Zwei Schritte nach vorn und einen zurück von Elster (Eine kurze Vision der nicht allzu fernen Zukunft) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Das war kein Nervenzusammenbruch.“ Seto Kaiba setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und warf ihr einen etwas gereizten Blick zu. „Nicht?“ fragte Miss Mould interessiert, während sie etwas skeptisch das sechsteilige Besteckset vor sich betrachtete. Kaiba zögerte nur einen kurzen Augenblick, bevor er antwortete. „Nein.“ „Okay, aber es besteht weiterhin die Tatsache, dass ein Computer aus dem fünfundzwanzigsten Stockwerk gefallen ist und dreißig Mitarbeiter entlassen und eine Stunde später wieder eingestellt wurden. Wie erklären Sie sich das?“ Er sah sie kalt an. „Möglicherweise habe ich ein bisschen überreagiert.“ Möglicherweise. „Ah. Okay.“ Sie schwiegen einen Moment, als ein Kellner an den Tisch trat und ihnen die Speisekarte brachte. Kaiba bestellte Wein. „Mal im Ernst. Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?“ Er sah von seiner Speisekarte auf und starrte sein Weinglas an, während er nachdachte. „Ich... erinnere mich, mir ein Wochenende freigenommen zu haben, um mit Mokuba wegzufahren.“ „Wann soll das gewesen sein?“ „... zu seinem vierzehnten Geburtstag.“ „Kaiba, Ihr Bruder ist fast siebzehn.“ „Ich weiß.“ Sie wusste nicht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte und starrte ihn einfach nur entgeistert an. „Ach ja. Danach war noch dieser Tag, an dem mich Joey Wheeler entführt hat. Da bin ich auch nicht zum Arbeiten gekommen.“ „Entführt...? Und wie lang ist das her?“ „Ungefähr... vier oder fünf Monate.“ „Warum weiß ich davon nichts? Wir treffen uns jetzt seit über einem halben Jahr.“ Kaiba warf ihr einen verwirrt-verächtlichen Blick zu. „Weshalb würde Sie das interessieren?“ „Nun, wenn es sich um den Joey Wheeler handelt, von dem sie ständig reden, dann würde es mich schon interessieren. Ich habe Ihnen schon nach unserer vierten... unserem vierten Essen gesagt, dass es sinnvoll wäre, wenn Sie ihm auch nur einen Teil von dem mitteilten, was Sie mir gegenüber angedeutet haben.“ „Oh.“ „Also haben Sie mit ihm geredet?“ „Nun ja, wir haben schon geredet...“ „Aber?“ „Das ist nicht so leicht, wie Sie sich das vielleicht vorstellen.“ Sie sagte nichts und sah ihn fragend an. „Es gab anderweitige... Unstimmigkeiten.“ „Unstimmigkeiten?“ „Unwesentlich. Ich würde es vorziehen, über etwas anderes zu reden.“ „Ich würde gern noch mal auf die Entführung zurückkommen.“ „Nun ja... ich nehme an, man könnte auch einen anderen Terminus...“ Er verstummte auf ihren Blick hin. „Ich bin mit dem Schnellzug angekommen, nachdem ich eine Weile auf Geschäftsreisen war, er stand am Bahnhof und hat auf mich gewartet. Er stürmt auf mich zu und schleift mich hinter sich her, ich halte meine Bodyguards mit Mühe und Not davon ab, ihn platt zu machen. Wir rennen eine Weile durchs Gebäude und ich denke, er sucht nur eine ruhige Ecke zum Reden oder was auch immer er sich wieder ausgedacht hat, aber dann steigen wir in eine U-Bahn ein und weg sind wir.“ „Und dann?“ „Die Unstimmigkeiten. Ich hatte schon erwähnt, dass ich darüber nicht reden will?“ „Klingt für mich nicht unbedingt nach einer Entführung.“ „Ich habe bereits eingeräumt, dass man sich über den Terminus streiten könnte.“ „Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“ „Nein.“ Hätte sie ihn nicht so genau im Auge behalten, wäre ihr das leichte Stirnrunzeln fast entgangen. „Warum habe ich das Gefühl, dass Sie mich anlügen?“ „Na gut. Vielleicht habe ich ihn doch gesehen. Ein oder zweimal.“ „Ich höre?“ „Seine Wohnung stand Ende Oktober unter Wasser. Er schrieb mir eine E-Mail, in der er andeutete, ich könne etwas mit dem Rohrbruch zu tun haben und dass er auf keinen Fall in Betracht ziehen würde, zu mir zu ziehen, bis seine Wohnung wieder bewohnbar wäre.“ „Wie kommt er darauf, Sie könnten etwas damit zu tun haben?“ „Die Unstimmigkeiten.“ „Unstimmigkeiten?“ „Wir wollten nicht darüber reden.“ „Ähm... ja. Was haben Sie ihm geantwortet?“ „Dass ich es ihm ohnehin nicht angeboten hätte, zu mir zu ziehen, immerhin sei mein Haus kein Tierheim.“ Sie wollte etwas erwidern, verstummte aber als der Kellner wiederkam, um ihre Bestellungen aufzunehmen. „Sie schreiben sich also regelmäßig mit ihm?“, fragte sie, sobald der Kellner ihnen den Rücken zugedreht hatte. „Ich würde nichts, was in irgendeinem Zusammenhang mit Wheeler steht, als ‚regelmäßig’ bezeichnen. Aber wir schreiben uns recht häufig.“ „Und Sie haben es bislang nur rein zufällig versäumt, mir das zu sagen.“ „Sie haben mich nie danach gefragt.“ „Wenn Sie bisher von ihm geredet haben, klang das immer so als wäre es nur jemand, den Sie während ihrer Schulzeit gekannt und dann aus den Augen verloren haben.“ „Nun ja-“ „Vergessen Sie’s einfach. Sie sagten, sie hätten ihn noch öfter gesehen.“ „Ja, aber ich denke nicht, dass ich das jetzt mit Ihnen auseinandernehmen will.“ Sie fuhr sich in einer müden Geste mit der Hand über die Stirn. „Meinetwegen. Sagen Sie mir nur, wann Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben.“ „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“ „Sagen wir einfach, ich bin neugierig“, sagte sie trocken. Kaiba hob eine Augenbraue und verzog seinen Mund zu etwas, das einem Lächeln ähnelte. ~*~ Okay, dieser Tag war schlecht gewesen. Ganz schlecht. Joey würde ihn einfach darunter abbuchen und ihn vergessen, es sei denn, es würde ihm heute noch etwas ganz spektakulär Gutes passieren. Aber da es schon ziemlich spät war, war das eher unwahrscheinlich. Er hasste es zu kellnern. Er hasste es, wenn hektische und schlecht gelaunte Vorgesetzte ihn herumkommandierten und ihn zum Sündenbock für ihre Fehler machten. Er hasste die Snobs, denen er servierte. Und er hasste es mehr als alles andere, dass Kaiba ausgerechnet heute einer dieser Snobs war. Wer aß schon unter der Woche mal eben in einem französischen Restaurant Mittag, in dem eine Vorspeise mehr kostete als Joey in der Woche für Essen ausgab? Er hoffte entgegen aller Vernunft, dass Kaiba ihn nicht bemerkt hatte. Andererseits war es Kaibas Schuld gewesen, dass er seinen letzten Job verloren hatte. Der Typ konnte ruhig sehen, was er angerichtet hatte. Hätte diese Frau nicht mit am Tisch gesessen, wäre er schon hingegangen und hätte Kaiba seine Meinung gesagt! Oder auch nicht... Immerhin hatte er alle Hände voll zu tun und überhaupt keine Zeit. Oh Gott, Kaiba hatte ihn so was von bemerkt. Und er würde ihn damit nerven. Es würde garantiert irgendein dummer Spruch in der nächsten E-Mail stehen. Warum musste ihm ausgerechnet an seinem letzten Tag in diesem verfluchten Restaurant Kaiba begegnen? Wäre er nur einen Tag später- Joey blieb abrupt stehen. Verdammt! Heute war sein letzter Tag gewesen. Morgen fing er seinen neuen Job an. Einen mit vernünftigen Arbeitszeiten und hoffentlich erträglicheren Mitarbeitern. Warum hatte er da nicht dran gedacht, als er noch im Restaurant war? Das wäre die Gelegenheit gewesen, diesem fetten Schwein von einem Küchenchef mal zu sagen, was er von ihm hielt. Joey ging missmutig weiter. Warum hatte er sich nur von Kaibas unerwartetem Auftauchen so sehr ablenken lassen? Sein Weg führte ihn hinunter in den U-Bahnhof und von da aus in überfüllten Wagons ein Stück aus der Innenstadt heraus. Und wer hätte es gedacht: der Tag konnte doch immer noch schlimmer werden. „Hey, Joey!“, kam eine dumpfe, tiefe Stimme aus der zusammengequetschten Menschenmenge. Oh. Nein. Joey zog den Kopf ein, in der Hoffnung, der Besitzer der Stimme würde ihn vielleicht wie durch ein Wunder aus den Augen verlieren und tat so als hätte er unter dem Kreischen und Rattern der U-Bahn nicht eben seinen Namen gehört. Er verfluchte seine auffälligen Haare als sich die Menschen in seiner Nähe unter Stöhnen und bösen Blicken zur Seite schoben, um für den Mann Platz zu machen, der sich hastig herandrängelte. „Hi, Dad“, grüßte er, ohne sich die Mühe zu machen, Freude zu Heucheln. Warum hatte er so ein Pech? Die Lautsprecherdurchsage kündigte den nächsten Bahnhof an und er brachte eine Art entschuldigendes Lächeln zustande. „Tut mir leid. Ich muss hier raus.“ Er schob sich langsam in Richtung Tür vor, als der Zug im Bahnhof einfuhr und hoffte, dass sein Vater ihm nicht folgen würde. Vergeblich. Als er ausstieg und ein paar Schritte ging, klebte der Typ an ihm wie eine Klette. „Nun warte doch mal Joey. Ich wollte nur wissen wie’s dir geht. Wir sehen uns so selten.“ Und das würde auch so bleiben. Gott sei Dank hatte er inzwischen eine eigene Wohnung und ein eigenes Leben. Joey atmete tief durch und drehte sich um. „Mir geht es gut. Blendend. Könnte nicht besser sein. War sonst noch was?“ „Das ist schön zu hören. Bei mir läuft es zur Zeit leider gar nicht gut“, sagte sein Vater. Wer hätte das gedacht. Warum konnte er nicht einen Vater haben, wie die meisten anderen Leute? Einen, der sein Leben in den Griff bekam. Er müsste ja nicht mal eine große Hilfe sein oder gar ein Vorbild, Joey kam ganz gut allein klar. Aber er hatte es echt nicht verdient, auch noch für seinen alten Herrn verantwortlich zu sein. Sie standen eine Weile auf dem Bahnsteig herum und schwiegen sich an, während die Leute an ihnen vorbei hasteten. Es hatte keinen Sinn. Sein Vater hatte Blut gewittert und würde ihn nicht eher in Ruhe lassen bis er hatte, was er wollte. Er kramte sein Portemonnaie raus und warf einen Blick hinein. „Okay, Dad. Ich habe... zweitausend Yen mit. Leider schwimm ich selbst nicht gerade im Geld, aber du kannst sie haben, wenn es dir weiterhilft.“ „Das wär’ toll von dir, Joey. Ich geb’s dir auch bestimmt zurück.“ Ja, sicher. Aber er sagte nichts weiter, drückte seinem Vater das Geld in die Hand und wartete auf die nächste Bahn. ~*~ Als Kaiba nach Hause gekommen war, hatte er schon von weitem gesehen, dass im Zimmer seines Bruders noch Licht brannte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es fast zwei Uhr morgens war und er seufzte innerlich. Als der die Tür öffnete, sah er Mokuba über die Tastatur gebeugt dasitzen und einhändig dahintippen, während er sich mit der anderen Hand die langen Haare aus dem Gesicht strich. Mokuba sah auf und lächelte. „Hi, Seto.