. Ich konnte deutlich hören, wie um mich herum einige Mädchen zu tuscheln begannen. Fast hätte ich vergessen, mich zu bedanken, so gefesselt war ich von seinem gar hypnotisierenden Blick. Der Mann lächelte abermals und drehte sich um, da wurde er auch schon von der Masse der tuschelnden Mädchen umkreist, die ihn mit lauter belanglosen Fragen löcherten. „Sie sind da!“, hörte ich plötzlich einen Mann hinter mir schreien, „es hat einen Angriff im Ostviertel gegeben! Die Truppen von Altbrunn haben die Stadt eingenommen! Sie werden bald auch den Markt erreichen!“ Er blieb völlig entkräftet in der Mitte des Platzes stehen, alle Blicke auf ihn gerichtet. Für einen Moment begriff niemand, was er da behauptet hatte. Als er sich jedoch das Hemd aufriss und eine klaffende Wunde zum Vorschein kam, verstanden die Ersten, dass er es ernst meinte. Eine der Obsthändler nahm sich seiner direkt an: „Wir müssen ihn verarzten! Die Männer auf ihre Posten, die Frauen sichern die Waren. Los, los!“ Beim Anblick der Wunde des Mannes musste ich schwer schlucken. Es hatte bestimmt schon wieder unschuldige Tote gegeben. Warum nur forderte der Krieg so viele Opfer? Ich blieb wie gefesselt stehen, den Blumenkorb mit beiden Händen umschlungen. Eigentlich sollte ich jetzt kämpfen. Ich hätte mich wie die anderen Jungen und Männer auf Leben und Tod den Truppen stellen sollen, aber ich konnte einfach nicht. Nicht, weil ich das Sterben fürchtete, sondern weil mich das Szenario zerrissen hätte. Damals hatte ich meine Mutter sterben sehen. Die Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, nie wieder. Ich hasse den Krieg. Was danach passierte, dauerte scheinbar nur den Bruchteil einer Sekunde: Pfeile flogen wie ein spitzer Regenschauer aus dem Himmel und bahnten sich ihren Weg durch Planen und Abdeckhauben, Krüge zerschellten, Menschen schrieen. Einer der Pfeile verfehlte meinen Arm nur um Haaresbreite, was mir den Anstoß hätte geben sollen, so schnell zu rennen, wie noch nie zuvor. Aber meine Füße bewegten sich nicht. Ich würgte schrecklich. Überall Blut. Für einen Moment nannte ich es Glück, dass der Pfeilhagel stoppte, dann hasste ich mich dafür, nicht wegrennen zu können, denn das war nur der Vorgeschmack. Die Nahkampftruppen bahnten sich an, eine vergleichsweise kleine Truppe mit erhobenen Waffen, aber bereit, jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, mit in den Tod zu reißen. Die meisten Frauen hatten sich in Sicherheit gebracht, nur ich harrte noch an meinem Platz aus, unfähig mich zu bewegen. Ich war mir nicht sicher, ob sich mein Kopf den Tod wünschte, wenn er nicht fähig war, über meinen Körper zu herrschen. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, einfach zu sterben. „Bleib dicht hinter mir“, flüsterte mir sanft jemand ins Ohr und nahm mir damit jeglichen Wunsch, die Dinge einfach geschehen zu lassen. Die Stimme wäre unter den vielen Hilfeschreien und dem Kampfgeheul fast untergegangen. Sie gehörte niemand anderem als dem hübschen Krieger, der eine Rose bei mir gekauft hatte. Erschrocken versuchte ich seinen Blick zu finden, doch er hatte sein Schwert erhoben und schien nicht mehr weiter auf mich zu achten. Dass ich jetzt auch noch im Weg stehen würde, machte mich nicht glücklicher. Als aber die ersten Soldaten anrückten, begriff ich, dass es ihm ernst war. Er würde mich verteidigen. Mich, den wohl erbärmlichsten Menschen dieses Königreichs. Er schwang sein Schwert mit einer