Feuervogel von abgemeldet (Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt) ================================================================================ Kapitel 5: Mythos und Wirklichkeit ---------------------------------- Eines Nachmittages, nicht lange nach seinem Geburtstag, trieb sich Seth wieder einmal am Flussufer herum. Er hatte einige Fische gefangen, lag nun ausgestreckt auf dem Rücken und starrte in den wolkenlosen, blauen Himmel über ihm. Neben ihm saß Merenseth in ihrer menschlichen Gestalt und schien völlig darin versunken das träge dahin fließende, braungrüne Wasser des Nils zu beobachten. „Wie ist es eigentlich zu fliegen?“, beendete Seth schließlich mit schläfrig verträumter Stimme die einträchtige Stille zwischen ihnen, während er blinzelnd dem kreisenden Flug zweier Vögel zusah. Merenseth hatte bei dieser Frage ihr Gesicht dem Jungen zugewandt, schwieg für einen Moment nachdenklich und erwiderte dann: „Es ist Freiheit. Losgelöst sein von allem, was versucht einen in Ketten zu legen.“ Daraufhin schwiegen die Beiden erneut für einen kurzen Augenblick, bevor Merenseth ihren Worten hinzufügte: „Würdest du gern fliegen wollen?“ Verwundert wandte Seth seinen Kopf zu dem Benu und erkundigte sich: „Geht das denn?“ Statt einer Antwort erhob sich das Mädchen, nahm ihre Vogelgestalt an und schwang sich mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Verwundert hatte Seth sich aufgerichtet, während er zusah wie der glutfarbene Vogel zu wachsen begann. Als Merenseth in etwa die Größe eines ausgewachsenen Löwen erreicht hatte, ließ sie sich Richtung Erde sinken, packte Seth mit ihren Krallen vorsichtig an den Schultern und warf ihn im nächsten Moment hoch in die Luft, sodass er sich überschlug. Seth war von den Vorgängen viel zu überrascht gewesen, als dass er hätte einen Laut von sich geben können. Als er jedoch spürte, wie er immer schneller Richtung Boden sauste, keuchte er erschrocken auf und versuchte instinktiv diesem Fall irgendwie entgegen zu wirken, so aussichtslos dieses Unterfangen auch sein mochte. Seine Angst erwies sich schnell als unbegründet, denn nur einen Wimpernschlag später, landete er weich auf Merenseths Rücken und fühlte, wie er höher und höher hinauf getragen wurde. Etwas beunruhigt vergrub Seth zunächst sein Gesicht im Gefieder des Benu und krallte krampfhaft seine Finger um die glutfarbenen Federn. Je länger sie jedoch ruhig und gleichmäßig dahin flogen, umso mutiger wurde auch der Junge, setzte sich auf dem Rücken des Feuervogels auf und blickte um sich, sah hinab auf die Erde, die nun klein und weit weg erschien; ließ die Federn los, breitete die Arme aus und genoss mit geschlossenen Augen das Erlebnis zu fliegen. Ein kurzes Tschilpen Merenseths ließ ihn schließlich die Augen wieder öffnen, da er nicht wusste, was der Vogel als nächstes vorhatte, hielt er sich vorsichtshalber wieder an den Federn fest und umklammerte mit den Beinen den Vogelkörper, wie er es beim Pferdereiten gelernt hatte. Darauf schien der Benu nur gewartet zu haben, denn im nächsten Augenblick wandte er sich in einem steilen Sturzflug Richtung Boden, der Seth den Atem nahm und ihn zwang die Augen zu schließen. Nur wenig später landeten die beiden sanft wieder auf der Erde und Seth kletterte mit etwas wackligen Beinen von seinem Begleiter herab, sich anschließend umsehend, wo sie sich denn überhaupt befanden. Es handelte sich um einen großen Innenhof, der durch künstlich zugeleitetes Wasser in einen üppig blühenden Garten verwandelt worden war. Während Seth sich umsah, hatte der Vogel wieder seine menschliche Form angenommen und erklärte, die entsprechende Frage vorwegnehmend: „Das ist der Tempel von Nubet.