Feuervogel von abgemeldet (Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt) ================================================================================ Kapitel 10: Mukisanu -------------------- Seth und sein unbekannter Retter waren eine ganze Weile durch die Straßen Hattuschas gehetzt immer auf der Flucht vor den Häschern der Tawananna, hatten sie sich an Menschen und Marktständen vorbei geschlängelt, sich zwischen Mauern hindurchgezwängt, waren über Zäune gesprungen, über Dächer geklettert und letztendlich in einer zeltartigen Behausung am anderen Ende Stadt angekommen, die sich auf dem Dach eines leerstehenden, bereits langsam verfallenden Hauses befand. „Mach’s dir bequem, hier sind wir sicher. Die Anderen kommen bestimmt auch bald“, lauteten die Worte des dunkelhaarigen Jungen, während er sich auf eine der aus alten Säcken und Lumpen improvisierten Schlaf- und Sitzgelegenheiten fallen ließ und sich anschließend mit einem fröhlichen Funkeln in den Augen genüsslich streckte. „Das hat Spaß gemacht. – War gar nicht so übel, wie du dich gegen die Wächter gehalten hast. Mich hätten sie auch mal beinahe erwischt, aber da war die Mauer noch nicht so hoch.“ Ein unverkennbar stolzes Grinsen war auf dem Gesicht des Jungen zu sehen, als er daran dachte, dass die Mauer um den Garten der Tawananna aufgrund seiner häufigen Besuche dort ihre jetzige Höhe erhalten hatte. Auch Seth hatte inzwischen auf einem der herumliegenden Säcke Platz genommen und fragte nun, ohne auf die Worte des Jungen einzugehen: „Wer bist du? Und warum hast du mir geholfen?“ Noch immer grinste der Junge, während er sich mit einem Finger kurz unter der Nase entlang rieb, blinzelte und erwiderte: „Ich bin Mukisanu. Eigentlich wollte ich aus dem Garten der Tawananna Obst holen, wir hatten diese Woche nicht viel Glück beim Essen. Aber nach dem Aufruhr den du verursacht hast, werden sie eine Weile ziemlich wachsam sein…“ Was wohl praktisch bedeutete, dass Seth diesem Jungen und seinen unbekannten Kumpanen gerade eine Nahrungsquelle abgedreht hatte. Da Seth sich nicht entschuldigen wollte und nicht wusste, wie er sich bei dem Jüngeren bedanken sollte, sah er sich in der luftigen, kärglich eingerichteten Behausung um und erkundigte sich: „Lebst du hier?“ Die Antwort bestand lediglich in einem stolzen Nicken Mukisanus, hatte er sich dieses Heim doch zusammen mit seinen Freunden ganz allein aufgebaut. „Wo sind denn deine Eltern?“, wollte Seth neugierig geworden als nächstes wissen. Mukisanu zuckte in gespieltem Gleichmut die Schultern und erwiderte scheinbar gelassen „Tot, denke ich. Jedenfalls sind sie mir schon seit einer ganzen Weile nicht mehr begegnet.“ Sowohl um von dem Thema Eltern abzulenken, als auch weil er es wirklich wissen wollte, erkundigte sich Mukisanu anschließend nach Seths Namen und woher er käme. Als Mukisanu hörte, dass Seth aus Kemet stammte, wunderte er sich nicht darüber, warum dieser allein in Hattuscha unterwegs zu sein schien, sondern stellte lediglich etwas gönnerhaft fest: „Dafür das du nicht von hier bist, kannst du richtig gut Nesisch.“ Auf diese Bemerkung hin starrte Seth Mukisanu wütenden an, was diesen jedoch nicht weiter zu beeindrucken schien, denn er sah den älteren Jungen lediglich mit geduldiger Neugier an, darauf wartend eine Erklärung für Seths Sprachgewandtheit zu bekommen. Angesichts des Gesichtsausdrucks Mukisanus schwand Seths Unmut dahin und er ließ sich mit einem Schulterzucken zu der Erklärung herab: „Meine Mutter stammt von hier. Als ich jünger war, hat sie ein ganze Weile nur Nesisch mit mir gesprochen.