“ „Warum bist du noch wach? Wenn ich mich nicht sehr irre, hast du morgen Schule.“ „Ja. Aber ich musste aufbleiben und warten, bis du wiederkommst, um dir auszurichten, dass Methew Kale von der BlueShipping angerufen und mich gebeten hat, dir persönlich mitzuteilen, dass er das Treffen morgen doch noch um eine Stunde vorverlegen konnte, also um acht, statt um neun. Außerdem hat Laurettas Vater angerufen und lässt ausrichten, dass er erwartet, dass du innerhalb dieses Quartals noch einen Termin machst, also innerhalb der nächsten Woche, da du dich andernfalls mit deiner Krankenkasse in Verbindung setzen müsstest.“ „Wer ist Lauretta?“ „Miss Mould, die Tochter deines Hausarztes. Aka deine Psychotherapeutin, aka deine gute Bekannte, mit der du dich ein bis zweimal monatlich zum Mittagessen triffst, um über dich zu sprechen. Oder über was auch immer. Apropos, wie war das Treffen heute?“ „Wie immer so angenehm wie ein Besuch beim Zahnarzt. Sie interessiert sich neuerdings nicht mehr für mich, sondern für Wheeler.“ „Das kann ich verstehen.“ „Aha. Ich nicht.“ „Wie auch immer. Es wäre schön, wenn du Kale morgen klar machen könntest, dass ich nicht dein persönlicher Assistent, deine Sekretärin oder für was auch immer er mich hält bin und er dich gefälligst wie alle anderen Leute in der Firma anrufen soll, auch wenn die Warteschleife noch so lang ist.“ „Ist gut“, hakte Seto das Thema ab und warf einen kurzen Blick auf Mokubas Computerbildschirm. „Mit wem chattest du da?“ „Mit niemandem.“ Und schwupps, war das Fenster zu. In Kaiba stieg eine schlimme Ahnung auf. „Bitte sag mir, dass es nicht Rebecca ist.“ „Es ist nicht Rebecca? ... Na gut, es ist Rebecca. Sie will im Juli herkommen, deshalb planen wir schon mal.“ „Im Januar.“ „Du selbst sagst immer, eine gute, langfristige Planung ist das A und O jeder erfolgreichen Unternehmung.“ Kaiba bezweifelte, dass eine Unternehmung, an der Rebecca beteiligt war, überhaupt eine Chance hatte, erfolgreich zu werden, aber er gab zu, dass er voreingenommen war. „Geh langsam schlafen.“ „Sagt Mr. Insomnia höchstpersönlich. Lauretta hatte ein Gespräch mit mir-“ „Heute?“ „Nein, das ist schon eine Weile her. Sie meinte du hättest auf deine Schlafenszeiten hin angesprochen ihr gegenüber besorgniserregende Dinge geäußert und ich solle ein wenig auf dich Acht geben.“ „Sag ihr das nächste mal, dass es gegen die ärztliche Schweigepflicht verstößt, wenn sie dritten gegenüber solche Äußerungen macht.“ „Versuch ihr das selbst zu sagen und sie wird dir dasselbe sagen wie ich, nämlich dass sie nicht der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt, da sie nicht deine Ärztin ist, da du, wie wir alle wissen, keine Probleme hast.“ Erwischt. Kaiba lächelte. „Richtig. Um weiteren Diskussionen vorzubeugen, schlage ich vor, dass wir jetzt beide schlafen gehen.“ „Kein Problem. Ich grüß Rebecca noch schnell von dir und dann mach ich Schluss. Nacht, Seto.“ „Gute Nacht, Mokuba.“ ~*~ Mokuba stand vor den Terrarien mit den Echsen und Vogelspinnen, den Wolfskin-Survival-Schulrucksack über einer Schulter hängend und beobachtete ein großes, grünes, schuppiges Irgendwas, dass bewegungslos zurückstarrte. „Joey? Was ist das?“ Joey, der gerade Säcke mit Hundefutter und Katzenstreu in den Laden schleppte, drehte sich nach ihm um. „Der große? Ein Basilisk.“ „Hat er einen Namen?“ „Seto.“ Mokuba drehte sich um und hob eine Augenbraue und obwohl er seinem großen Bruder eigentlich nicht besonders ähnlich sah, machte es diese Geste offensichtlich, dass sie verwandt waren. „Ich nenne ihn zumindest so“, sagte Joey, rückte sich den 20-Kilo-Vorratssack mit supersaugfähigem, geruchsneutralem Katzenstreu zurecht und überwand die letzen paar Schritte, bevor er das Ding zu den anderen in die unteren Regalreihen beförderte. „Allerdings sollte ich mir das vielleicht noch mal überlegen. Ich glaub, es ist ein Weibchen.“ Mokuba lächelte. „Seto war vor kurzem wieder mit Lauretta essen.“ „Ich weiß, ich hab sie gesehen.“ „Oh, cool. Und? Warst du eifersüchtig?“ Joey lachte. „Wenn ich jemals glaube, dass er mich mit seiner Psychologin betrügt, dann weiß ich, dass ich paranoid bin.“ „Sie hat mir gesagt, sie würde dich gern mal kennenlernen. Nicht als Therapeutin, aus rein persönlichem Interesse.“ Kaiba wäre sicherlich entzückt. Joey beschloss, darauf zurückzukommen, wenn er das nächste Mal so richtig schön sauer auf ihn war. Im Augenblick wechselte er lieber das Thema. „Denkst du nicht, dass du irgendwann mal aufhören solltest, dich in das Leben deines Bruders einzumischen?“ „Glaub mir, niemand braucht Einmischung dringender als er. Außerdem kann er mir nicht böse sein.“ „Weil du es nur gut meinst?“ „Nein, weil er mir einfach nicht böse sein kann.“ Mokuba hatte eine sehr berechnende Ader unter dieser unbesorgten Fassade. Eigentlich war er schlimmer als Seto. Er hatte nicht nur die Willenstärke, sondern auch noch Charme – was man von Seto nicht gerade behaupten konnte. Das Resultat war, dass Mokuba alle Leute um den kleinen Finger wickelte und manipulierte, ohne dass die armen Opfer auch nur die Spur davon mitbekamen. „Sag mal, hast du schon mal darüber nachgedacht, in die Politik zu gehen?