After the dust settles von Arianrhod- (Einsamkeit: Sesshoumaru x Kagura) ================================================================================ Kapitel 1: Moment of Perfection ------------------------------- „Ne, Yuu-chan.“ Ein Grunzen antwortete Lavi. Kanda machte sich nicht einmal die Mühe, ihm zu sagen, dass er ihn nicht beim Vornamen nennen sollte. Sonst fand er immer die Zeit dazu, selbst im Kampf. Aber jetzt saß er einfach nur da, ein Bein auf das Fensterbrett gestellt, auf dem er saß, die Nase in ein Buch vergraben. Die Sonne, die durch die dicken Scheiben des Bibliotheksfensters fiel, ließ sein Haar blau wirken und seine Haut fast durchscheinend. Manchmal spielte Lavi mit dem Gedanken, dass sie beide eine besondere Beziehung hatten. Wem sonst würde er es gestatten, ihn beim Vornamen zu nennen? Der Rothaarige würde es nicht abstoßend finden. Und der Gedanken, dass er so etwas nicht durfte, störte ihn ebenfalls nicht. Oder vielleicht hatte Kanda auch einfach nicht richtig zugehört und protestierte deswegen nicht. Die Gedanken abschüttelnd, fuhr er fort: „Was ist Perfektion?“ Er bekam erneut ein Grunzen zur Antwort, was sein Verdacht, dass der andere nicht zuhörte, zu einer Gewissheit werden ließ. „Man, Yuu-chan! Wenn jemand mit dir redet, dann hörst du zu?!“ „Und warum sollte ich deinem unsinnigen Geschwätz zuhören?“ Dunkle Augen blickten ihn über den Buchrand hinweg an. „Weil das höflich ist! Außerdem kann man nicht miteinander reden, wenn nur der eine was sagt.“ „Und wer sagt, dass ich mit dir reden will?“ Die Augen kehrten zu der Seite zurück. Lavi ließ sich beinahe dazu verführen, ihm das Buch einfach wegzunehmen, stattdessen schnappte er sich einen Stuhl und zog ihn heran, um sich rücklings darauf zu setzen, keinen Meter von dem anderen entfernt. Er stützte den Kopf auf die verschränkten Arme, die er auf der Lehne abgelegt hatte. Kanda blickte auf, wohl wissend, dass er Lavi nicht mehr so schnell loswerden würde. Er bekam ein albernes Grinsen zur Antwort und eine Frage: „Was ist in Japan Perfektion?“ „Das, was es woanders auch ist.“, kam es knurrig zurück. „Und was ist es woanders?“ „Das solltest du selbst wissen.“ „Wenn ich es wüsste, würde ich dann fragen? Also. Was ist Perfektion?“ „Etwas, was du niemals erreichen kannst.“, kam die kurze Antwort, die sich noch weniger begeistert anhörte als die vorigen. „Yuu-chan! Das ist nicht fair!“ „Wer sagt, dass ich fair bin?“ „... Niemand.“, gab der Rothaarige zu und zog es vor, wieder zum ursprünglichen Thema zurückzukommen. „Und was siehst du in Perfektion?“ Das wurde mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert. „Seh ich aus wie ein Philosoph?!“ Mit vor Zorn blitzenden Augen blickte der Schwarzhaarige ihn an. „Nein.“ Lavi konnte es nicht lassen, während sich ein unverschämtes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Du siehst aus wie eine Puppe. Du weißt schon, diese hübschen Porzellanpuppen mit den Rüschenkl…“ Er duckte sich hastig unter dem Buch weg, das an das Regal klatschte, das einige Meter hinter ihm stand, und sprang auf um eilig davonzurennen. Kanda folgte ihm auf dem Fuße, wütend, mit brennenden Augen und hübscher denn je. Vielleicht hatten sie doch eine besondere Beziehung. Bei wem sonst würde Yuu derartig seine kalte, unveränderliche Maske fallen lassen? „Komm schon, Yuu-chan! Das wird lustig.“ Lavi hielt sich davon ab, den Arm des anderen zu packen, um ihn hinter sich herzuziehen, auch wenn er wusste, dass er auf eine andere Art keine Chance hatte, den Japaner dazu zu bringen, sie zu begleiten. Allen stand bereits in der Tür und sah nicht zu begeistert über die Versuche des Rothaarigen aus. Er und Kanda hatten während der gesamten Reise in das kleine Dorf, das der Ausgangspunkt für ihre Mission sein würde, versucht, sich aus dem Weg zu gehen, und dennoch waren sie sich mehr als fünf Mal in die Haare geraten. „Lass mich in Ruhe und verzieh dich. Moyashi wartet schon auf dich.