“ Was Seth nicht erzählte, wohl weil er es nicht wusste oder nicht erzählen wollte, war die Tatsache, dass seine Mutter dies aus purem Trotz gegenüber Seths Vater getan hatte, nachdem dieser Frau und Kind sich selbst überlassen hatte. Denn Akunadin hatte seiner Frau zuvor stets verboten in ihrer Muttersprache mit ihrem Sohn zu reden. Etwas wie Neid und Sehnsucht war kurz in den Augen Mukisanus aufgeflackert, als Seth von seiner Mutter sprach, verschwand aber sofort wieder, als mit einigem Getöse vier weitere Jungen, in etwa dem gleichen Alter wie Mukisanu, in das Versteck stürmten und auf diese Weise das Gespräch der anderen beiden Jungen unterbrachen. Abrupt hatten die vier Neuankömmlinge beim Anblick des fremden Jungen in ihrem Versteck innegehalten und starrten diesen nun an, während sie gleichzeitig zu wissen verlangten, wer der Junge denn war. „Das ist Seth. Er ist unser Gast, solange er möchte“, erklärte Mukisanu den anderen Vier bestimmt und sorgte auf diese Weise augenblicks für verblüffte Stille. Dann jedoch meldete sich murrend der schlaksigste der vier Jungen zu Wort: „Warum sollen wir ihn mit durchfüttern? Wir kennen ihn überhaupt nicht und viel Platz ist hier sowieso nicht.“ Gleichzeitig hatte der kräftigste der Jungen halb flüsternd an den Jungen neben sich gewandt festgestellt: „Ich hab gehört, dass sie in der Stadt nach einem Jungen mit braunen Haaren und fremdländischer Kleidung suchen, er soll den Lieblingsvogel der Tawananna gestohlen haben. – Die Beschreibung würde doch auf ihn passen.“ Bei seinen letzten Worten hatte der Junge mit dem Kinn auf Seth gewiesen, der nun prüfend von den vier unbekannten Jungen betrachtete wurde. „Wer weiß, ob das stimmt“, warf nun wieder der schlaksige Junge ein, der zuerst das Wort ergriffen hatte, „vielleicht ist er auch nur ein Spitzel, der uns an die Stadtwache verpfeifen soll.“ Zornig runzelte Mukisanu daraufhin die Stirn und befahl energisch: „Sei still, Urija, und red keinen Unsinn! Er ist garantiert kein Spitzel, sondern wird tatsächlich von den Leuten der Tawananna gesucht. Ich hab ihn eingeladen, sich bei uns zu verstecken, bis sie auf hören nach ihm zu suchen, also wird er bis dahin unser Gast sein!“ „Und was ist, wenn sie ihn erwischen und er uns an die Stadtwache verrät, um seine eigene Haut zu retten?“, verlangte Urija widerspenstig zu wissen, während er mürrisch die Arme vor der Brust verschränkte. Dieses Mal war es Seth, der verhinderte, dass Mukisanu seinem Kontrahenten eine Antwort geben konnte, indem er sich plötzlich erhob, mit eisiger Miene auf die Gruppe Jungen vor sich herabsah und kühl erklärte: „Ich habe es nicht nötig andere zu verraten. – Ebenso wenig wie ich eure Hilfe oder Gastfreundschaft brauche.“ Nachdem er dies gesagt hatte, wandte Seth sich entschlossen ab und verließ ohne ein weiteres Wort das Versteck der fünf Jungen, sich schnell über die Dächer der Unterstadt entfernend. Wütend starrte Mukisanu seine Freunde an, bevor er ebenfalls ohne ein Wort zu verlieren das Versteck verließ und eilig Seth folgte. Die zurückbleibenden Jungen murrten verärgert über diese unvernünftige Loyalität ihres Anführers gegenüber einem vollkommen Fremden und die Tatsache, dass er sich gegen sie und ihre Meinung gestellt hatte. Nachdem Seth das Versteck der Jungen verlassen hatte und eine Weile durch die Gassen Hattuschas geirrt war, verbarg er sich schließlich im Schatten eines Hauses zwischen Kübeln und Pflanzen, um nicht von den noch immer durch die Stadt streifenden Palastbediensteten erwischt zu werden, ohne so recht zu wissen, was er im Augenblick tun sollte. Sich jetzt in der Stadt zu zeigen oder zu versuchen den Weg zurück zu dem Garten zu finden, um nach Merenseth zu suchen, war vorerst noch zu gefährlich. Da wo er jetzt hockte, konnte er auch nicht bleiben, es wäre nur eine Frage der Zeit bis sie ihn an dieser Stelle entdecken würden. Er brauchte also zunächst einmal ein Versteck, wo er in Ruhe seine nächsten Schritte planen und abwarten konnte, bis die Suche nach ihm eingestellt wurde. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, wartete Seth, bis er glaubte sich unbesorgt aus seinem derzeitigen Versteck hervorwagen und sich ein besseres suchen zu können. Er hatte sich gerade aus der Hocke erhoben, als er plötzlich am Arm gepackt wurde und eine ihm bereits bekannte Stimme befahl: „Komm mit!“ Ihn gleichzeitig kurzerhand eilig mit sich ziehend. Wieder ging es auf komplizierten Schleichpfaden quer durch die Stadt, bis die beiden Jungen ein hinter Büschen verstecktes Loch in der Stadtmauer erreichten, Mukisanu Seth hindurch schob und ihm gleich darauf folgte, um anschließend wieder die Führung zu übernehmen bis sie an einen geschützten Lagerplatz gelangten. „Setz dich“, forderte Mukisanu seinen Gast auf und fügte hinzu: „Hier wird uns niemand finden, bisher ist mir hier noch nie jemand begegnet und die Anderen wissen nichts von diesem Ort.“ „Warum hilfst du mir?“, wollte Seth irritiert wissen, ohne darauf einzugehen, dass der andere Junge ihn offenbar an seinen ureigensten Rückzugsort geführt hatte. „Nur so“, erklärte Mukisanu mit einem Grinsen und hinter dem Kopf verschränkten Händen, während er gleichzeitig mit den Schultern zuckte. Nur so? Diesem schlagkräftigen Argument hatte Seth nichts entgegen zu setzen und im Grunde hatte er auch absolut nichts gegen die Gesellschaft Mukisanus oder dessen Hilfe einzuwenden. Im Gegenteil, irgendwie begann er diesen Jungen bereits zu mögen, als würden sie sich bereits seit ewigen Zeiten kennen und nicht erst seit ein paar Stunden. „Was hast du jetzt eigentlich vor?“, erkundigte sich Mukisanu unterdessen neugierig und erhielt die Antwort: „Ich muss Merenseth wiederfinden.“ „Merenseth? Wer ist denn das?“ „Mein Benu“, erklärte Seth und erhielt darauf einen fragenden Blick aus großen verständnislosen Augen, offenbar hatte Mukisanu keine Ahnung, was der andere Junge meinte. Also versuchte Seth es anders: „Wie nennt ihr Vögel, die nicht geboren werden, sondern verbrennen und aus ihrer eigenen Asche wiedererstehen?“ Wenn möglich wurde der Gesichtsausdruck Mukisanus noch verständisloser, „wir nennen sie gar nichts, so was gibt es nämlich nicht.“ „Bei uns in Kemet gibt es sie“, erwiderte Seth bestimmt, erhielt aber nur einen skeptisch zweifelnden Blick darauf und fügte deshalb herablassend hinzu: „Du musst mir nicht glauben, sag mir nur wie ich am schnellsten wieder in den Garten der Tawananna komme.“ Jetzt wurden die Augen des Jüngern wieder groß vor Überraschung, „du willst tatsächlich dahin zurück, wo sie nur darauf warten, dich zu fangen?!“ „Ich habe keine andere Wahl“, erklärte Seth bestimmt und schwieg anschließend. Mukisanu blieb ebenfalls eine Weile still und schien nachzudenken, dann erklärte er schließlich: „Heute ist es zu gefährlich noch mal zu versuchen in den Garten zu gelangen, aber ich bring dich morgen zum Garten und helf dir bei der Suche. Du musst mir nur sagen, wie dein Vogel aussieht.“ Jetzt war es an Seth den anderen Jungen überrascht anzusehen, dann nickte er lediglich knapp und äußerte erstmals: „Danke.“ Mukisanu grinste wieder und winkte nur ab: „Schon gut. Dein Vogel muss wirklich was Besonderes sein, wenn du dir soviel Mühe machst, ihn zurückzubekommen.“ Seth nickte zustimmend und lächelte ebenfalls: „Sie ist etwas besonderes, du wirst sehen.