Eleganz und Perfektion, als habe er nie etwas anderes getan. Ich unterdrückte die Schreie, als er einen Gegner nach dem anderen zu Boden schlug. Inzwischen zog er immer mehr Aufmerksamkeit auf sich, doch jeder, der ihm zu nah kam, wurde durch seine Klinge niedergestreckt. Tränen quollen mir aus den Augen. Ich biss mir auf die Lippen und verkrampfte die Hände. Wieso war ich nicht einfach zu Hause geblieben? Ach ja, meine Schwester und meine Erbärmlichkeit, mein Drang, mich zu verstecken – das war wohl die Strafe dafür, dass ich vor meinem Schicksal davonlaufen wollte. Und nur deswegen konnte ich mich beherrschen. Ich sollte diese Menschen sterben sehen, um für meinen Widerwillen zu büßen. Einer der gegnerischen Krieger, wohl ein etwas höheres Tier, war auch auf das Schauspiel um meinen Beschützer aufmerksam geworden, trat ihm mit geschwollener Brust entgegen und fuhr ihn an: „So, du hältst dich wohl für ganz toll, wie? Warum kämpfst du für dieses Königreich? Ich sag dir etwas, wenn du fortan für uns arbeitest, lass ich dich am Leben. Was sagst du dazu? Ist das nicht ein nettes Angebot?“ Es folgte ein schmerzerfüllter Schrei und dann Stille. Bedrückende Stille, die erst wenig später durch die gegnerischen Reihen gebrochen wurde: „Rückzug!“, hallte es aus allen Ecken, als sie begriffen, dass ihr Anführer durch einen einzigen Hieb dieses überlegenen Kriegers gefallen war. Innerhalb eines Augenblicks leerte sich der Platz. „Lasst sie nicht entkommen!“, schallte es und unsere Truppen stürmten hinterher. Wieder kehrte Stille ein. Und als ich versichert war, dass alles vorbei war, begann ich zu schluchzen, tiefer und tiefer, und die Tränen rannen mir wie ein unendlicher Schleier der Trauer von den Wangen. Der Krieger ließ sein Schwert sinken und nahm mich in den Arm. „Tut mir Leid, dass du das mit ansehen musstest.“ Seine Stimme hörte sich immer noch so sanft an, wie sie im Getümmel geklungen hatte. „Vielleicht sollten wir… woanders hingehen.“ Ich nickte nicht, brachte auch kein Wort heraus, sondern ließ mich einfach von ihm führen. Alles was ich wollte war weg von hier. Wir hatten uns zu einer nahen Wiese begeben. Während er sein Schwert säuberte, legte ich mich in das Gras und versuchte, einen klaren Kopf zu fassen. Die Truppen von Altbrunn würden so eine Niederlage nicht auf sich sitzen lassen. Im Krieg herrschten Regeln, die niemand verstehen konnte. Wie auch, der Krieg war das Ergebnis zweier Wahnsinniger, die ihre Truppen mit Schachfiguren verwechselt hatten. „Warum hast du mich beschützt? Und wer bist du eigentlich?“ Ich hielt diese Unwissenheit nicht mehr aus. Dieser Mann hatte vor meinen Augen grad unzählige Soldaten gerichtet, nur um mich zu retten. Oder bildete ich mir das nur ein? „Mein Name ist Alan, ich komme aus dem Königreich Del’Raid. Es war nicht in meinem Sinne, mich in die Kriegsprobleme deines Landes einzumischen, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig.“ Er legte sein Schwert an die Seite und holte die Rose aus seiner Tasche. „Nein, das wollte ich wirklich nicht.“ „Wieso hast du mich beschützt?“, wiederholte ich. „Wieso wolltest du so sinnlos sterben wie diese Männer?“ Meine Augen weiteten sich. Alan schien die Rose zu betrachten, während er mit mir sprach. Ich antwortete ihm nicht. War es so offensichtlich gewesen, dass ich in einem Zwiespalt zwischen Leben und Tod steckte? Was war ein Leben im Krieg schon wert? Immerhin hatte er einen nach dem anderen umgebracht, ohne Unterschiede zu machen, ohne nach dem Grund zu fragen. „War das Leben jener Männer etwa nichts wert?!