“, war die spöttische Antwort. Von der Tür her kam ein leises Protestgemurmel, aber Allen schwieg, klug genug, keinen weiteren Streit vom Zaun zu brechen. „Du bist so langweilig, Yuu-chan! Komm, Allen.“ Lavi war sich Kandas bohrende Blicken wohl bewusst, als er sich herumdrehte, Allen am Arm packte und diesen hinter sich her zog, statt den Schwarzhaarigen. War Yuu eifersüchtig, weil er so einfach zurückgelassen wurde? Wenigstens ein kleines bisschen? Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss und sie trampelten die Treppe hinunter in den Schankraum, wo sie nicht ohne Begeisterung empfangen wurden. Sie plauderten mit den Besuchern des Wirtshauses, tranken – gut, Lavi trank, Allen versuchte, ihn nicht zu viel trinken zu lassen, was er jedoch nicht schaffte – und erzählten. Von Reisen, fremden, fernen Ländern, Leuten, die sie dort getroffen hatten, und ein bisschen von Akuma, aber weder Lavi noch Allen waren in Stimmung, großartig auf sie einzugehen. Dazu fühlten sie sich zu gut. Irgendwann wurden sie zum Pokerspiel eingeladen und Allen was sofort begeistert dabei. Lavi war zwar betrunken, aber nicht betrunken genug, gegen den Weißhaarigen Poker zu spielen, also lehnte er ab, leerte seinen Becher mit einem Zug, stand schwankend auf und erklärte: „Ohne Yuu-chan macht das sowieso keinen Spaß.“, ehe er eher schlecht als recht zur Treppe ging und hinaufstieg. Kanda saß in Hemdsärmeln auf dem Bett. Sein Mantel hing über einem der Stühle und er blätterte in dem Ordner mit ihrem Missionsauftrag. Sein Haar war aus dem üblichen Zopf gelöst und floss ihm über Schultern und Rücken. Er blickte auf, als Lavi in den Raum kam und zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Der Rothaarige ließ sich neben ihm auf das Bett plumpsen und erzählte: „Sie haben begonnen Poker zu spielen. Ich will verdammt sein, wenn ich gegen Allen, Allen von allen Leuten, Poker spiele. Ich mein, hast du ihn schon mal Poker spielen sehen? Es gibt niemanden, der ihn schlagen kann. In Poker, meine ich. Die armen Leute da unten werden sich wundern, wenn er ein Spiel nach dem anderen gewinnt. Es ist der reine Wahnsinn, gegen ihn Poker zu spie…“ „Geh ins Bett, du bist betrunken.“, wurde er rüde unterbrochen. Er merkte selbst, dass er es war, und Yuu sah aus, als wollte er ihn zwingen, ins Bett zu gehen. Vielleicht sollte er es einfach tun…? Dann tat er etwas, was er bei klarem, nicht von Alkohol verschleiertem Verstand niemals gemacht hatte. Er beugte sich vor und presste dem Schwarzhaarigen die Lippen auf den Mund, küsste ihm mit allem, was er aufbringen konnte. Kanda war einen Moment steif wie ein Brett, zu geschockt um etwas zu tun. Der Ordner rutschte aus seinen Händen und der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Für jemanden, der Süßigkeiten verabscheute, schmeckte er bemerkenswert süß. Dann schlossen sich seine Lider und er erwiderte den Kuss zögernd, beinahe versuchsweise, und schüchtern. Wer hätte gedacht, dass Kanda Yuu schüchtern war? Auf der anderen Seite – wie konnte er es nicht sein, wo er doch alle Menschen, die ihm zu nahe kamen, von sich stieß? Erst, als Lavi die Hand hob um die Finger in dem glatten, weichen Haar zu vergraben, riss er die Augen wieder auf, weit, unfokussiert und beinahe entsetzt. Dann sprang er auf und stieß den Rothaarigen dabei von sich, dass dieser vom Bett fiel. Kanda wirkte, als hätte er Angst, Panik sogar, aber Lavi konnte sich nicht vorstellen, warum? Da war kein Zorn in Yuus Blick, kein Abscheu, nur dieser gehetzte Ausdruck. Dann wandte er sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum. Er