“ Mokuba lachte. „Klar, mein Dreistufenplan, Weltherrschaft und so, alles schon fertig ausgearbeitet.“ Joey lachte mit, konnte sich aber des Gefühls nicht erwehren, dass es zumindest halb ernst gemeint war. ~*~ Neuer Job, neues Glück. Es hätte so nett sein können bei der lauschigen Firma, bei der er bis vor ein paar Monaten gearbeitet hatte. Das Layout für Werbeprospekte und Kataloge zu entwerfen war zwar nicht gerade die Erfüllung seiner beruflichen Träume, aber Joey war damit zufrieden gewesen. Die Stimmung unter den Mitarbeitern war mies aber chillig, alles war eher ruhig vor sich gegangen und die Unterwäscheseiten waren immerhin ein bisschen interessant gewesen. All das vorbei. Die ungünstige Kombination eines vielleicht etwas sexuell belästigenden Chefs mit einem sich ungefragt in sein Leben einmischenden Seto Kaiba hatte zu seiner fristlosen Kündigung geführt und der nicht eben neuen Erkenntnis, dass Kaiba beängstigend sein konnte, zumindest für den größten Teil der Menschheit. Für Joey bedeutete es nur eines, nämlich stressiges und teures Bewerbungenschreiben, noch stressigere Vorstellungsgespräche, und wechselnde Kellnerjobs. Und Joey hasste es, auf Mindestlohnbasis zu jobben, wenn am Ende nicht mal ein Trinkgeld heraussprang, weil er mal wieder seine große Klappe nicht hatte halten können. Aber jetzt würde alles besser werden. Endlich hatte er einen richtigen, echten Job gefunden. Mit festen Arbeitszeiten und Krankenversicherung und ohne das Gehetze des Dienstleistungssektors. Einzelhandel hieß das Zauberwort und ja, Joey konnte sich schon vorstellen, was Kaiba dazu sagen würde, wenn er herausfand, dass es ausgerechnet ein Zoofachgeschäft war. Als er an diesem Tag von der Arbeit nach Hause kam, war es – Wunder über Wunder – noch fast ein bisschen hell. Okay, es war Januar, da konnte man nicht allzu viel erwarten, aber wenn es erst mal Sommer war, würde es um diese Zeit noch hell sein und Joey hoffte doch sehr, dass er den Job dann immer noch haben würde. Sein Briefkasten, der etwas windschief in dem versifften Hausflur hing, quoll nur so über vor Werbeprospekten (von denen er ironischerweise einige selbst entworfen hatte) und als er mit einem Stapel zukünftigen Altpapiers unter dem Arm seine Wohnung betrat, war seine gute Laune dahin. Direkt gegenüber der Wohnungstür, dort wo man es beim Eintreten sofort sah, dort wo, wie er inzwischen aus leidvoller Erfahrung wusste, hinter der Wand die Kaltwasserrohre entlangliefen, schälte sich die schöne, neue Tapete von den Wänden. Es gab Momente, da hasste er diese seine Bruchbude aus tiefstem Herzen, ganz zu schweigen von seinem Vermieter, der immer die blöde, billige Schwarzarbeitsfirma seines Schwagers mit Reparaturmaßnahmen betraute. Was dann da herauskam waren Dinge wie das: Schlampig ausgeführter Mist, der auseinanderfiel, sobald man ihn scharf ansah. Was hatten die da gemacht? Hatten die vorm Rübertapezieren das Mauerwerk nicht ordentlich austrocknen lassen? Hatten die das scheiß Rohr mit Kaugummi abgedichtet? Das Schlimme war, dass er eine Vision von schwarzem Schimmel in den Wänden hatte und dass er wusste, dass sich solche Visionen bei ihm immer bewahrheiteten. Es war schon schlimm genug seine Wohnung mit einer Armee von Spinnen und Küchenschaben zu teilen. Aber das war zuviel. Joey wusste, dass er irgendwas tun würde, er musste nur noch darauf kommen, was. Zunächst mal versuchte er es mit der altbewährten Taktik. Sich auf das Nächstliegende konzentrieren. Vielleicht hatte er ja mal zu Abwechslung Glück und zwischen seinen Werbeprospekten befand sich eine Benachrichtigung über einen größeren Gewinn in der staatlichen Lotterie. Zu dumm nur, dass er kein Lotto spielte. Tatsächlich befand sich auch nur die Gasrechnung darunter, sowie ein Schein eines Lieferservice, der ihn darüber unterrichtete, dass ein Paket für ihn bei der alten Frau in der Wohnung über ihm abgegeben worden war. Der Rest war der übliche Werbemüll und wurde umgehend entsorgt. Joey zögerte eine Weile, bevor er beschloss, dass er das Päckchen noch heute abholen würde. Er war einfach zu neugierig, um es nicht zu tun, auch wenn er wusste, dass er es nur im Austausch gegen den neuesten Hausklatsch sowie die detailreichen Schilderungen der spannenden Neuerungen, die das Leben einer Achtundsiebzigjährigen so mit sich brachte, erhalten würde. All das zu einer Tasse Tee mit undefinierbarem Geschmack und bröseligem Fertiggebäck. Eine knappe Stunde später kehrte er in die Wohnung zurück, mit dem Wissen, dass Katzen Magendarmgrippe bekommen konnten, womit man sie zum Tierarzt bringen konnte, dass seine Nachbarin durch einen hohen Konsum von Milchprodukten ihre Knochen stärkte und deshalb nichts passiert war, als sie neulich von der Leiter gefallen war, als sie die Gardinen zum Waschen abgenommen hatte sowie dass Obst und Gemüse außerhalb der Saison zwar neuerdings erhältlich waren, allerdings mit dem Aroma und der Konsistenz der in der Region geernteten Früchte nicht mithalten konnten. Soweit mit Lebensweisheit abgefüllt, begutachtete er das Päckchen, dass er bekommen