Mosaik von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 20: Kompliziert ----------------------- Guten Morgen :-)! Ja, tatsächlich, hier ist das neue Kapitel^^. Diesmal hat es wirklich sehr lange gedauert und ich danke Euch für Eure Geduld. Aber es hat mich diesmal wirklich Nerven gekostet... Es ist leider nicht so witzig und romantisch geworden, eher nachdenklich und...kompliziert^^, aber das muss ja auch mal sein^^. Ich hoffe, Ihr mögt es trotzdem :-). Kapitelwidmung: Mal wieder an meine liebste Paperflower und meinen wundervollen Bruder, ohne deren Unterstützung ich mir vermutlich immer noch über diesem einen Absatz die Haare raufen würde :-). Ich danke Euch so sehr für 131 Kommentare und 69 Favoriteneinträge :-D! Und da es noch nicht ganz zu spät ist: FROHE WEIHNACHTEN EUCH ALLEN :-)! Liebe Grüße, BlueMoon ____________________________________________________________________ David konnte nicht schlafen. Nachdem seine Schicht um zwölf Uhr beendet gewesen war und die Anderen ihre Mittagspause begonnen hatten, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen und sich ins Bett gelegt, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Aber es ging nicht. Er konnte einfach nicht einschlafen. Dabei gab er sich solche Mühe. Er atmete ruhig und tief, er trank heiße Milch mit Honig – wovon ihm ganz schlecht wurde –, er erniedrigte sich sogar so weit, dass er es mit Schäfchenzählen probierte. Doch es nützte alles nichts. Er war viel zu geladen, viel zu aufgekratzt, um zu schlafen. Sein Körper konnte sich nicht beruhigen und einfach still liegen bleiben. Er wollte viel lieber auf und ab hüpfen und kreischen und Räder quer durchs Zimmer schlagen. Die Erinnerungen ließen ihn einfach nicht los. Er und Sascha im Futtermittellagerraum. Er und Sascha eng umschlungen. Er und Sascha knutschend. Er und Sascha. Jedes Mal, wenn er soweit in seinen Gedanken kam – und das kam er ungefähr alle zehn Sekunden – fuhr ein Stromstoß durch seine Venen und er warf sich fluchend im Bett herum. Nach einer halben Stunde, in der David sich ununterbrochen von einer Seite auf die andere gedreht, mit den Zähnen geknirscht und so intensiv an die Wand gestarrt hatte, dass er in einem Comic sicher Löcher hinein gebrannt hätte, hatte er endlich genug. Schimpfend schlug er die Bettdecke zurück, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen und mal hier, mal da gegen seine unschuldigen Möbel zu boxen. Was sollte er jetzt nur tun? Jetzt, da er und Dings sich zweimal in Folge richtig und freiwillig geküsst hatten. Jetzt, da er erkannt hatte, dass ihm das gefiel und er eigentlich nicht einsah, je wieder damit aufzuhören. Jetzt, da er einen Pfad eingeschlagen hatte, der unabwendbar und zwingend auf ein bestimmtes Ziel zu hielt. Was sollte er tun? Jetzt, da er auf dem besten Weg war, sich in Sascha zu verlieben. Sollte er diesen Weg bis zum Ende gehen oder umkehren, solange er noch konnte? David wusste es nicht. Es war, als ob sich sein Ich in zwei Hälften geteilt hätte. Die eine Hälfte, die noch immer mit den schmerzvollen Erinnerungen an Sven beschäftigt war, rang die Hände und redete flehend auf ihn ein: Tu es nicht, David! Es wird wieder genauso enden, wie beim letzten Mal. Es wird dir wieder genauso wehtun. Erinnere dich! Er wird dir das Herz brechen. Genauso wie Sven. Du willst das nicht noch mal, oder? Du willst nicht noch mal so verletzt werden. Also... Tu es nicht! Doch da war auch noch der andere Teil seines Ichs. Der Teil, der sich Sascha ausgesucht hatte, der voller Optimismus in die Zukunft schaute und nicht aufhören wollte zu hoffen. Tu es, David!, beschwor ihn dieser Teil, Es ist alles völlig anders als beim letzten Mal. Er ist völlig anders. Du wirst glücklich sein. Ich weiß es. Versteck dich nicht länger. Es wird Zeit, endlich die Augen