ließ dabei einen verwirrten Rotschopf zurück, der keine Ahnung hatte, was er aus der Situation machen sollte. Am Anfang schien es ihm gefallen zu haben und dann das?! Was sollte das? Man hatte doch keine Angst vor einem Kuss, vor körperlicher Nähe und seinen Freunden. Oder doch? Mit diesen Gedanken und dem Beschluss, herauszufinden, was es war oder zumindest, es zu ändern, kroch er ins Bett. Am nächsten Morgen war Kanda wieder da, kühl und abweisend wie immer. Lavi tat so, als hätte er den letzten Abend vergessen, und Yuu verlor kein Wort mehr darüber. Es roch nach Blut und Tod und Rauch. Irgendwo brannte ein Haus. Leute schrieen, während sie versuchten, das Feuer zu löschen, oder vor Panik. Das Gebrüll der Akuma war verstummt mit dem letzten, den Lavi gefällt hatte. Panik ebbte nicht so schnell ab, aber er hatte inzwischen Übung darin, derartiges auszublenden. Oft genug hatten sie in den engen Gassen von Dörfern gekämpft, zwischen Gebäuden und in Häuserschluchten. Dies war nur eine kleine Siedlung und keiner der hier lebenden Menschen hätte wohl je geglaubt, dass hier ein Kampf von Exorzisten und Akuma stattfinden würde. Lavi schnaufte und wischte sich Blut und Schweiß von der Stirn, verschmierte die rote Flüssigkeit jedoch nur noch weiter in seinem Gesicht. Wo war Yuu? Er wusste, der Japaner war ein exzellenter Kämpfer, aber die Akuma waren zahlreich gewesen und mit all den Zivilisten, die in Panik herumrannten. Er presste sich die Hand in die Seite, wo seine Kleidung zerfetzt und blutig war von einer klaffenden Wunde. Er brauchte einige Zeit, ehe er den Gesuchten entdeckte, und mit jeder Sekunde schossen ihm mehr besorgte Fragen durch den Kopf. Yuu stand einige Meter von ihm entfernt, über den Überresten eines wuchtigen, klauenbewehrten Akuma. Mugen schimmerte in einem kalten Blau. Hinter ihm kauerte ein junges Mädchen und durch seinen Körper hatten sich drei Krallen gegraben. Er taumelte und tastete nach den monströsen Fängen, um sie aus seinem Körper zu ziehen. Allerdings schwankte er dabei wie eine junge Buche im Wind und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Lavi war an seiner Seite, ehe er am Boden aufschlug, und fing ihn, um ihn vorsichtig zu Boden gleiten zu lassen. „Yuu?“ Der Boden war hart unter seinen Knien und er griff nach den kalten Fingern des Japaners um sie mit seinen zu verschränken. Der Händedruck wurde erwidert, wenn auch nur schwach. „La…ss mich, du I…diot.“, zischte der Schwarzhaarige schwach und stöhnte dann vor Schmerz auf. „Yuu…“ Natürlich wusste Lavi über Yuus Fähigkeit, schneller zu heilen als es menschlich möglich war und sich auch von den tödlichsten Wunden wieder zu erholen, doch den Schwarzhaarigen aufgespießt zu sehen auf den drei grässlichen Krallen, trug nicht zu seinem Seelenfrieden bei. Er schob Kandas zweite Hand von ihnen zurück. „Hier, lass mich das machen.“ In Gedanken daran, dass ein langsames Herauslösen seinem Kameraden nur noch mehr Schmerzen zufügen würden, packte er die erste und riss sie mit einem Ruck aus dem schlanken Körper heraus. Yuu schrie auf und seine Finger gruben sich in den Dreck der Straße und Lavi hatte das Gefühl, seine Finger würden unter dem Druck brechen. Aber er beklagte sich nicht, sondern forderte den Rothaarigen mit einer Kopfbewegung auf, mit der Angelegenheit fortzufahren. Lavi leckte sich über die Lippen, ignorierte die heftig blutende Wunde und packte die zweite Kralle. Kandas Stiefel scharrten durch den Dreck und ein Ruck ging durch seinen Körper, als Lavi an der zweiten Klaue riss. Diesmal stieß er nur ein gequältes Schnauben aus, aber der Druck seiner Finger war genauso stark wie beim ersten Mal. Auch die dritte Kralle machte nicht mehr Schwierigkeiten, aber Lavi konnte deutlich sehen, dass Kanda Schmerzen litt. Seine verkrampften Muskeln, der zu kräftige Händedruck und die gefurchten Brauen sagten das ihrige. Der Rothaarige blickte auf und starrte die junge Frau an, die noch immer zusammengekauert nicht weit entfernt von ihnen hockte und sich während der ganzen Sache nicht gerührt hatte. „Na los, worauf wartest du, zum Teufel?!