“ Der plötzlich sehr vernehmlich knurrende Magen Mukisanus sorgte im nächsten Moment für einen drastischen Gesprächswechsel und dafür das der Junge peinlich berührt errötete, aus unerfindlichen Gründen machte er sich Sorgen, dass eine solche Schwäche auf seine neue Bekanntschaft einen schlechten Eindruck machen würde. Statt Mukisanus Befürchtungen zu bestätigen, grinste Seth jedoch nur und holte den restlichen Proviant hervor, den ihm der Amunpriester mitgegeben hatte, um ihn mit Mukisanu zu teilen. Erleichtert ließ der sich nicht lange bitten und langte eifrig zu, bekam er doch nicht häufig so eine üppige Auswahl an Essen geboten. Nachdem sie beide satt waren, legten sich die Jungen jeweils auf den Rücken, starrten in den Himmel und schwiegen zunächst eine Weile, träge vom Essen und ein wenig schläfrig. Irgendwann jedoch war Mukisanus Neugier stärker als seine Müdigkeit und er begann Seth über dessen Leben auszufragen und aus seinem eigenen zu erzählen, das bisher offenbar kein sonderliches Zuckerlecken gewesen war. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt, sondern war eine zeitlang bei Pflegeeltern aufgewachsen, bis diese an bei einer Epidemie verstorben waren. Seitdem lebte Mukisanu auf der Straße und hatte sich mit der Zeit eine kleine Bande von Straßenjungen aufgebaut, deren Anführer er war. Normalerweise hielten die fünf zusammen wie Pech und Schwefel, war doch jeder auf die Fähigkeiten des Anderen angewiesen. Dass Mukisanu sich gegen seine Freunde gestellt hatte, als er Seth verteidigte, war ebenso selten wie Regen in Kemet. Aber der dunkelhaarige Junge machte sich erstaunlich wenig Sorgen über mögliche Folgen des Streits, er wirkte, als wäre er vollkommen davon überzeugt, dass schon alles wieder in Ordnung kommen würde. Auf diese Weise verging den beiden Jungen die Zeit wie im Flug, ohne dass sie einen weiteren Gedanken an die Häscher in der Stadt verschwendet hätten, die sich auf der Suche nach ihnen die Füße wund liefen. Am nächsten Morgen, kurz vor der Dämmerung, zu einer Zeit in der es auch dem ausgeruhtesten Wachmann schwer fiel munter zu bleiben, wie Mukisanu aus Erfahrung wusste, machten sich die beiden Jungen auf den Weg in die Stadt und zum Garten der Tawananna. Dort angekommen, mussten sie feststellen, dass die Strickleiter mit der Seth tags zuvor aus dem Garten entkommen war, nicht mehr da war. Die Bediensteten hatten dafür gesorgt, dass sie verschwand und niemand mehr so leicht in den Garten einsteigen konnte. Da die Jungen mit etwas derartigem jedoch gerechnet hatten, hatten sie auf ihrem Weg zu dem Garten in der Werkstatt eines Seilermeisters Halt gemacht und sich eines der dort vorhandenen Seile mitgenommen. Mit einigem Geschick gelang es Mukisanu das mit einem Stein beschwerte Ende des Seils so zu werfen, dass es sich um eine der aus der Mauerkrone ragenden Eisenspitzen legte und anschließend beide Seilenden auf der äußeren Mauerseite herabhingen, sodass die Jungen an ihnen hinauf klettern konnten. Vorsichtig späten sie über die Mauerkrone in den Garten, der ruhig und verlassen dalag und ließen sich anschließend mit Hilfe des Seils in den Garten hinab. Sobald sie am Boden angekonmmen waren, machten sie sich daran systematisch den Garten nach dem Benu abzusuchen, bemüht dabei nicht möglichen Wachtposten in die Arme zu laufen. Und im Stillen hoffend, dass der Benu tatsächlich noch im Garten war und nicht entweder fortgeflogen oder auf Befehl der Tawananna weggeschafft worden war. Seth hatte wie versprochen am vergangenen Abend Mukisanu eine genaue Beschreibung Merenseths gegeben, sodass die Beiden nun angestrengt nach jedem noch so winzigen Schimmer glutfarbener Federn Ausschau hielten, ohne zunächst irgendetwas zu entdecken. Mit der Vermutung, dass der Benu möglicherweise als Ersatz für den Vogel, den er freigelassen hatte, in dessen Käfig gesperrt worden war, lief Seth schließlich zu dem Pavillon, den er am Vortag entdeckt hatte und musste verblüfft feststellen, dass nun der Pavillon selbst als riesige Voliere diente. Mukisanu war eher an die erstaunliche Geschwindigkeit der Handwerker gewöhnt, wenn es um einen Auftrag der Großkönigin ging und erkundigte sich deshalb lediglich, während er neben Seth stehend in die riesige Voliere starrte: „Ist das da Merenseth?