“ Anschließend wandte sie sich um und ging auf eine einfache Tür aus schwerem, dunklem Holz zu, den Jungen dabei auffordernd ihr zu folgen. Widerspruchslos gehorchte Seth, während er noch die Tatsache zu verdauen versuchte, dass er sich nicht nur in Nubet befand, dem Ort an dem sich das Orakel des Gottes Seth befand, sondern auch dass sie sich im Inneren der Tempelanlage befanden – etwas, das einfachen Menschen wie ihm streng untersagt war. Nur Priester, sehr hohe Beamte und der König selbst durften das Innere der Tempel betreten, alle anderen verrichteten ihre Gebete vor den Türen. Dementsprechend neugierig war Seth, heraus zu finden, wie es im Inneren eines Tempels aussehen mochte. Dunkel, wie Seth im ersten Moment enttäuscht feststellte, bevor sich seine Augen nach dem gleißenden Sonnenlicht allmählich an das schummrige Dunkel gewöhnten, das nur von Schalen brennenden Öls erhellt wurde. Dem Öl in den Schalen waren Kräuter beigemischt worden, die beim Verbrennen einen schweren Duft freiließen, der sich überall im Tempel ausgebreitet hatte, das Atmen erschwerte und ein merkwürdiges Schwindelgefühl im Kopf erzeugte. Die Wände der Gänge und der ineinander übergehenden Säle waren sorgfältig bemalt und mit Hieroglyphen versehen worden. Sie erzählten von der Größe des Gottes Seth, von seinen guten und seinen schlechten Taten. Davon, wie er als Herr Oberägyptens dieses Land beschützt hatte und es als Herr der Wüste zum Blühen brachte. Davon, wie er seinen Bruder Osiris zum Herrn der Unterwelt werden ließ und gegen dessen Sohn und seinen Neffen im Kampf unterlag und ihm Oberägypten als Herrschaftsgebiet überlassen musste. Es gab Bilder von Oasen in sattem Grün, die durch den Willen Seths lebten, Bilder des Meeres in leuchtendem Blau, wie es nach dem Willen Seths die Frevler strafte und die Gerechten in den sicheren Hafen führte, Bilder, die zeigten wie Seth über Stürme und Unwetter gebot; mit seiner Schwestergemahlin Nephtys zusammen Huldigungen entgegennahm und Segen spendete. Aus einem der Räume der Tempelanlage erklang entfernt und leise ein dumpfer Gesang, während die Priester offenbar ihre Opferdienste versahen. Zugleich hatte Merenseth auf Seths Aufforderung hin mit ruhiger Stimme die Inschriften vorgelesen – Hymnen auf die Größe und Stärke Seths und Bitten um sein Wohlwollen. Fasziniert von dieser unwirklich erscheinenden Situation betrachtete Seth die Bilder an den Wänden, die vom Schein der brennenden Öllichter erhellt wurden und lebendig zu werden schienen, wenn ein Luftzug das Feuer flackern ließ. Lauschte der Stimme Merenseths und dem fernen Gesang und entschloss sich ebenso stark zu werden wie der Gott, dessen Namen er trug. Sich nicht von seinem Weg abbringen zu lassen und das, was ihm wichtig war um jeden Preis zu schützen. Schließlich setzten Seth und seine Begleiterin ihren Weg fort und erreichten einige Zeit später den innersten Raum des Tempels, in dem sich das Orakel befand, das die Priester im Auftrag von Bitttellern befragten, dessen Antworten sie deuteten und sie anschließend den Fragenden mitteilten. – Selbstredend gegen ein entsprechendes Entgelt. Es handelte sich um einen hohen, kahlen Raum, der zum Großteil von einem künstlich angelegten Wasserbecken eingenommen wurde, Ein- und Ausgänge sorgten für eine gewisse Wasserströmung, sodass die schmalen, herrenlosen Barken auf dem Wasser ziellos dahin trieben. Aus der Stellung dieser Boote lasen die Priester die Antworten ab, nach einem System, das nur mündlich von einem Priester zum nächsten weiter gegeben wurde. Seth hätte ebenfalls gern eine Frage an das Orakel gerichtet, aber zum einen war ihm unbekannt, wie die einzelnen Barkenstellungen zu deuten waren, zum anderen befanden sich einige Priester in dem Raum, die mit der Befragung des Orakels beschäftigt waren. Neugierig schob sich Seth etwas weiter in den Raum hinein, um die Vorgänge besser beobachten zu können, als ihn auch schon im nächsten Moment einer der Priester entdeckte und rief: „Was machst du hier? Sieh zu, dass du von hier wegkommst und wage es nicht noch einmal diesen Ort zu entweihen!“ Wohlweislich zog sich Seth schleunigst zurück, besser den Mann in dem Glauben lassen, er gehöre in den Tempel und würde in diesem ausgebildet werden, andernfalls würde dieser Ausflug für ihn üble Folgen haben. So machten sich Merenseth und ihr Besitzer auf den Rückweg, verneigten sich ehrerbietig vor einer tempelhohen Steinstatue des Gottes, um ihn sicherheitshalber gnädig zu stimmen und verließen schließlich den Tempel wieder durch den Innenhof, so wie sie gekommen waren. Auf ihrem Rückweg in das Dorf überquerten sie erneut einen Teil der Wüste und als Seth hinab blickte entdeckte er zwei winzige Punkte, die sich langsam zu bewegen schienen. Er