“, blaffte er sie an. „Hol einen Arzt oder so was!“ Sie riss erschrocken die Augen auf, sprang aber auf die Beine und stürzte die Straße hinunter. Hoffentlich tat sie, was er ihr gesagt hatte… Yuus Finger waren kalt und sein Griff schwächer, aber sie ließen beide nicht los. Lavi hatte die Frage nach Perfektion nicht vergessen und während er im Orden war und die riesige Bibliothek zur Verfügung hatte, suchte er weiter. Über alles gab es irgendwo ein Buch und über etwas wie die Vollkommenheit würde sicher irgendwo zu finden sein. Aber alles, was er bis jetzt entdeckt hatte, war nutzlos für ihn. Mit einem Seufzen legte er den Wälzer, in dem er gerade gelesen hatte, zur Seite und stand auf. Seine Knochen krachten, als er sich streckte. Dann verließ er die Bibliothek schnellen Schrittes, genau wissend, wen er finden wollte, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Aber es gab immer etwas zu tun, wenn er bei Yuu war und sei es nur um ihn die Decke hochzutreiben. Nur – wo würde er ihn finden? Der erste Ort, wo Lavi nachsah, war der kleine Wald, in dem Kanda stets trainierte. Der zweite war Kandas Zimmer. Der dritte die Bibliothek. Dann ging er zur Mensa, aber eine schlanke, hoch gewachsene Gestalt mit nachtfarbenem Haar und tiefschwarzer Kleidung lenkte ihn von seinem Weg ab. „Hey, Yuu-chan! Gerade die Person, die ich suche!“ Als Antwort erhielt er nur einen finstern Blick. Kanda schien nicht besonders glücklich, ihn zu sehen. Aber das schien er nie und dennoch ließ er ihn niemals einfach stehen. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst?“, wollte er scharf wissen, aber Lavi ignorierte ihn. „Ich hab dich gesucht! Aber du warst nicht draußen im Wald und nicht in deinem Zimmer und ich bin fast verzweifelt.“ Der genervte Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen zeigte, dass dies ihm nicht unrecht gewesen wäre. „Aber dann hab ich dich gesehen und…“ „Und es gibt einen Grund dafür?“ Lavi ignorierte die rüde Unterbrechung, legte den Kopf schief und tat, als würde er nachdenken. „Nein, ich glaube nicht. Muss ich einen Grund haben, meinen Freund zu suchen?“ „Wer sagt, dass ich dein Freund bin?“ Kanda verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Seite. „Das muss doch niemand sagen, Yuu-chan! Das weiß man doch so!“ „Ach ja?“ „Klar!“ „Und?“ „Mir war langweilig und ich dachte, du könntest mich beschäftigen.“ Kandas Gesicht verfinsterte sich noch weiter. „Geh sterben.“ „So gemein, Yuu-chan. So kennen wir dich.“ Lavi grinste und starrte auf den Kleineren hinunter, musterte das fein geschnittene, leicht gerötete Gesicht, die vor Zorn blitzenden dunklen Augen, den finsteren Blick, mit dem er bedacht wurde, und der Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war beides, wahnsinnig und beherrschend zugleich. Diesmal war er nicht betrunken, aber er fühlte sich trotzdem beinahe so. Und es war so viel zwischen ihnen geschehen… Er beugte sich einfach vor und küsste Yuu, drängte ihn zurück, bis er an die Wand hinter sich stieß, ließ seine Finger über die schmalen Hüften gleiten und grub sie in den rauen Stoff der Hose. Der Japaner ließ es zu, erst erschrocken, dann willig und nachgiebig, während seine Hände fahrig über den Rücken des anderen glitten und Lavi seine Zunge zwischen seinen Lippen hindurch schob, und dann begann er den Kuss zu erwidern, unerfahren, aber so wild, wie man ihn sonst nur im Kampf