“ Seth folgte mit den Augen dem ausgestreckten Zeigefinger des anderen Jungen und tatsächlich, da lag auf dem Boden des Käfigs, so zusammengerollt, wie er sie unter dem Baum zurückgelassen hatte, Merenseth und schien seelenruhig zu schlafen. Als Seth halblaut ihren Namen rief um sie zu wecken, nachdem er dicht an das Gitter des ehemaligen Pavillons herangetreten war, rührte sich der Benu zunächst nicht. Erst nachdem Seth bereits ungeduldig wurde, hob Merenseth langsam den Kopf unter dem Flügel hervor, wobei ihr Hals merkwürdig hin und her schwankte, als wäre er eine Schlange mit eigenem Willen. Es gelang dem Benu auch nicht lang, seinen Kopf erhoben zu halten, stattdessen senkte sie den Kopf bald wieder schützend unter den Flügel und schien gleich darauf erneut eingeschlafen zu sein. Verwundert hatte Seth diese seltsamen Vorgänge verfolgt und zischte dann verärgert: „Merenseth, was soll das, hör auf dich so komisch zu benehmen, jetzt ist wirklich nicht die Zeit dafür!“ Doch der Vogel rührte sich nicht, dafür meldete sich jedoch Mukisanu zu Wort, der neben Seth an das Volierengitter getreten und in das allmählich von der aufgehenden Sonne erhellte Innere gesehen hatte: „Ich glaub sie ist betrunken.“ „Was?!“, ungläubig starte Seth den Jungen neben sich an, der auf eine Schale mit Früchten in der Voliere wies und erklärte: „Sie benimmt sich wie die Männer, die immer nach einem Saufgelage an den Hauswänden lehnen. Und ich hab mal gehört, dass manche Früchte im Magen von Tieren anfangen zu gären und die davon betrunken werden. Kann doch sein, dass das solche Früchte sind. Dein Vogel benimmt sich jedenfalls eindeutig wie ein Betrunkener.“ Da konnte Seth nur zustimmen, gleichzeitig runzelte er verärgert die Stirn, da hatte er sich nun Sorgen um seinen Vogel gemacht und sich ganze Horrorszenarien vorgestellt und unterdessen hatten der sich einfach nur betrunken gefressen. Das war doch einfach nur eine unverschämte Unverfrorenheit! „Ich glaub, wir sollten sehen, dass wir deinen Vogel da heraus holen, ich bin sicher, wir werden nicht mehr lange allein sein“, murmelte Mukisanu unbehaglich, während er in die Richtung blickte, in der der Palast lag. Seth nickte zustimmend, allerdings war da dass Problem, dass das Türschloss der Voliere bei weitem nicht so einfach zu öffnen war, wie das des Vogelkäfigs. Einen Schlüssel konnten sie nirgends finden und das Metallgitter aufzubiegen, um den Vogel anschließend herauszuholen, war praktisch unmöglich. Kritisch hatte Seth sich das Schloss genauer angesehen und sich anschließend suchend die Äste der umstehenden Bäume angesehen. Es dauerte eine Weile, bis er gefunden hatte, was er suchte. Aber schließlich entdeckte er einen Zweig, der ihm passend erschien, brach ihn ab und kehrte zu dem ehemaligen Pavillon zurück. Da er zum ersten Mal auf diese Weise versuchte eine verschlossene Tür zu öffnen, dauerte es geraume Zeit, mehrere Versuche und eine Anzahl von Zweigen bis Seth schließlich erfolgreich die Tür öffnen konnte. Einmal brach ihm der zu Hilfe genommene Zweig so unglücklich entzwei, dass ein Teil in dem Schloss stecken blieb und Seth zunächst mit viel Mühe und leisem Fluchen das steckengebliebene Holz aus dem Schloss entfernen musste. Erst danach konnte er mit einem neuen Zweig, den ihm in der Zwischenzeit bereits Mukisanu besorgt hatte, versuchen die Tür zu öffnen. Sobald ihm sein Vorhaben schließlich geglückt war, betrat er die Voliere, lief zu seinem Benu und beugte sich gerade zu Merenseth herab, um sie hochzuheben und aus dem Garten zu tragen, als er Mukisanu plötzlich aufgeregt flüstern hörte: „Beeil dich, ich glaub, da kommt jemand.