“ Ich sprach direkt meine Gedanken aus. „Sie sind auf das Schlachtfeld gekommen, um zu töten. Ein jeder von ihnen hat den Tod erwartet, den Tod für ihren Herrn. Ich habe sie getötet, um andere zu beschützen.“ „Wieso?“ Ich hätte besser geschwiegen, eine Antwort hätte ich ja doch nicht von ihm erwarten können. Dieser Mann war mir ein Rätsel. Er mischte sich in Dinge ein, die ihn nicht zu interessieren hatten und war dabei so überzeugend, dass es mir das Blut in den Adern gefror. Alan machte mir Angst. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, der Grund seines Eingreifens zu sein. Die Unwissenheit aber raubte mir noch mehr die Nerven. „Wenn man an deinen Rosen riecht, könnte man glatt den Krieg vergessen.“ „Hu?“ Ich richtete mich zu ihm auf und sah, wie er mir die Rose hinhielt. Irgendwie wirkte der Duft dieser Blume wirklich beruhigend. Alan mochte also Rosen. Ich hatte mich schon gefragt, für wen er die Rose wohl gekauft hatte. Es gab so viele Dinge, die ich ihn gerade fragen wollte, so viele Dinge, die ich über ihn wissen wollte, doch ich entschied, dass es besser wäre, erst einmal zu schweigen. In den darauf folgenden Tagen fand ich Alan immer wieder auf der Wiese und am Marktplatz. Ich hatte mich ihm als Lucrezia vorgestellt und ihm die restlichen Rosen geschenkt, in der Hoffnung, er würde mich dadurch nicht vergessen. Die Kriegslage hatte sich anscheinend gebessert, unsere Truppen konnten einen Erfolg vorweisen und so kehrte erst einmal wieder Stille in der Stadt ein. Alles schien seinen gewohnten Lauf zu gehen. Immer aber wenn ich auf den Boden sah, kamen die Erinnerungen an das Blut wieder hoch – und damit auch die Erinnerungen an meine Ausbildungszeit. Ich saß an eines späten Nachmittags im Gras und starrte in den strahlend blauen Himmel. In letzter Zeit hatte ich genug Gelegenheit nachzudenken, auch über die Dinge, die Alan zu mir gesagt hatte. Warum lebte ich noch? Was bedeutete mir das Leben überhaupt, wenn ich es so leichtfertig hätte verlieren können? Und mit jeder Minute wurde ich mir mehr bewusst, dass mein Leben nichts wert war. Ich war einer dieser abertausenden Menschen, die im Krieg ihr Leben lassen würden. Ich war ein Durchschnittsmensch, war nicht von Belang, war wie jeder andere. Ich hatte Menschen sterben sehen, ich hatte Menschen leiden sehen und hasste den Krieg. So gesehen war ich wie jeder andere auch: ein Opfer des Krieges, meiner Mitmenschen und des Königs. Doch auch wenn ich so durchschnittlich war, unterschied mich etwas von den Anderen: Ich hatte von nun an jemanden an meiner Seite, der mich beschützen würde – wenngleich ich noch nicht einmal wusste, aus welchem Grund. „Ich habe nachgedacht.“ Alan war so leise gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wann er gekommen war. Er setzte sich zu mir und erzählte: „König Del’Raid hat Maßnahmen ergriffen, um sich im Falle eines Angriffes Altbrunns zu verteidigen.“ „Du wirst zurückkehren?“ Ich hoffe inständig, dass er nein sagen würde, doch er nickte. „Darf ich dich etwas fragen?“ Er wollte eigentlich etwas anmerken - ich war ihm wohl zuvorgekommen. Sein Schweigen interpretierte ich einfach mal als wiederholtes Nicken. „Wofür kämpfst du?