kannte. Und sie beide schmolzen ineinander, ergaben sich völlig dem Kuss und einander… Ihre Lippen waren Feuer und Yuus Hände schmerzhaft in seinem Haar verkrallt. Der Kuss war tief und heftig und Kandas Lippen bluteten für einen Moment, als Lavi zu fest biss, und da waren Zungen und Bisse und Körper, die sich aneinander pressten, Seufzer und ein tieferes Grollen aus Yuus Kehle, das sich halb wie ein Knurren und halb wie Schnurren anhörte. Hungrig und sehnsüchtig und wütend zugleich, als wäre dies ein Krieg und nicht ihr zweiter Kuss. Und Lavi schoss nur noch ein einziger Gedanke durch den Kopf, ehe alles in einem Wirbel aus Gefühlen und Eindrücken verschwand. Dies war keine Perfektion, aber es war nahe dran. Wenn auch nur auf eine bestimmte Art. Die Räder des Zuges ratterten über die Gleise und das Ruckeln und Stoßen, wann immer sie über Unebenheiten fuhren, war mehr als unbequem. Sie waren beide erschöpft und angeschlagen von der langen Mission. Ihre Mäntel hingen in Fetzen und Lavi spürte bei jeder Bewegung den Schmerz durch seine rechte Schulter zucken wie die scharfen Krallen eines Raubtieres. Außerdem war er müde und wollte nur noch schlafen, aber die Polster waren viel zu hart und er würde auf diese sicher nicht schlafen können. Was für eine Schande! Er konnte die Stunden, die sie tatenlos hier herumsitzen würden, sicher gut verbringen können, in dem er den dringen benötigten Schlaf aufholte. Ein Gespräch kam ebenfalls nicht in Frage. Klar, er würde sich damit sicher die Zeit vertreiben können. Aber hier waren nur er und Yuu und sonst niemand und wie er zu seinem Leidwesen wusste, war Kanda kein großer Redner und damit kein guter Gesprächspartner. Er war es vor allem nicht, wenn er müde und halb verletzt war und gerade von einer Mission kam, nach der er nur noch schlafen wollte. Wahrscheinlich würde er sogar hier im Zug schlafen können, allerdings war er zu misstrauisch dafür, also würde er erst ruhen, wenn sie im Hauptquartier waren. Lavi hatte solcherlei Bedenken nicht, aber die Unbequemlichkeit hielt ihn von einem guten Nickerchen ab. Zuplappern wollte er den Schwarzhaarigen auch nicht. Erschöpft war dieser noch reizbarer als sonst schon und Lavi fühlte sich nicht im Stande, Mugen auszuweichen, und während der letzten Stunden hatte er sicher genug gequengelt. Aufstehen und sich jemand anderen suchen kam auch nicht in Frage. Dafür war er. Viel. Zu. Müde. Vielleicht sollte er sich doch einfach hinlegen und schlafen? Er hatte schon an schlimmeren Orten geschlafen. Wenn er sich einfach hier quer über den schmalen Sitz legte. Und vielleicht seine Jacke als Kissen verwendete? Auch wenn ihm dann kalt wurde… Aber er konnte noch nie nur mit seinem Arm unter dem Kopf schlafen. Nein, das ging auch nicht. Die Jacke hatte zu viele Knöpfe und Reisverschlüsse, was sie knubbelig und hart machte und gar nicht gut für seinen armen Schädel. Mit einem ärgerlichen Seufzen richtete er sich wieder auf und schlüpfte in das Kleidungsstück zurück. Jetzt war ihm wenigstens nicht mehr kalt. Kanda hatte seinen Versuch mit halbherzigem Interesse verfolgt und konnte sich jetzt ein leichtes, aber durch und durch gehässiges Grinsen nicht verkneifen. So in die Ecke sitzend sah der Japaner so erschöpft und fertig aus wie Lavi sich fühlte. Aber… Er sprang auf und ließ sich neben den Schwarzhaarigen auf den Sitz plumpsen, was ihm jetzt doch eine misstrauisch hochgezogene Augenbraue einbrachte. Sollte er auch… Der Rothaarige ließ sich zur Seite sinken, legte den Kopf auf den Schoss des anderen und streckt sich auf der Sitzbank auf. Nun, das war bequemer. „Was… glaubst du, tust du da?“ „Ich versuche zu schlafen, Yuu. Bitte?