hatte. Es war klein und flach, klapperte nicht. Es hatte das Gewicht eines Buches, das Format eines Buches und als er es öffnete, entpuppte sich der Inhalt als ein Buch. Kein besonders dickes. Auf dem Cover war ein niedlicher Hund abgebildet und der Titel war „Tierhaltung für Dummies“. Auf dem handgeschriebenen Zettel, der herausfiel als er es öffnete, stand: „Damit sie dich nicht gleich wieder feuern. – SK“ Die Initialen hätte er sich sparen können. Wer, den Joey sonst kannte, benutzte bitte Büttenpapier mit Wasserzeichen? Das Buch landete auf dem Küchentisch, der Karton auf, nein doch knapp neben der Kiste mit dem Altpapier und Joey schaltete seinen altersschwachen Computer an, der mit dem üblichen Schnaufen und Surren hochfuhr. Ungefähr fünf Minuten später fühlte sich das Ding sogar in der Lage, ihm seine E-Mails anzuzeigen. Spam, Spam, E-Mail von Tea, Betreff: „Re:Re:Re:Re: Besuch 7. – 10.2.“, E-Mail von Kaiba, Betreff: „Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re: Hält sich für Bruce Wayne“, E-Mail von Yugi, Betreff: „Duell am Samstag“, E-Mail von Kaiba: „Re:Re:Re: Töte für Nahrung“, Spam, Spam. Oh, doch nicht. Warum schrieb Tristan E-Mails mit dem Betreff „Ey, das musst du dir angucken, Alter!“? Bekam der selbst keinen Spam? Tristans E-Mail enthielt einen Link zu irgendeiner Regenbogenpresseseite im Internet, in der ein interessanter Artikel über Kaiba stand. ~*~ „... waren, wie wir sehen, in der Lage nach der Übernahme durch geschickte Investitionen und Synergie-Effekte im letzten Quartal große Gewinne zu erzielen“, fasste der Finanzmanager seine ausschweifende Rede noch mal zusammen. Zu Kaibas wachsendem Entsetzen fing er daraufhin noch einmal an, alle positiven Entscheidungen seinerseits aufzuzählen. Nur mit Mühe unterdrückte Kaiba ein Seufzen. Wenn der Mann in Krisen nur halb so detaillierte Analysen geben würde, wäre er sein Geld wahrscheinlich sogar wert. Ein kleines blinkendes Symbol auf Kaibas Taskleiste zeigte eine neue E-Mail an. Betreff: Unfassbare Gerüchte Es wird behauptet, man hätte dich mehrmals (!) in der Öffentlichkeit (!) mit einer Frau (!) gesehen. Du hättest gegessen (!) und geredet (!). Es gab ein Beweisfoto. Spekulationen zufolge ist sie deine Verlobte (!). Sie unterstellen dir also, du hättest vor zu heiraten (!). Bitte sag mir, dass das wahr ist. Ich könnte endlich ein normales Leben haben, das wäre toll. Joey PS: Lad mich zur Hochzeit ein, ich wollte immer schon mal mit feinen Pinkeln Schampus schlürfen (abgesehen von dir) Kaiba runzelte die Stirn und beschloss, nach dieser Besprechung umgehend die PR-Abteilung aufzusuchen. Mr. Junges Finanzgenie badete immer noch im Triumph seines ersten siebenstelligen Gewinns. Völlig ungerechtfertigt, die BlueShipping-Übernahme war von Anfang an eine todsichere Investition gewesen. Kaiba ließ ihn reden und wandte sich wieder seinem Labtop zu. Betreff: Re: Unfassbare Gerüchte Eifersüchtig? SK PS: Ich wüsste nicht, inwiefern ich Dich von einem normalen Leben abhalte. Die nächsten E-Mails kam keine drei Sekunden nachdem er die Antwort versandt hatte. Betreff: Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re:Re: Hält sich für Bruce Wayne Wie kannst du immernoch behaupten du hättest nichts damit zu tun, dass sie mich gefeuert haben?! Danke übrigens für das Buch, du Spinner. Ist das schönste, was ich seit „Hunde lügen nicht – Die großen Gefühle unserer Vierbeiner“ bekommen hab. >P Und wenn du nicht willst, dass meine Paranoia mich irgendwann dazu bringt brabbelnd in der Klapse zu sitzen, hörst du lieber ganz schnell auf mir hinterherzuspionieren. Beim nächsten Treffen keine dummen Bemerkung zu meinem neuen Job! Vielleicht verzeih ich dir dann irgendwann mal deinen hirnrissigen Einsatz zur Rettung meiner Unschuld. Bitte was? Damit hatte er nun wirklich nichts zu tun. Kaiba beschloss, dass diese Mail keiner Antwort würdig war. Die Sitzung plätscherte weiter vor sich hin und er wünschte sich inbrünstig die guten alten Dossiers zurück, riss sich dann aber zusammen und erinnerte sich nachdrücklich daran, wie sehr solche abteilungsübergreifenden Besprechungen die Effizienz des Unternehmens erhöhten. Er unterdrückte ein Seufzen und öffnete die zweite Mail. Betreff: Re:Re:Re:Re: Töte für Nahrung Scheiße! Sorry, vergessen, neuer Job. Alles deine Schuld. Joey ______________ Du warst nicht da. SK ______________ 1. Du hast keine Ahnung 2. Sagt der Mann mit dem wehenden Mantel Joey PS: Was an „Mir kommt die Pizza aus den Ohren raus“ kannst du nicht verstehen? Donnerstag um 12 ist ok, aber wir nehmen den Mexikaner nebenan ______________ 1. Die Auswahl an Tiefkühlgerichten geht heutzutage weit über Pizza hinaus und ist, wie ich gehört habe, vielfältig, wohlschmeckend und gesund. 