“ Es war wie mit der Frage, warum er mich verteidigt hatte. Er machte keine Anstalten, jemals zu antworten, als wollte er dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen. Ich hatte in der letzten Zeit einiges über ihn erfahren, über seine Vergangenheit, seine Ansichten und seine Überzeugungen, doch dies war etwas, dass er selbst mit vorgehaltener Waffe nicht erzählt hätte. Seine geheimnisvolle Art machte ihn nur noch attraktiver, als er ohnehin schon war. Manchmal fragte ich mich, was er wohl über mich dachte, immerhin hatte er nicht die leiseste Ahnung, dass er seine Zeit mit einem Jungen verbrachte. „Ich möchte, dass du mit mir kommst“, sagte er unerwartet, als ich wieder einmal meinen Gedanken nachjagte. In seinen so undurchdringbaren Augen lag Hoffnung und Ernst. Er wusste, dass ich dieses Land, diesen König, verabscheute. Ich hatte es ihm vor ein paar Tagen erzählt. Als er mir von König Del’Raid erzählt hatte, von der Güte und dem Wohlwollen jenes Herrschers, musste ich lachen. So etwas konnte ich mir nicht im Geringsten vorstellen. Ein König, der nicht an sich dachte, existierte für mich nicht. Ich wollte ihn fragen, ob er mich nur dabei haben wollte, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Sein Blick veranlasste mich erneut dazu, zu schweigen. Und so schwiegen wir beide. Wir mussten eine ganze Weile so nebeneinander gesessen haben, denn die Sonne war inzwischen untergegangen und es zeigten sich erste Sterne am Himmel. Wir saßen öfters so nebeneinander, versunken in unserer eigenen Welt, weit weg vom Krieg. „Sind die Sterne nicht schön? Ich glaube, du hast ein Gespür für schöne Dinge, Alan.“ Er antwortete nicht. Ich glaubte erst, er wäre noch so vertieft gewesen, dass er meine Worte nicht gehört hatte, doch er senkte den Blick. War das etwa wieder eine dieser Fragen, die er nicht beantworten würde, komme was wolle? Nein, da lag etwas anderes in seinem Blick, etwas Melancholisches. Ich rückte näher an ihn heran und suchte Augenkontakt. Wie gewohnt schaute er mich nicht an. „Ich… Tut mir Leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe“, entschuldigte ich mich, ohne zu wissen, wofür denn genau, denn eigentlich sollte jener Satz ein Kompliment sein. Warum musste Alan nur so kompliziert sein? „Wofür entschuldigst du dich? Ich sollte mich entschuldigen. Ich verlange so viel von dir, dabei enthalte ich dir so viele Dinge vor.“ Wenn er gewusst hätte, dass auch ich ihm etwas sehr Wichtiges verschwiegen hatte… Er hätte bestimmt Augen gemacht. Wie dumm wir doch beide sein mussten, wie wir so nebeneinander saßen und eigentlich kaum etwas übereinander wussten. Ich konnte ihm noch nicht einmal meinen richtigen Namen sagen. „Ich… Ich werde mit dir gehen.“ Meine Stimme zitterte. Mein Entschluss stand schon fest, als er jenen Satz gesagt hatte, doch es war mir sehr schwer gefallen, diese Worte über die Lippen zu bringen. Das würde heißen, alles hinter mir zu lassen, meine Schwester, vielleicht sogar die Erinnerungen, die an diesem Ort hingen. Wieso sollte ich einen Krieg eines Landes erleben, für das ich nichts übrig hatte? War es nicht damals genauso gewesen, als ich entschied, mein altes Ich abzulegen? Es klang wie eine Flucht aus meiner selbst verantworteten Misere. Alan hingegen stimmten diese Worte sehr glücklich. Ich hatte sein Lächeln vermisst. Er lächelte so selten. „Ich danke dir“, hauchte er fast unhörbar in die Luft. Und während auch ich in mich hineinlächelte, beugte er sich zu mir hinüber und küsste mich. Ich lag die ganze Nacht wach, da sich in meinem Kopf alles drehte. Wahrscheinlich hatte