“ Er versuchte es mit den besten Hündchenaugen, die er zustande brachte, aber Kandas irritierter Blick zeigte deutlich, dass es nichts brachte. Er fing die Hände des anderen gerade noch, ehe er auf dem Boden landete. „Komm schon, Yuu. Ich erzähl auch niemandem weiter, dass du mal freundlich warst zu mir. Hab ich das je?“ Sein Ton wanderte bei dem letzten Satz ins Anzügliche. Dabei grinste er in das finster dreinblickende Gesicht über sich und konnte sich ein Lachen gerade noch verkneifen, als er die Röte entdeckte, die über die hübschen Züge des Japaners glitt. Dieser blickte rasch auf und aus dem Fenster in einem vergeblichen Versuch, sie zu verstecken. „… Also schön.“ Lavi traute seinen Ohren kaum. Wer hätte gedacht, dass er den anderen so schnell überredet bekam? Aber er würde den Teufel nicht herausfordern, also schwieg er und versuchte, einzuschlafen. Es gelang ihm schneller, als er gedacht hatte. Der Geruch von Sex und Schweiß hing in der Luft und mischte sich mit dem Keuchen und Stöhnen zweier junger Männer und den Geräuschen ihrer aneinander reibender, nackter Körper. Sie hatten die Finger je einer Hand ineinander verschränkt, als wollten sie nie wieder loslassen, während die andere suchend und forschend über nackte Haut glitt, streichelte, liebkoste. Langes, schwarzes Haar lag wie ein Fächer über die weißen Lacken ausgebreitet und Lavis kürzere, flammend rote Strähnen fielen über seinen Nacken und seine Stirn und glitten über den Körper unter ihm, während er Küsse über ihm verteilte. Yuu unter sich zu fühlen, mit nichts um ihn zu bedecken als dem langen, seidigweichem Haar, das nun unter ihm lag, war purer, reiner Wahnsinn. War ein Gefühl, das zu groß für ihn war, so groß, dass er es gar nicht erforschen, sondern nur spüren wollte, weil er vermutete, er würde sonst verrückt werden. Außerdem hatte er keine Zeit dafür, wen interessierte ein Gefühl, wenn Yuu hier war und ihn mit lustverhangenen Augen anblickte, sich seinen Berührungen entgegenreckte, ihn in sich aufnahm ohne einen Protest, das schöne Gesicht nicht verzogen zu einem abweisenden Ausdruck, sondern durch und durch ein Mienenspiel von völliger leidenschaftlicher, selbstvergessener Lust, mit kussgeschwollenen Lippen, halb geschlossenen Augen und geröteten Wangen. Sie waren ein Durcheinander aus langen Gliedern, dunklem Haar, hellen Laken und Küssen, Berührungen und heiserem Stimmen, die sich nicht über ein Flüstern erhoben, ein raues Wispern, während sie ihrem Höhepunkt entgegentrieben. Geschmeidige Beine umschlangen seine Hüften und brachten sie noch näher zusammen, und warme, schwielige Finger schlossen sich enger um seine Hand, als wollten sie nie wieder loslassen. Yuu bog sich ihm entgegen und stieß ein ersticktes Fauchen, als er kam, und sein gesamter Körper schien sich enger um Lavi zu schließen, was auch ihn über die Klippe schickte. Minuten später lagen sie halb nebeneinander, halb aufeinander im Bett und Kanda ließ bereitwillig zu, dass er ihn mit einem Arm an sich zog. Die Finger ihrer anderen Hand hatten sich nie getrennt. Yuu ließ ihn auch nicht los, als er langsam einschlief, während sie gemeinsam in der dämmrigen Dunkelheit lagen und ihrem Atem lauschten. Und Lavi dachte ebenfalls nicht daran, sie loszulassen. Ihm fiel das Gespräch ein, dass sie vor Monaten geführt hatten, jenes Gespräch, in dem er die Frage nach Perfektion gestellt hatte. Die matte, aber erfüllte Schläfrigkeit, Yuus Kopf auf seiner Schulter, den muskulösen Arm über seiner Brust und ihre verschränkten Finger, sein eigener Arm, der den anderen umschlungen und eng an ihn gepresst hielt, Yuus Atem, der ruhig über seine nackte Haut fächerte, ihre ineinander verschlungenen Beine, die völlige Sorglosigkeit, die ihn erfüllte. Da alles andere bis morgen warten konnte, bis zu einem Tag, der niemals anbrechen würde, denn dies fühlte sich an wie