“ Das hatte ihnen gerade noch gefehlt! Hastig und reichlich unsanft, ohne darauf zu achten, dass er die lange Schwanzschleppe Merenseths verknickte, stopfte Seth sich den Vogel in das Oberteil seines Gewandes, um später beide Hände zum Klettern frei zu haben. Dann beeilte er sich zu Mukisanu zurückzukehren, der nervös von einem Beine auf das andere trat und sich umgehend in Richtung Gartenmauer in Bewegung setzte, kaum das Seth aus der Tür der Voliere getreten war. Im Laufen stützte Seth mit einer Hand den Körper seines Benu so ab, dass der ihn nicht allzu sehr beim Rennen behinderte. Ihren Kopf hatte Merenseth der Bequemlichkeit halber längst auf der Schulter des Jungen abgelegt, dicht an dessen Hals geschmiegt und hin und wieder einen leisen Klagelaut ausstoßend, wenn ihre Kopfschmerzen durch die Bewegungen Seths noch verstärkt wurden. Doch darauf konnte und wollte der Junge im Moment keine Rücksicht nehmen, ihre Flucht war wichtiger. Wieder jagten die beiden Jungen, sobald sie den Garten erfolgreich verlassen hatten, in größter Hast durch die Stadt. Dieses Mal jedoch mit einem anderen Ziel im Sinn und ihren Häschern um Längen voraus. So gelangten sie bald ohne größere Umwege wieder zu dem Ort, den sie am Morgen verlassen hatten und ließen sich, kaum angekommen, nach Luft schnappend einfach dort fallen wo sie gerade standen. Sobald sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte und sie sicher waren, dass ihnen tatsächlich niemand gefolgt war, drehte sich Mukisanu grinsend auf den Bauch und forderte Seth auf, ihm den Vogel zu zeigen, damit er sich ihn genau ansehen konnte. Es war etwas mühsam Merenseth wieder aus dem Oberteil zu befreien, aber schließlich war es doch geschafft. Nur machte der Vogel noch immer keine sonderlich gute Figur, sondern lang mit zerknicktem Gefieder und schwerem Kopf zwischen den beiden Jungen auf dem Boden, bemüht mit einem Flügel die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Nichts desto trotz streichelte Mukisanu begeistert über das Federkleid des Benus und erklärte beschwichtigend: „Das wird schon wieder, sie muss nur ihren Rausch ausschlafen und vermutlich Wasser trinken.“ Seth runzelte dennoch ungehalten die Stirn, während er erwiderte: „Ich verstehe das nicht, so etwas hat sie bisher noch nie gemacht.“ „Vielleicht kannte sie nur die Früchte nicht oder wusste nicht, was sie für eine Wirkung auf sie haben“, verteidigte Mukisanu Merenseth augenblicklich. Seth hielt das angesichts der Tatsache, dass Benu so alt wie die Erde selbst waren, eher für unwahrscheinlich. Er erwiderte jedoch nichts auf Mukisanus Vermutung, einfach weil er keine Lust hatte, dem Jüngeren die gute Laune und die Freude an dem Vogel zu verderben. Für eine Weile herrschte zwischen den Jungen wieder einträchtige Stille, bis Mukisanu sich schließlich etwas aufrichtete und erklärte: „Ich werd’ mal sehen, ob ich uns was zu essen besorgen kann.