ich es geahnt und überspielt, nur um mir zu beweisen, dass es unmöglich wäre. Was aber wohl das Schlimmste war: Auch ich war Alan verfallen, sei es nun als Frau oder Mann – und das schon seit dem Augenblick, als ich ihm die Rose gereicht hatte. Ich hatte noch nie einen Menschen getroffen, der so viel für mich getan hatte wie er, niemand, der so voller Geheimnisse war und mich so faszinierte wie er. Ich könnte mich den Rest meines Lebens verstellen, sagte ich mir leise, dann würde ich vielleicht glücklich werden. Was für eine sinnlose Überlegung. Irgendwann würde ich ja doch auffliegen. Ich öffnete die Kiste, in der ich mein Hab und Gut verstaut hatte, und zog den kleinen Silberspiegel heraus, der einst meiner Mutter gehört hatte. Es war das erste Mal seit über zwei Jahren, dass ich ihn in den Händen hielt. Meine Schwester hatte Recht: So konnte es nicht weitergehen. Mein Schatten dürfte nicht Oberhand über mich gewinnen. So wagte ich den Blick in den Spiegel. Nein, das war ich wirklich nicht. Es war nichts als das Spiegelbild eines Narren, der glaubte, sich selbst entkommen zu können. Aber mein Spiegelbild und ich, das waren nicht eins. In meinem Inneren schlummerte immer noch der alte Lucrezius, der, der zwar vor den Schmerzen davon gelaufen war, doch nun begriff, was wirklich wichtig war. Ich musste Alan die Wahrheit sagen. Bevor wir abreisen würden, musste ich unbedingt noch einmal mit meiner Schwester reden. Ich stand nervös vor der Tür unseres Hauses und klopfte an. Es dauerte nur wenige Sekunden, da öffnete sie sich und meine Schwester trat heraus. „Wer da? … Bruder!“ Sie sah mich an, als wäre ich ein Geist – oder noch etwas viel schlimmeres. „Wo ist das Kleid… und die Schürze? Deine Schleife, das Haarband? Bruder!“ Schniefend und freudestrahlend zugleich fiel sie mir um den Hals. Ich glaube, sie begriff noch gar nicht richtig, dass es der wahre Bruder war, den sie solange vermisst hatte, den sie da umarmte. So fröhlich hatte ich sie lange nicht erlebt und es machte auch mich glücklich, sie so zu sehen. Mein falsches Spiegelbild würde nicht über mich triumphieren. Jetzt wurde es Zeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. „Ich werde gehen, Schwester, weit weg, und ich werde so bald nicht zurückkehren.“ „Ich verstehe. Keine Angst, ich komme auch ganz gut ohne dich aus, glaub mir.“ Sie konnte so gut lügen, aber ich wusste, dass sie es nur gut mit mir meinte. „Wenn etwas ist, dann lass nach mir aussenden“, beruhigte ich gleichermaßen mein Gewissen und ihre Sorge, ich würde sie so einfach im Stich lassen, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. Sie nickte zufrieden und nahm mir damit erst einmal eine Last vom Herzen. Die größere Herausforderung lag noch vor mir. Wir trafen uns am Stadtrand, an einem abgeschiedenen Weg, an dem eine alte Ruine neben einer Brücke stand. Alan wartete bereits. Er saß auf einer der verfallenen Mauern und starrte auf die aufgehende Sonne hinauf. Als ich die Brücke überquerte, blieb ich kurz stehen: Wäre es nicht besser, ihn nicht zu verletzten? Ich hätte einfach so tun können, als wäre ich jemand anderes, der nur zufällig diesen Weg benutzt, nur einer dieser abertausend unwichtigen Menschen und er hätte keinen Verdacht geschöpft. Er hätte sich auf ewig diesen Sonnenaufgang angesehen und mich vergessen. War diese Welt wirklich so einfach zu hintergehen? Ich konnte es einfach nicht. Mit leichten, kurzen Schritten bahnte ich mir meinen Weg über die Brücke. Alan würde nicht einmal bemerken, dass ein Fremder an ihm vorbei geht. Ich hasste mich für meine Schwäche, ich war eben doch nur das ohnmächtige Mädchen, das ich vorgab zu sein. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich wagte einen letzten Blick. Er blickte immer noch auf die Sonne. Es tut mir Leid. „Ich danke dir, dass du gekommen bist.“ Mein Herz, das so schnell geschlagen hatte, wie noch nie zuvor, blieb fast stehen. Ich stand auf dem unebenen Weg und sah ihn nicht an. Weit und breit war niemand außer ihm zu sehen und diese einzigartige, sanfte Stimme hätte ich aus allen Stimmen dieser Welt wieder erkannt. Dieser Mann war nicht irgendwer. Er war auf eine ganz eigene Art perfekt. Und er veranlasste mich mit einem Satz dazu, mich zu ihm umzudrehen und jegliche Angst zu vergessen. Da saß er, eine Rose in der Hand und nach wie vor die Sonne betrachtend. Die Rose war vertrocknet. Es musste jene sein, die ich ihm verkauft hatte, als wir uns zum ersten Mal trafen. Aber wieso schaute er mich nicht an? „Alan…“, zwang ich mich zu sagen, doch ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich hoffte, er hätte es nicht gehört. Ich hätte ihm einfach sagen können, dass er mich mit jemandem verwechselt und hätte ihm so alles ersparen können. Wieso tat es nur so weh? Verzweifelt ballte ich die Hände zusammen und machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Weinst du des Abschiedes wegen?“ Er sah mich immer noch nicht an. Langsam glaubte ich, er wollte mich auf den Arm nehmen. Vor ihm stand nicht die junge Frau, die er kennen gelernt hatte, sondern der bemitleidenswerte Durchschnittsmensch, der ich schon immer war. „Bist du blind, oder was?“ Meine Stimme klang inzwischen nicht mehr verzweifelt oder tränenerstickt, sondern ernst. Ich wollte ihn nicht anschreien, aber seine Reaktion tat weh. Sie schmerzte höllisch. „Ich glaube, du bist noch viel blinder als ich, wenn du es immer noch nicht begriffen hast.“ „Was?!“ Alan winkte mich zu ihm heran. Für einen kurzen Moment zögerte ich, aus Angst, doch dann beugte ich mich zu ihm. Er nahm meine Hand und legte die vertrocknete Rose hinein. Sie fühlte sich wie versteinert an. Als wäre sie vor vielen Jahren von dieser Welt geschieden, dieser blutgetränkten Welt. „Sag mir, was fühlst du? Wie fühlt sie sich an?“, fragte er leise. Ich wagte es nicht, etwas zu entgegen. „Kannst du mir sagen, wie sterbende Rosen aussehen? Leiden sie?“ Ich hob den Kopf, nicht um ihn anzusehen, sondern um den Anblick der Rose zu vergessen. Alan hatte Recht. Ich musste wirklich blind sein, wenn ich nicht verstand, was er damit bezwecken wollte. „Rosen sterben zu schnell, als dass sie leiden könnten.“ „Ich glaube, ich habe mich nicht genug um sie gekümmert.“ Es war das erste Mal, dass ich sah, wie Alan weinte. Er war immer so stark und gar emotionslos, dass ich mir einen solchen Anblick nie hatte vorstellen können. Zwar waren es nicht viele Tränen, aber jede einzelne zeigte seinen Schmerz mehr als alle meine Tränen zusammen. Ich wollte etwas Tröstendes sagen, doch mir viel nichts ein, aus dem einfachen Grund, dass ich nicht wusste, weswegen er nun weinte. „Du hast Recht, ich habe ein Gespür für schöne Dinge“, meinte er plötzlich und es war das erste Mal, dass er meinen Blick suchte. „Ich wünschte nur, ich könnte diese schönen Dinge sehen. Ich wünschte, ich könnte die toten Rosen sehen. Ich wünschte, ich könnte den Sonnenaufgang sehen. Ich wünschte, ich könnte die Sterne glänzen sehen. Ich wünschte, ich könnte dich weinen sehen.