die Ewigkeit. Und er fragte sich: War dies Perfektion? Die Lichter von Kerzen und Gaslampen erhellten die Bibliothek, während der Himmel draußen schwarz war vor Gewitterwolken und der Regen so heftig gegen die Scheiben prasselte, dass sie klirrten. Lavi störte sich nicht an dem Sturm, der um das Ordensgebäude tobte, sondern war total vertieft in das Buch, das er vor sich liegen hatte. Um ihn herum auf dem Tisch, hinter dem er hockte, stapelte sich weiterer Lesestoff, von schlanken Heften bis hin zu dicken, ledergebundenen Wälzern, denen man das Alter ansehen konnte. Bookman hatte ihm vor ein paar Tagen eine Aufgabe gegeben und er war dabei, sie zu erfüllen. Außerdem hatte er so eine Möglichkeit, sich von Yuus Abwesenheit abzulenken und sich der bohrenden Langeweile zu entziehen, die ihn seitdem quälte. Er hoffte nur, dass es dem anderen gut ging und er einen wasserdichten Unterschlupf gefunden hatte. Dieses Wetter dort draußen war zum Fürchten, wenn man sich nicht hinter dicken Mauern befand. „Hallo, Lavi.“ Linalis Stimme riss ihn aus seiner Lektüre und er blickte auf. Sie stand ihm gegenüber hinter dem Tisch und lächelte ihn an. „Yo, Linali.“ Er grinste zurück. „Was gibt’s? Hat Komui wieder einen Auftrag für mich?“ Sie winkte ab. „Nein. Ich suche Allen, hast du ihn vielleicht gesehen?“ „Nein. Ist wahrscheinlich wieder in der Mensa.“ Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, spielte mit einem der Bücher, die vor ihr lagen, blätterte darin herum. „Scheint ja sehr interessant zu sein.“, sagte sie, hörte sich aber an, als meinte sie das Gegenteil. Lavi lachte. „Sind sie nicht. Aber der alte Panda bringt mich um, wenn ich’s nicht lese.“ „GeGe wird Allen wieder auf eine Mission schicken.“, erklärte sie leise und in ihrer Stimme schwang ein unbestimmter Ton mit. Sie sprach nur die Hälfte aus von dem, was sie dachte, aber mehr brauchte sie nicht zu sagen. „Bist du auch besorgt?“ „Nein. Yuu kann auf sich selbst aufpassen.“ Sie zog eine Augenbraue hoch, als wüsste sie, dass er log, ging aber nicht darauf ein. „Bist du auch einsam?“ „Warum sollte ich? Allen und du und die anderen, ihr seid doch alle hier.“ Aber Yuu fehlte ihm dennoch, wenn er nicht da war. Und Linali wusste es. Aber wieder ließ sie es unter den Tisch fallen und schwieg nur betrübt. Er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand in seine. Ihre Finger wirkten so zart in seiner viel größeren Hand. „Allen wird wieder zurück kommen. Er wäre nicht Allen, wenn er es nicht tut.“ Er lachte. „Allen hat eine Entschlossenheit, die ihn aus seinem Grab holen würde, nur um nach Hause zurückzukehren.“ Sie lachte, aber dann wurde sie wieder ernst. „Sag so was nicht. Du weißt, was Leute, die aus ihren Gräbern kommen, sind.“ Manchmal machte er Witze, die gar keine waren, also schwieg er. „Aber einsam fühlen musst du dich trotzdem nicht, wenn er weg ist. Er wird an dich denken. So ist er eben.“ Jetzt lächelte sie wirklich. „Ich bin nicht einsam. Und du bist es auch nicht.“ Und damit hatte sie Recht. Linali hatte Allen. Und er hatte Yuu. Krachend traf der Hammer die Brust des Akumas, zertrümmerte sie und schleuderte das Wesen nach hinten. Aber Lavi hatte keine Zeit, auszuruhen. Hastig riss er den Griff herum und wehrte einen Schlag ab, drosch auf das nächste Ziel ein und holte erneut aus. Eine Hand traf ihm gegen die Brust und schleuderte ihn herum. Hart schlug er auf dem Boden auf. Die Wucht des Aufpralls presste die Luft aus seinen Lungen und für einen Moment war sein Blickfeld erfüllt von blitzenden Lichtern. Der Hammer war während seines Sturzes seinen Fingern entglitten und landete nur wenig entfernt von ihm im Dreck und er tastete nach ihm, während er Matsch ausspuckte und versuchte, das Akuma zu sehen, das ihn getroffen