“ „Eigentlich müssten in dem Leinensack noch ein paar Reste sein“, erwiderte Seth träge, ohne seine Position zu verändern, während er sich im Stillen wunderte, dass das Zusammensein mit Mukisanu so selbstverständlich und einfach war, als hätten sie bereits ihr ganzes Leben zusammen verbracht. Der Jüngere hatte sich unterdessen im Schneidersitz hingesetzt den Leinensack zu sich herangezogen und erklärte gerade, es gäbe zur Auswahl Hirsefladen oder Hirsefladen. Seth grinste, während er auf Mukisanus Flachserei einging und sich für den Hirsefladen entschied. „Eine hervorragende Wahl, mein Herr. Darf ich zur Unterstützung des feinen Geschmacks noch einen Apfel und etwas Wasser empfehlen?“, blödelte Mukisanu daraufhin fröhlich weiter, während er zwei Äpfel aus den Falten seiner Tunika hervorholte, die er aus dem Garten hatte mitgehen lassen und anschließend aus einer nahen Quelle Wasser holte. Während sie anschließend aßen, wurde auch Merenseth allmählich munter. Die Jungen fütterten sie abwechselnd mit kleinen Brocken Fladenbrot und Mukisanu ließ es sich nicht nehmen, dafür zu sorgen, dass Merenseth ausreichend Wasser zu trinken bekam. Schließlich ging es dem Benu wieder so gut, dass er seine Flügel streckte, um die Federn auszuschütteln und sich anschließend gründlich daran machte, sein zerzaustes Gefieder in Ordnung zu bringen. Als Merenseth schließlich mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen zufrieden war, schlug sie noch einmal kurz mit den Flügeln, machte es sich dann auf dem Boden bequem und erwiderte gelassen den neugierigen Blick Mukisanus, nachdem sie sich zunächst mit prüfendem Blick und fragendem Tschilpen versichert hatte, dass Seth offenbar unversehrt und nur leicht verstimmt über ihr Verschwinden und ihre vorübergehende Unpässlichkeit war. „Sie ist hübsch“, stellte Mukisanu schließlich fest und erkundigte sich gleich darauf: „Hast du ihr irgendwelche Kunststücke beigebracht?“ Die Schopffedern des Benu hoben sich bei dieser Frage in einer Mischung aus Irritation und leichter Verärgerung, während Seth angesichts der Reaktion Merenseths belustigt grinste, den Kopf schüttelte und seinerseits die Frage stellte: „Hast du dir schon einmal vorgestellt, du könntest fliegen wie die Vögel?“ „Klar“, erwiderte Mukisanu entschieden und bekräftigte seine Antwort mit einem Nicken, „wünscht sich doch jeder irgendwann, oder?“ „Möglich“, war alles was Seth darauf erwiderte, bevor er sich erhob und an Merenseth gewandt befahl: „Mach es wie bei mir.“ Auf diesen seltsamen Satz hin erhielt er von Mukisanu einen verblüfften Blick, während Merenseth nur bestätigend tschilpte und sich in die Luft schwang, während Seth ein Stück zur Seite trat, um bei der folgenden Aktion nicht im Weg zu sein. Einen Moment später wurde Mukisanu auch schon durch die Luft geschleudert, zappelte hilflos, schrie kurz auf und landete schließlich sicher auf dem Rücken von Merenseth, die noch eine kleine Runde über dem Versteck drehte, bevor sie noch einmal landete, Seth hinter Mukisanu aufsteigen ließ und sich anschließend wieder vom Boden abstieß. Mit zusammengekniffenen Augen und in den Rückenfedern verkrallten Händen saß der kleinere der beiden Jungen auf dem Benu und wagte erst die Augen zu öffnen, als er hinter sich die vertrauenerweckende Wärme Seths wahrnahm und spürte, wie dessen Arme sich rechts und links von ihm ebenfalls am Gefieder des Feuervogels festhielten, während er sich gleichzeitig bei Mukisanu erkundigte: „Wenn du die Wahl hättest, wohin würdest du fliegen?“ Für einen Moment verblüfft, wandte der Jüngere den Kopf nach hinten, starrte seinen Begleiter kurz an und erklärte dann ohne weiter nachzudenken: „Nach Yazilikaya.“ Seth fragte nicht, was das für ein Ort war oder warum Mukisanu gerade dorthin wollte, stattdessen flogen sie gleich darauf zu dem von Mukisanu gewünschten Ziel, sich in nordöstlicher Richtung von Hattuscha entfernend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)