“ Und ich begriff endlich, was er damit ausdrücken wollte. „Wieso hast du mir das nicht gesagt?!“ Ich fiel ihm in die Arme. Das war die einzige Geste, die mir derzeitig als Trost einfiel. „Die Menschen sind alle blind. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Gold, Blut, Macht. Die wirklich wichtigen Dinge sieht niemand. Niemand außer den Schafen bei Endlosnacht.“ Mit einem Mal wurde mir alles klar und ebenso viele neue Fragen taten sich in mir auf. Wir hatten uns beide etwas verschwiegen und für jeden normalen Menschen hätten diese Dinge alles ausgemacht. Für Alan und mich aber waren diese Dinge belanglos. „Du bist auch ein solches Schaf. Du weißt die Blumen, die Sterne und die Sonne zu würdigen. Und du hast ein gutes Herz. Deswegen will ich dich beschützen. Dafür liebe ich dich.“ „Auch, wenn ich nicht das Blumenmädchen bin, für das mich alle halten?“ Die Frage war überflüssig. Er musste es bereits wissen. Solch verlorene Schafe mussten allein durch eine Träne wissen, was sich hinter der Maske verbarg. Und die Antwort konnte ich mir auch denken. Es machte ihm nichts aus – und vermutlich war es das, wofür ich ihn liebte. „Lucrezius.“ Er lachte und dann küsste er mich zärtlich. „Du bist sehr stark, Lucrezius, das sagt mir dein Herz. Du hast nur Angst, wieder verletzt zu werden und damit zu versagen. Aber das wirst du an meiner Seite nicht. Das verspreche ich dir.“ Ich musste rot geworden sein. In diesem Augenblick wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er es gesehen hätte. Egal, vermutlich fühlte er es auch so. Ich legte den Kopf schief und fragte ihn lachend: „Glaubst du, dein König kann noch ein Blumenmädchen brauchen?“ „Ein Blumenmädchen nicht, doch jemanden, der an der Seite seines besten Kriegers für Ordnung sorgt bestimmt.“ Da lachten wir beide miteinander. Es war ein so befreiendes Gefühl, die Sorgen zu vergessen und einfach zu lachen. „Vorausgesetzt natürlich, dass du seinen hohen Ansprüchen gerecht wirst“, fügte Alan noch schnell hinzu, grinsend, und legte seine Hand auf meine Schulter. „Glaubst du nicht, dass das Leben an sich viel höhere Ansprüche stellt?“ Er war froh, dass ich es endlich begriffen hatte. Seit Kriegsbeginn hatte ich ständig an mir gezweifelt. Ich war nicht fähig, dem hohen Druck standzuhalten oder mich gegen meine Mitmenschen durchzusetzen. Mir fehlte einfach das Selbstvertrauen. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass der Anspruch des Lebens darin bestand, dass ich mit ganzem Herzen leben wollte. Ich habe eines gelernt: Vielleicht bin ich nur einer dieser vielen Menschen, die alleine nichts bewegen können, doch ich habe aus der Vergangenheit gelernt. Ich muss mich nicht verstellen, um jemand zu sein, der etwas verändern kann. Ich habe Alan und deswegen brauche ich dieses zweite Ich, dieses falsche Spiegelbild, nicht mehr. Durch seine Hilfe schaffe ich es, den Anforderungen dieser Welt gerecht zu werden, damit nicht noch mehr unschuldiges Blut vergossen wird. „Danke.“ Die wahre Geschichte der Schafe bei Endlosnacht hat erst begonnen. Ihr Lied hallt auch noch heute durch das Land, in der Hoffnung, dass der Krieg endlich ein Ende findet. Wer weiß schon, was sich in der Dunkelheit versteckt? --- Eine Ausweitung der Geschichte ist bereits geplant. Danke fürs lesen~ ;///; Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)