2. Ich habe keine Ahnung, von welchen dunklen Geheimnissen Du sprichst, aber Du bekommst Punkte für Melodramatik. SK PS: Donnerstag, 12 Uhr, der Italiener an der Hauptstraße? ___________________ Heute ist der Tag, an dem mir die Tiefkühlpizza zu den Ohren rauskommt. Lad mich zum essen ein oder ich such mir einen Klatschreporter, der es tut und verrate ihm alle deine dunklen Geheimnisse. Joey Ah, das traf sich gut. Wegen schlechten Wetters war sein Jet später als geplant hier angekommen. Kaiba war über eine Dreiviertelstunde verspätet beim Mexikaner aufgetaucht und war nicht weiter erstaunt gewesen, Joey nicht mehr vorzufinden. Unverzeihlich., antwortete er prompt. Er zog gerade widerwillig in Erwägung seine Aufmerksamkeit wieder der Besprechung zu widmen und registrierte das erneute Blinken seines Postfaches mit Erleichterung. Betreff: Re:Re: Unfassbare Gerüchte Kann ich nicht sagen. Ich finde es eher super von Mokuba, dass er dir endlich einen Seelenklempner verschafft hat. War lange überfällig & dringend nötig. Joey PS: Du atmest. Wann hatte Joey mit Mokuba geredet? Bei näherer Überlegung, wann redeten sie mal nicht miteinander? Betreff: Re:Re:Re: Unfassbare Gerüchte Was machst du heut Abend? SK PS: Ich fasse das als Kompliment auf. Die Besprechung endete wenige Minuten später damit, dass Kaiba die Anwesenden mit knappen Worten ins Wochenende verabschiedete und zwanzig Mitarbeiter in leitenden Positionen fluchtartig den Raum verließen. Betreff: Re:Re:Re:Re: Unfassbare Gerüchte Verabredung mit Fernseher. Sofa breit genug für zwei. Könnten auch dem Wasserfleck an der Wand beim Wachsen zusehen. Bring Essen mit. Joey PS: Ich kann dich nicht davon abhalten., las Kaiba noch, bevor er seinen Laptop ausschaltete und den Raum verließ. ~*~ Die PR-Abteilung lag im ersten Stock des Hauptgebäudes der Kaiba Corporation. Der Eingangsbereich war großzügig bemessen und durch die Glasfront fiel helles Licht auf weiße Wände und Möbel, ein halbes Duzend strategisch verteilter Zimmerpflanzen und bunte Pop-Art. Die Dame am ebenfalls weißen Empfangstresen, die dafür verantwortlich war, Informationsbroschüren an Besucher zu verteilen und einmal die Woche eine Führung für Schulklassen zu veranstalten, wünschte Kaiba freundlich einen guten Tag und beeilte sich ihrer Chefin, Ann Ademec, bescheid zu geben. Als Kaiba ihr Büro betrat, kam ihm Miss Ademec schon entgegen. Wie immer war ihr Outfit tadellos, wenn auch modisch schwer einzuordnen und in einem einzigen, leuchtenden Farbton gehalten; heute war es Orange. Ihre platinblond gebleichten Haare standen in einer wilden, aber keineswegs zufällig wirkenden Frisur in die unterschiedlichsten Richtungen ab und ihre braunen Augen blitzten Kaiba über die rahmenlose Brille hinweg an. „Ich nehme an, Sie sind hier, um mit mir über Ihre Verlobung zu sprechen. Das ist großartig, Seto“, sagte sie begeistert, während sie mit beiden Händen Kaibas Hand ergriff und sie enthusiastisch schüttelte. Kaiba machte sich los und setzte sich auf einen der Sessel, die vor dem Schreibtisch standen, Ann nahm ihm gegenüber auf dem zweiten Besuchersessel platz. Miss Ademec wirkte immer begeistert. Kaiba hatte sich schon vor geraumer Zeit mit dieser irritierenden Eigenschaft abgefunden. Genauso wie er ihr Händeschütteln und ihren inflationären Gebrauch seines Vornamens mit einem inneren Stirnrunzeln über sich ergehen ließ. Die Frau war ein Genie auf ihrem Gebiet. Sie wusste, was die Leute hören wollten, bevor es die Leute selbst wussten. „Der Artikel erschien heute morgen in der Celebrity, sowohl gedruckt, als auch auf der Homepage. Es sollte kein Problem darstellen, eine Richtigstellung zu erwirken. Die Domino Daily hat um eine Stellungnahme gebeten, im Falle einer Bestätigung bieten sie uns 35 Prozent des Reinerlöses aus einer exklusiven und, wie sie betonten, integren Berichterstattung über die Hochzeit“, berichtete Miss Ademec in aller Kürze. Warum zur Hölle waren alle so scharf auf eine Hochzeit? „Wir dementieren“, sagte Kaiba. „Wieviele Prozesse laufen zurzeit gegen Celebrity?“ „Einer, aber der dürfte sich nächste Woche zu unseren Gunsten entscheiden.“ Kaiba nickte. „Dann veranlassen Sie nach der Besprechung umgehend, dass Kline sich um eine weitere Klage kümmert.“ Miss Ademec nickte zustimmend und lächelte gewinnend. „Darf ich denn fragen, was an den Gerüchten dran ist?“, fragte sie. Das Stichwort hieß Medienrelevanz und somit durfte sie wohl. „Miss Mould ist eine gute Bekannte“, erklärte Kaiba widerwillig. „Ich hatte zu keinem Zeitpunkt vor, sie zu heiraten. Ich glaube auch, sie erwähnte einmal, dass sie verlobt sei“, setzte er hinzu. „Das ist schade, Seto“, sagte Ann ohne erkennbare Betrübnis. „Eine Verlobte hätte sich zu diesem Zeitpunkt sehr gut gemacht.“ „Inwiefern?“, fragte Kaiba verblüfft. „Die Kaiba Corporation wird von der Öffentlichkeit hauptsächlich als Spielzeugfabrikant gesehen. Eine einzig und allein profitorientierte Leitung wird nicht gut aufgenommen. Wir brauchen ein gewisses Image. Sie als Leiter waren insofern ideal, dass Sie selbst noch ein Kind waren. Aber inzwischen lassen Sie sich nicht mehr als Wunderkind vermarkten, Seto. Ihr überwiegend positives Bild in den Medien beruhte in den letzten Jahren auf ihrem Image als fürsorglicher großer Bruder und ihrem einwandfreien Lebenswandel. Nur, auf den können wir uns nicht stützen, wenn Mokuba erst mal erwachsen ist. Sie sind 24, eine Verlobung wäre jetzt ideal. Längerfristig könnten wir auf ein Image als jungem, dynamischen Familienvater hinarbeiten. Zwei Kinder wären ausgezeichnet, im Idealfall ein Junge und ein Mädchen.