zu öffnen und glücklich zu sein. Es wird Zeit, das Leben wieder zu spüren. Also... Tu es! Was, zur Hölle, sollte er nur machen? David biss die Zähne zusammen und tat dann das, was er immer tat, wenn seine Gedanken Kopf standen und er nicht weiter wusste: Er griff nach seinem Cello. Vorsichtig hob er das Instrument aus dem Koffer und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er atmete ein, schloss die Augen und begann zu spielen. Zarte Töne erfüllten sein Zimmer. Sein Zimmer, in dem er die letzte Nacht mit Mr. Ich-Bringe-David-Noch-Ins-Grab verbracht hatte. Sein Zimmer, das er in einer Nacht- und Nebelaktion mit Miriam gestrichen hatte. Sein Zimmer, das er nur bezogen hatte, weil ein gewisser Mistkerl ihn aus seinem ersten ausquartiert hatte. Dies schien ihm nun schon so lange her zu sein. Mindestens fünf Jahre. Dabei war es noch nicht mal drei Wochen her. Und nun...? Er und Sascha im Futtermittellagerraum. Er und Sascha eng umschlungen. Er und Sascha knutschend. Er und Sascha. Ein neuerlicher Energiestoß ließ sein Gesicht zucken und unwillkürlich beschleunigten sich die Bewegungen des Cellobogens in seiner Hand. Seine Finger huschten wie in Ekstase über die Saiten am Hals des Instruments und sein Körper wiegte sich zitternd in der Musik, die direkt aus seiner Seele zu kommen schien. Was sollte er tun? Sollte er es wagen oder nicht? Sollte er es riskieren oder lieber auf Nummer sicher gehen? Was, wenn Sascha ihn ebenfalls benutzen und dann wegwerfen würde? Was, wenn er ihm erneut das Herz brechen würde? Was würde dann geschehen? Würde er es ein zweites Mal verkraften können? Vielleicht ja, aber was, wenn nicht? Er hatte Angst. Angst vor dem Schmerz. Sascha hatte ihm schon einmal weh getan. Woher konnte er wissen, dass es nicht wieder passierte? Er hatte seine Freundin Yvonne betrogen. Woher konnte er wissen, dass er es nicht wieder tat? Aber... Wollte er wirklich den Rest seines Lebens weglaufen? War er nicht viel zu jung, um aufzugeben, nur weil er einmal Pech gehabt hatte? Erwartete er nicht viel mehr vom Leben als das? Er war nicht der einzige Mensch auf der Welt, der schon mal mit Liebeskummer zu kämpfen gehabt hatte. Im Gegenteil. Herrje, wie sollte er diesen nur Abend überleben? Auf der einen Seite konnte er sich nichts Schöneres vorstellen, als gemeinsam mit Sascha zu essen, zu reden, zu lachen und ihn eventuell...wieder ein bisschen zu küssen. Auf der anderen Seite jedoch...jagten ihm diese Vorstellungen Schreckensschauer über den Rücken. Ununterbrochen wies ihn der pessimistische Teil seiner Seele darauf hin, was zwangsläufig passieren würde, wenn er sich erneut auf Saschas Gesellschaft einließ, während der andere Teil sich vor Vorfreude eben darauf beinahe zerfledderte. David bemerkte kaum, was er tat und wie rasch er seine Finger und den Bogen bewegte. Sein Herz sprudelte über vor Empfindungen und sein Cello setzte sie frei. Längst spielte er nichts mehr nach Maßstäben oder ihm bekannten Noten. Dies war kein Stück von Bach oder Vivaldi. Dies war sein Stück. Sein eigenes und es formte sich aus ihm selbst. Aus ihm und seinen Gefühlen, die seit je her in ihm wüteten und sich nicht wegsperren ließen. Auch jetzt nicht. Gerade jetzt nicht. Denn er fühlte voller Intensität und er wollte fühlen. Und zwar alles, was er gleichzeitig fürchtete. Er wollte fühlen, wie sein Herz wild zu pochen begann, sobald Sascha ihm nah kam. Er wollte fühlen, wie sein Magen sich umdrehte, wenn er ihn sah. Er wollte sogar fühlen, wie sein Blut vor Zorn zu brodeln begann, wenn Sascha ihn ärgerte. Doch er hatte Angst. Davids Ohren klingelten. Sein Spiel wurde immer wilder und unkontrollierter, schneller und schriller. Es steigerte sich immer weiter, verzweifelt um Erlösung flehend. Doch sie kam nicht. Denn David hatte keine Lösung. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sein Spiel brach ab. So jäh, als hätte jemand unvermittelt eine Stereoanlage abgestellt. Die unerwartete Stille dröhnte ohrenbetäubend im Zimmer wieder. Ohne die Augen zu öffnen, atmete David schwer ein und aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Finger seiner linken Hand und sein rechter Arm vor Anstrengung schmerzten. Dann hörte er plötzlich ein Räuspern. Er fuhr zusammen und riss die Augen auf. Sebastian, Ben, Eric und – wie könnte es anders sein? – Sascha standen in der Tür und musterten ihn mit großen Augen. David starrte sie an. Er schluckte. „Was...ist denn...?“, fragte er zögernd und die Verlegenheit kroch ihm heiß die Beine hoch. Mit aller Macht versuchte er Mr. Bei-Meinem-Anblick-Kriegt-David-Sonst-Einen-Herzkoller nicht anzusehen. „Ist...alles in Ordnung?“, erkundigte Eric sich vorsichtig, „Das klang so...verstört...,“ „Ver...? Oh, nein, nein!“, antwortete David mit brennenden Eingeweiden und stand hastig auf, „Ich...war nur in Gedanken...,“ Er versuchte sich an einem ungezwungenen Lachen, was allerdings eher zu einem Hyänengegacker verkam. Er spürte, wie er von Kopf bis Fuß errötete und wandte sich eilig ab, um das Cello in seinem Koffer zu verstauen. „In Gedanken?“, krähte Ben und grinste, „Wir dachten, du hättest einen Anfall!“ „Ach, was...!“, erwiderte David laut und bemüht lässig und drehte sich wieder zu seinen drei Kollegen und seinem persönlichen Anfall um, „Es geht mir gut, Leute. Habe nur geübt. Kein Problem...,“ Er verstummte und verspürte den unbändigen Drang, sich aus dem Fenster zu stürzen. „Dann ist ja gut...,“ erwiderte Sebastian und ruckte an seinem Cap, „Aber mach das nicht noch mal. Das ist zu viel für mein schwaches Herz.“ Schnaubend und witzelnd verließen er, Eric und Ben das Zimmer und polterten die Treppe hinab. Nur Mr. Scheiße-Was-Will-Ich-Noch-Hier? blieb. Er wartete, bis seine drei Kollegen außer Hörweite waren, dann schloss er leise die Tür und schaute David an. Sein Blick war ernst und sanft und zog Davids Augen an wie ein Magnet. David schluckte und sein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen. Ein Teil von ihm wollte zurück weichen. Der andere wollte das Gegenteil. „I...Ist noch was?“, fragte David und rieb sich die Oberarme, als würde er frieren. „Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Dings leise. David starrte ihn an. „Ja, sicher!“, stieß er dann hervor und zwang sich zu einem Lächeln, „Ich...habe wirklich nur...nachgedacht...,“ Mr. Ich-Ahne-Mehr-Als-Ich-Sage nickte langsam. David flehte zum Himmel, er möge endlich gehen, bevor sich seine Persönlichkeit noch an Ort und Stelle spaltete. Aber diesen Gefallen tat Sascha ihm nicht. Zum Glück. Stattdessen kam er langsam auf ihn zu und David blieb stocksteif stehen. Sein Magen schwirrte. Schrecklich schön. „Du weißt, dass du mir mit über alles reden kannst, oder?“, flüsterte Dings, als er direkt vor ihm stand und ihn durchdringend musterte. David schluckte erneut und sein Herz schwoll an, auf die Größe eines Heißluftballons. „Ja...,“ wisperte er zurück, „Das weiß ich...,“ Sascha lächelte, beugte sich etwas vor und legte seine warme Stirn gegen die Davids. David schloss die Augen und seufzte leise. Jede Zelle seines Körpers begann zu kribbeln und sein Atem bebte. Gleichzeitig spürte er, wie sich alles in ihm entspannte. Seine widersprüchlichen Gefühle und Gedanken entkrampften sich und lösten sich auf. Eine wundervolle Wärme strömte durch seine Adern und befreite ihn von dem Wenn und Aber, das ihn nicht hatte zur Ruhe kommen lassen. Alles in ihm genoss den Moment. Mehrere Minuten verharrten sie schweigend in dieser Position, nur verbunden durch die Berührung ihrer Köpfe und diesem eigentümlichen Band der Wärme. Schließlich zog sich Mr.Man-Sollte-Mich-In-Flaschen-Füllen-Und-Als-Beruhigungsmittel-Verkaufen zurück und lächelte schief. „Besser?