bat den Benu etwas tiefer zu fliegen, um sich diese Punkte näher ansehen zu können und erkannte schließlich, dass es sich bei diesen Punkten um zwei, in Tücher gehüllte Menschen handelte, die sich vollkommen allein und ohne jedes Gepäck langsam durch den heißen Sand der Wüste kämpften. Verwundert über diesen Anblick, ließ Seth den Vogel nicht weit von den Wanderern landen und lief anschließend auf die beiden Menschen zu, die verängstigt stehen geblieben waren und ihn wachsam musterten. Seth konnte nun erkennen, dass es sich bei den beiden Wanderern um eine Frau, die etwa so alt wie seine eigene Mutter war, und ein Mädchen handelte, das zwei oder drei Jahre jünger als er sein mochte, die Frau hatte das Mädchen schützend hinter sich geschoben, während sie misstrauisch abwechselnd auf den Benu und den Jungen vor sich sah. Als jedoch weder Seth noch sein Vogel Anstalten machten Frau und Kind anzugreifen, entspannte sich die Frau etwas und erwiderte auf Seths Frage, was sie in der Wüste täten: „Wir wollen zum Dorf meines Bruders.“ „Völlig allein?“, Seth klang erstaunt selbst die Kleinsten lernten bereits, dass es eine sehr dumme, meist sogar tödliche Idee war der Wüste ohne jede Begleitung die Stirn bieten zu wollen. Die Frau wirkte angesichts dieser Frage merkwürdig verbittert, während sie antwortete: „Es blieb uns ja wohl keine andere Wahl“, nur um sich im nächsten Moment auf die Lippe zu beißen, als sie sich dem erstaunten Blick des Jungen ausgesetzt sah. Da die Frau offenbar nicht erklären wollte, warum und wie sie in diese Lage geraten war, blickte Seth von ihr zu dem kleinen Mädchen und sah sich einem schüchtern, ängstlichen Blick aus blauen Augen gegenüber. Für einen Moment erwiderte der Junge diesen Blick ruhig und gleichmütig, drehte sich dann herum, lief die wenigen Schritte zu Merenseth und fragte sie, ob sie zusätzlich zu ihm noch die Frau und das Mädchen auf ihrem Rücken tragen könnte. Mit einem Neigen des Kopfes und einem kurzen Tschilpen bejahte Merenseth dies und wuchs noch einmal ein kleines Stück in die Länge, während Seth zu der Frau zurückkehrte und ihr den Vorschlag machte, sie und das Mädchen in das Dorf ihres Bruders zu fliegen. Im ersten Moment wirkte die Frau überrascht, lehnte dann jedoch hastig ab. „Du brauchst keine Angst haben, es ist nicht gefährlich und zum Dorf deines Bruders zu fliegen ist sehr viel sicherer als zu versuchen zu Fuß dahin zu gelangen“, erklärte Seth der Frau mit entschiedenem Ernst, die ihn daraufhin unschlüssig musterte, hinüber zu dem gelassen wartenden Vogel sah und schließlich erwiderte: „Also gut, du hast sicher Recht… Du scheinst auch einer von ihnen zu sein.“ Jetzt blickte Seth die Frau erstaunt an, „von ihnen?“ „Einer von denen, die Dämonen beherrschen“, erwiderte die Frau leise und müde, zugleich auf den Benu weisend. Seth musste lächeln, „Merenseth ist kein Dämon. – Kommt jetzt, es wird spät“, damit wandte er sich um und lief den Beiden voraus, bei seinem Benu auf sie wartend, um ihnen hinauf zu helfen. Sobald auch Seth selbst auf dem Rücken seines geflügelten Gefährten saß und die Frau auf seine Frage hin, den Namen des Dorfes genannt hatte, in dem ihr Bruder lebte, erhob sich Merenseth sanft in die Luft. Es dauerte nicht lang und der Benu landete wieder, unweit des Dorfes, in das die Frau wollte. Nachdem Seth Frau und Kind beim Absteigen behilflich war und sie ein kleines Stück in Richtung Dorf begleitet hatte, um sicher zu gehen, dass ihnen nicht doch noch etwas zustieß, verabschiedete er sich und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als ihn die Frau plötzlich fragte: „Wie heißt du eigentlich?“ Mit unverkennbarem Stolz in Haltung und Blick antwortete der Junge, während er sich bereits abwandte: „Ich bin Seth.“ Mit vor Staunen weit geöffneten Augen sah die Frau dem sich entfernenden Jungen hinterher, der kurze Zeit später auf seinem glutfarbenen Reittier davonflog. Der Herr der Wüste selbst hatte ihr und ihrer Tochter geholfen?! Vielleicht war ihre Kleine doch nicht verflucht, wie alle in ihrem Dorf angenommen hatten, sondern stand tatsächlich unter dem besondern Schutz der Götter - oder doch zumindest eines Gottes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)