“ Kaiba sah sich für einige Sekunden außer Stande, mehr zu tun, als ihren erwartungsvollen Blick mit stummem Entsetzen zu erwidern. „Ein Scherz“, lenkte Miss Ademec mit besorgtem Blick ein, als eine Antwort ausblieb. „Wir dementieren also.“ „Wir dementieren“, bestätigte Kaiba noch einmal. Ann schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das besagte, dass die Angelegenheit schon so gut wie erledigt war. „Sehr gut. Der zweite Punkt, weswegen ich Sie sprechen wollte: Die Business Today hat angefragt, ob Sie bereit wären ein Interview zur Übernahme der BlueShipping zu geben...“ ~*~ „Auf einer Skala von eins bis zehn: wie schlecht war dein Tag?“, fragte Joey als erstes nachdem er die Tür aufgemacht hatte. „Bedeutet eins gut oder schlecht?“, fragte Kaiba leicht irritiert zurück. Joey zuckte die Schultern. „Gut. Mit Zahlen unter drei kannst du gleich wieder gehen. Bei zehn müsste schon jemand gestorben sein.“ „Dann acht.“ „Das ist hart“, sagte Joey und sah ein kleines bisschen zufrieden aus, als er den Durchgang zur Wohnung freigab. „Was gibt’s zu essen?“ Kaiba folgte ihm. „Mexikanisch.“ „Aber nicht dieses extrascharfe Zeug, was man nicht essen kann, ohne Schweißausbrüche zu kriegen.“ „Geben sie einem das, wenn man nicht explizit danach fragt?“ „Nur wenn man ihnen unsympathisch ist.“ „Das werden wir dann rausfinden...“, sagte Kaiba mit einem skeptischen Blick auf die Tüte. Joey schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. „Willst du wissen, wie schlimm es war?“, fragte er dann. „Nur wenn es unbedingt sein muss.“ Joey grinste. „Muss es. Kennst du diese Teddyhamster? Diese unglaublich kleinen, knopfäugigen, flauschigen Dinger?“ „Ja. Mokuba hatte ein paar von denen. Ich glaube es lebt eine größere Population zwischen den Wänden und unter dem Parkett. Ich darf kein Rattengift streuen.“ „Genau die. Wusstest du, dass die beißen können?“ „Ja.“ Joey hielt eine Hand vor Kaibas Gesicht, an der mehrere winzige Zahnabdrücke zu erkennen waren. „Ich hasse die Viecher.“ „Meine PR-Beraterin hat mich mit meiner Familienplanung konfrontiert. Ich weiß nicht, ob ich mich von dem Schock jemals wieder erhole. Außerdem meinte sie, ich wäre alt.“ „Warum klingen deine Geschichten immer soviel abgedrehter?“ Joey machte sich los und nahm Kaiba die Tüte ab, dann ging er in die Küche, um das Essen auf Teller zu packen. „Das sieht furchtbar aus.“ Kaiba war vor dem Wasserfleck stehen geblieben und starrte ihn an als hätte er noch nie einen gesehen. Joey zuckte nur die Schultern, auch wenn Kaiba ihn nebenan nicht sehen konnte. „Ich hab überlegt… meinst du es hilft, wenn man ihn föhnt?“ „Sie sollten das Haus abreißen.“ „Hast du’s nicht ne Nummer kleiner? Ich hab echt schon schlechter gewohnt.“ „Verschon mich mit deiner traurigen Kindheit.“ Joey ging mit beiden Tellern zum Sofa und machte sich dann daran, den mitgebrachten Wein in zwei Gläser zu gießen. Ehemalige Senfgläser, die nicht zusammen passten. Kaiba sagte nichts mehr dazu. Es brachte sowieso nichts, also hatte er schon vor geraumer Zeit beschlossen, einfach das Campingflair zu genießen, wenn er bei Joey zu Gast war. „Du könntest wieder zu uns ziehen, das weißt du?“ Eigentlich hatte Kaiba sich vorgenommen, nichts zu sagen. Joey schüttelte nur lachend den Kopf. „Keine gute Idee.“ Er setzte sich neben Kaiba aufs Sofa und beide fingen an zu essen. „Warum?“, fragte Kaiba nach einer Weile irritiert. „Wir haben uns nur gestritten“, antwortete Joey zwischen zwei Bissen. „Das schmeckt echt gut, wir könnten da öfter hingehen.“ „Aber du streitest dich gern mit mir!“ Joey stellte seinen Teller mit einem Seufzen weg. „Schon, aber nicht, wenn ich auf deine Kosten lebe.“ „Aber es war praktisch.“ „Ich will nicht praktisch sein.“ „Das ist offensichtlich“, sagte Kaiba und wirkte inzwischen ernsthaft genervt. „Warum fängst du dauernd davon an? Du hast doch nichtmal was davon. Ist nicht so, als ob du oft zuhause wärst. Und ich hab gern eine eigene Wohnung.“ „Sei nicht albern.“ Kaibas Blick huschte kurz zum Wasserfleck. „Das hier?“ Joey funkelte ihn wütend an. „Mit deiner bescheuerten Marmorfreitreppe kann das nicht mithalten, alles klar. Wenn du es so schrecklich findest, kannst du gern gehen. Und entschuldige bitte, dass ich es nicht auf dein Geld abgesehen habe.“ „Kein Mensch weiß, worauf du es abgesehen hast!“ Joey antwortete nicht, sondern fing wieder an zu essen. Es machte Kaiba immer perplex und einigermaßen besorgt, wenn Joey aufhörte zu kläffen. Man wusste nie, was als nächstes kam. Manchmal machten sie Schluss, manchmal hatten sie Sex. Und manchmal sagte er einfach nur haarsträubenden Blödsinn. „Wir sind einfach noch nicht soweit, okay?“, sagte Joey schließlich gereizt. „Gib uns... ich weiß nicht, zehn, zwanzig Jahre?