hatte. Erschrocken riss er sein Auge auf, als den Schatten des Wesens sich über ihn beugte und dann schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er hier sterben würde, die Finger nur Zentimeter von seiner Waffe entfernt, im Dreck und unfähig, sich zu rühren. Yuu war beinahe eine Silhouette vor dem Himmel, ein Schatten vor dem endlose Blau. Sein gesamter Körper war angespannt, eine Feder, bevor sie hochschnellte, oder eine Bogensehne, bevor der Pfeil präzise davonflog. Einen Moment wirkte es so, als würde er fliegen, die Beine angezogen und die Arme ausgebreitet wie Schwingen. Mugen war wie silbernblaues Licht im Schein der Sonne, das sich auf der Klinge spiegelte. Seine Haut war blass wie Porzellan und Blut aus einer längst verheilten Wunde hatte Bahnen über sein schönes Gesicht gezogen. Sein Haar war blau und schwarz und wie ein plötzlicher, brutaler Strich Tinte auf einem schneeweißen Papier. Seine dunklen Augen brannten. Lavi lag im Dreck, Erde im Mund und die Finger in den Matsch gegraben, wenige Zentimeter vom Griff seines Hammers entfernt, einen Wimpernschlag vom Tod entfernt und er dachte, dass er noch niemals etwas derartig Vollkommenes gesehen hatte. Dies war Perfektion. Ein Herzschlag lang, einen Augenblick lang war es, als würde sich das gesamte Universum auflösen und neu zusammensetzen, nur um sich um diesen perfekten Augenblick, diese perfekte Konstellation zu drehen. Dann zog Kanda sein Schwert herum, seine Arme überkreuzten sich einen Moment vor seinem Körper und er schlug zu. Die Welt kam beinahe gewaltsam wieder in den richtigen Fokus zurück. Mugen beschrieb einen fließenden Bogen und die Klinge grub sich tief in das Akuma, floss hindurch, dass die beiden Teile des entstellten Körpers auf dem Boden aufschlugen, einen winzigen Augenblick, bevor Kandas Stiefel den Boden berührten, und er vor dem gefallenen Rothaarigen aufkam, während Matsch aufspritzte, und zu ihm hinunterblickte, der Ausdruck in seinem Gesicht steinern und unleserlich wie immer. „Steh auf, du Idiot! Bleib da liegen und du stirbst. Noch einmal helfe ich dir nicht hier raus.“ Lavis Finger schlossen sich wieder um den Griff seines Hammers und er rappelte sich auf. Eigentlich hätte diese Situation eine joviale Antwort von ihm erfordert, aber alles, was er schaffte, war ein Lächeln, das überhaupt nicht jovial oder lässig war oder all das, was Lavis Grinsen beinhalten sollte. Aber seine Welt taumelte noch immer unter dem Schlag, den sie abbekommen hatte. Also drehte er sich um und schwang seinen Hammer, ohne auch nur die Hoffnung zu haben, einen solchen Ausdruck im Gesicht jemand anderes zu sehen. „Ne, Yuu.“ Sie waren beschmiert mit Blut und Matsch und Kanda humpelte wegen des langen Schnittes, der sich seinen rechten Oberschenkel entlang zog. Lavi weigerte sich, den einen Arm zu bewegen, wo sein Gefährte die Reste des Ärmels zerrissen und als Verband für die lange Wunde verwendet hatte. Einige Strähnen von Yuus Haar wehten im Wind, andere waren verklebt von Blut und hingen schwer nach unten. Blut und Schlamm malten ein grässliches Mosaik in Lavis Gesicht. Sie waren mehr als zwei Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt und hinter ihnen lag ein Schlachtfeld mit ungezählten Akumaüberresten. Und dennoch gab es für ihn momentan nichts Wichtigeres als Yuu jenes eine Erlebnis mitzuteilen. Er erhielt nur ein unbestimmtes Grunzen als Antwort. „Weißt du…“ Der Schwarzhaarige wandte den Kopf und zog eine elegant geschwungene Augenbraue nach oben. Lavi beugte sich nach vorn und presste ihre Lippen gegeneinander, nur für einen Moment. Yuu schmeckte nach Dreck, Blut und Tod. „Ich habe Vollkommenheit gesehen.“, flüsterte er gegen die Lippen des anderen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)