“, fragte er leise. „Viel...,“ antwortete David und lächelte verlegen. Dings schmunzelte und in seinen Augen stand eine solche Zärtlichkeit, dass Davids Knie weich wurden. Sven...hatte ihn niemals so angesehen. „Wir sehen uns später...,“ sagte Sascha sanft, „Ja...?“ David konnte nicht antworten. Also nickte er nur und betrachtete sein Gegenüber wie hypnotisiert. Sascha lächelte und schien einen Moment zu zögern, dann drehte er sich um und durchquerte das Zimmer. Mit einem letzten Blick und einem angedeuteten Luftkuss öffnete er die Tür und ging hindurch. Anschließend zog er sie wieder hinter sich zu und ließ David allein, versonnen auf die schlammigen Fußabdrücke starrend, die Saschas schmutzbeschmierte Gummistiefel auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Sonderbar. Gerade war sein Kopf noch voll mit Gedanken gewesen. Jetzt war er so gähnend leer und still wie...wie...ach, keine Ahnung. Halt wie irgendwas, was normalerweise nicht leer und still war. Ein verlassener Kindergarten vielleicht oder ein Rummelplatz bei Nacht. Ein gedämpftes Piepen, das ihm vage bekannt vorkam, weckte David aus seiner Trance. Er zuckte zusammen, wirbelte herum und stürzte sich mit einem verwirrten Hechtsprung auf sein Bett. Hektisch durchwühlte er die Decke, auf der Suche nach dem Urheber dieses abscheulichen Getöses und mit der sonderbaren Gewissheit, ihn hier irgendwo finden zu können. Er fluchte und zog sein klingelndes Handy schließlich unter seinem Kopfkissen hervor. Er starrte es an und versuchte sich zu erinnern, wie man so etwas benutzte. Die Nummer auf dem blinkenden Display erkannte er irgendwoher. Er drückte auf einen der unzähligen Knöpfe und hielt sich das Gerät ans Ohr. „Hallo?“, fragte er hinein. „Hier ist Marisa!“, ertönte eine ihm wohlbekannte Kinderstimme, quietschend vor Freude, „Ich habe eine Eins in Mathe geschrieben!“ David blinzelte. Wer? Was? Mathe? Hä? Reiß dich zusammen, du Vollidiot!, fuhr er sich selbst an und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, Das ist deine Schwester! UND JETZT SAG WAS HALBWEGS INTELLIGENTES! „Wow!“, zwang er sich zu rufen und verbannte jeden Gedanken an Mr. Wir-Sehen-Uns-Später in die Untiefen seines Gehirns, „Das ist ja...toll!“ Er wusste genau, dass er längst nicht so euphorisch klang, wie er klingen wollte. Natürlich merkte Marisa das ebenfalls. „Du freust dich gar nicht richtig...,“ zeterte sie. „Doch!“, beharrte David laut und gab sich diesmal mehr Mühe, „Das ist wirklich toll, Schwesterherz. Ich freue mich sehr für dich!“ Er versuchte fröhlich zu lachen, aber irgendwie gelang es ihm immer noch nicht so richtig. Marisa schwieg einen Augenblick lang. „Was ist denn?“, erkundigte sie sich besorgt, „Ist was mit Sascha?“ David musste ein bisschen husten, bis er seine Stimme wieder fand, die sich eilig in seinem Kehlkopf verkrochen hatte. Grundgütiger, das war doch nicht normal! Abgesehen davon, dass es ihn jedes Mal wieder erschreckte, wenn er diesen Namen aus dem Mund seiner kleinen Schwester hörte, war dieses Mädchen noch ein Kind. Sie sollte keine Gedanken lesen können und daher ihrem zehn – zehn! – Jahre älteren Bruder gewiss nicht solche Fragen stellen. „Nein!“, log David gequält, „Der hat damit...überhaupt nichts zu tun...,“ Marisa seufzte tief, als ob sie eine sehr schwere Last zu tragen hätte. „Ich glaub dir nicht...,“ erklärte sie ihm, „Ich weiß genau, dass es was mit ihm zu tun hat.“ „Oh Gott...,“ stöhnte David. „Also, was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?“ David raufte sich so energisch die Haare, dass ihm beinahe das Handy aus der Hand glitt. „Marisa...,“ jammerte er gedehnt. „Habt ihr?“ „Nein!“ „Wo liegt dann das Problem?“ David funkelte zum Fenster hinüber, dass ihm nun wieder als verlockende Lösung vorkam. Es war unglaublich. Hier saß er in seinem Bett, verzweifelt und mit Sturmfrisur, mitten im nervenaufreibendsten Dilemma des Jahrhunderts, und war im Begriff ausgerechnet seiner kleinen Schwester sein Herzleid zu klagen, die noch in die Grundschule ging. Absolut geisteskrank. „Marisa...,“ wiederholte er beschwörend, „Du... Du verstehst das nicht. Das ist sehr...kompliziert...,“ „Warum?“, quiekte seine Schwester, „Du magst ihn doch, oder? Und wenn ihr euch nicht gestritten habt, dann ist doch alles in Ordnung.“ Sprachlos starrte David auf eine Staubfluse, die sich langsam an der Fußleiste entlang hangelte. Wie bitte...? „Also...,“ piepste Marisa, „Wo liegt das Problem?“ David räusperte sich einmal. „Marisa? Wie alt bist du noch mal?“ „Im April werde ich zehn!“, erklärte seine kleine Schwester stolz. „Ach ja...,“ Fünf Minuten musste David sich noch quälen, dann gab es in Braunschweig zum Glück Mittagessen und Marisa musste auflegen. Nachdem er sich von ihr verabschiedet und seine restliche Familie gegrüßt hatte, schob David sein Handy zurück unter sein Kopfkissen und drehte sich auf den Rücken. Nachdenklich starrte er zur sonnengelben Decke hinauf. Seine Schwester war ein kleines Mädchen. Sie hatte (hoffentlich...!) noch keine Ahnung von den Komplikationen der Liebe, weder im Hetero- noch im Homobereich. Außerdem kannte sie – genau wie alle anderen Mitglieder seiner Familie – die Geschichte mit Sven nicht. Sie konnte sein Problem also gar nicht verstehen, selbst wenn er ihr alles haarklein erzählen würde. Daher war ihre Antwort auch so kindisch und...und... Doch was, wenn sie in ihrer kindlichen Unbedarftheit Recht hatte? Was, wenn er sich ein Problem schuf, wo keines war? Schließlich hatten er und Sascha sich tatsächlich nicht gestritten. Im Gegenteil. Vor zehn Minuten hatten sie sich dort bei den schmutzigen Fußabdrücken noch angesehen und er hatte Saschas glatte, warme Stirn an seiner gefühlt und... Ja, er mochte ihn. Das wusste inzwischen auch sein unaufmerksamstes Möbelstück. Wo also lag das Problem? Denn, wenn er die ganze Sache mal aus der unkomplizierten Sicht eines Kindes sah, dann gab es nur eine Sache, die er wirklich wollte: Er wollte mit Dings zusammen sein. Das war alles. Mehr wollte er nicht. Sven hin, Angst her. Wozu dann das ganze Drama? Wozu noch diese Quälerei, wenn sich sein Herz längst entschieden hatte? Wozu noch warten? Er musste endlich aufhören Sven und Sascha über einen Kamm zu scheren. Er musste endlich aufhören, in der Vergangenheit zu leben und an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Er musste wieder vorwärts laufen. Vorsichtig vielleicht, aber dennoch... Wenn er es recht bedachte, dann hatte er Sven viel zu verdanken. Sven hatte ihm beigebracht, auf sich zu achten und nicht alles zu glauben, was er hörte. Er hatte ihn misstrauischer und stärker gemacht. Nun würde er im Stande sein, eine Enttäuschung zu verkraften, ohne im Selbstmitleid zu versinken. Nun würde er sich wehren können. Doch was nützte ihm Misstrauen, wenn es ihm nur im Wege stand? Und konnte sich seine Stärke nicht erst dann wirklich beweisen, wenn er bereit war, ein Risiko einzugehen? David schluckte, drehte langsam den Kopf und betrachtete die braunen Muster auf seinem Parkett, die inzwischen getrocknet waren und still vor sich hin bröselten. Sein Entschluss stand fest: Dieser Abend sollte ihm die Wahrheit zeigen. Dieser Abend sollte ihm den Unterschied klar machen. Er musste vorsichtig und aufmerksam sein. Er musste auf sich Acht geben. Doch er wollte nicht länger im Schatten seiner Angst stehen. Keinen Tag länger. Im Notfall würde er sich ja immer noch aus dem Fenster stürzen können. Oder Sascha umbringen. Je nach dem. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)