“ Einen Moment sah Kaiba ihn verdutzt an und ein beinahe verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Joey lachte und stopfte sich schnell noch ein Paar Nachos in den Mund – einfach, damit Kaiba sich nicht mit einem Kuss aus der Affäre ziehen konnte und um ihn noch ein bisschen zu quälen. Er reagierte auf Romantik, selbst in homöopathischen Dosen, immer wie ein Igel auf der Schnellstraße – oder vielleicht eine Kakerlake, wenn das Licht eingeschaltet wurde... jedenfalls wie etwas Nervöses und sehr Überfordertes. „Ich glaube nicht, dass man wirklich mehr als fünf davon auf einmal in den Mund nehmen sollte“, beschwerte Kaiba sich schließlich leicht angeekelt. Joey kaute mühsam. „Käse“, meinte er dann sehr undeutlich. „Die kleben zusammen.“ „Das ist keine Entschuldigung.“ Joey schluckte runter und schnappte sich einen neuen Nacho, den er stirnrunzelnd betrachtete. „Was ist eigentlich aus diesen Nachos aus der Tüte geworden? Die, die geformt waren wie kleine Dinosaurier. Die waren toll. Man konnte epische Schlachten veranstalten.“ „Man könnte glauben, du wärst geistig zurückgeblieben,“ sagte Kaiba, während er sich eine geistige Notiz machte, Nachos in Dinoaurier/Drachenform herstellen zu lassen. Joey steckte ihm die Zunge raus. „Wenigstens schmeiße ich keine Computer aus dem fünfundzwanzigsten Stock.“ „Wann hättest du auch schon mal die Gelegenheit dazu?“ „Aber diese Woche geht’s dir besser, ja?“ Kaiba widerstand dem Impuls hervorzuheben, dass es ihm nicht schlecht gegangen war. „Lass mich sehen. Die Übernahme ist abgeschlossen, ich habe astronomische Summen verdient-“ „Nach Abzug der Computer?“, frotzelte Joey. „Des Computers. Singular. Außerdem hab ich es dir schon mal erklärt: Was bekommt man, wenn man ‚Peanuts’ von ‚Astronomisch’ abzieht?“ „Astronomisch.“, sagte Joey gelangweilt. „Genau.“ „Wow, das freut dich wirklich, oder? Meinst du, wir sollten beim Sex irgendwas mit deinem Bankauszug machen?“ Einen Moment lang sah es so aus, als wolle Kaiba widersprechen, dann grinste er. „Deine Idee, nicht meine.“ Kapitel 2: Sequel: 2-14 ----------------------- Kaiba mochte den vierzehnten Februar nicht. Am vierzehnten Februar bekam er immer eine E-Card von Pegasus und E-Cards von Pegasus, besonders wenn sie am vierzehnten Februar kamen, gehörten ganz klar zu den vielen Dingen, auf die er dankend verzichten konnte. Vierzehnte Februare neigten auch dazu, sehr unproduktiv zu sein, weil die eine Hälfte der Angestellten darum bat, früher in den Feierabend gehen zu dürfen, und die andere Hälfte deprimiert und unmotiviert ihre Zeit absaß. Vierzehnte Februare waren in de Vergangenheit Tage gewesen, an denen verschiedene Personen in Kaibas Umfeld versucht hatten, ihn zu verkuppeln, was halb so schlimm wäre, wenn sie nicht tatsächlich erwartet hätten, dass er dann mit Wemauchimmer auch wirklich Zeit verbrachte. Kaiba hoffte, dass ihm wenigstens Letzteres dieses Jahr erspart bleiben würde. Die Chancen standen nicht schlecht. Zu irgendwas musste die... das beziehungsartige Ding mit Wheeler ja gut sein. Es war kurz nach vier und die Hälfte der Belegschaft schon gegangen, als es an Kaibas Bürotür klopfte und gleich darauf Mokuba den Kopf durch den Türspalt steckte. „Hast du noch viel zu tun?“ Kaiba wünschte sich wirklich, es wäre so. „Nein? Oh gut. Was machst du heut Abend?“ Mokuba war um den Schreibtisch herumgekommen, setzte sich auf die Tischplatte und linste neugierig auf den Bildschirm des Laptops. „Keine E-Card von Pegasus?“ „Nein,“ log Kaiba. „Schade, ich fand die rosa Drachen letztes Jahr echt lustig.“ Kaiba beendete noch den Brief, an dem er gerade schrieb, während Mokuba seine Büroklammern zu einer kleinen Girlande zusammensteckte. Joey hatte das auch getan. Was war so faszinierend daran, die Dinger so zusammenzumauscheln, dass man, wenn man eine brauchte, erst ewig an diesem Wust aus Metall rumfriemeln musste? „Muss das sein?“ „Gehst du heute mit Joey aus?“ „Nein, aber wir treffen uns bei ihm.“ Kaiba hoffte ernsthaft, dass der Schimmelfleck gegenüber der Tür inzwischen verschwunden war. „Hast du schon was besorgt?“ „Was besorgt?“ Mokuba legte die Büroklammerkette weg und sah seinen Bruder vorwurfsvoll an. Wenn er auf dem Tisch saß, war er größer und irgendwie irritierte Kaiba das ungemein. „Blumen... irgendwas.“ „Nein, ich hab nichts besorgt. Wozu?“ „Wir haben Va-... okay, den vierzehnten Februar“, berichtigte Mokuba schnell, als er Kaibas Unbehagen sah. „Es ist trotzdem völlig bescheuert.“ „Aber Joey wird dir bestimmt auch etwas schenken. Und wie würdest du dich dann fühlen?“ „Ich würde es überleben. Außerdem setzt du voraus, dass er weiß, welches Datum ist.“ ~*~ Als das Telefon klingelte war Joey bester Dinge. Er hatte heute früher frei bekommen, weil seine Chefin ein Date hatte und somit genug Zeit gehabt, ein weiteres Level in seinem neuen Playstationspiel abzuschließen. Und, wenn er das mal so sagen durfte, er war verdammt gut. Sein Score war zum ersten Mal seit Wochen wieder höher als Tristans und er hatte nicht schlecht Lust, ihn zu einem Spieleabend einzuladen, um das zu feiern. Nur nicht heute, der Abend war schon belegt. Joey drückte auf Pause und fragte sich müßig, ob man Kaiba vielleicht irgendwie dazu bringen konnte, gegen ihn Playstation zu spielen. Eigentlich müsste er ein ziemlich guter Gegner sein... Joey würde auch nie verstehen, wo bei Kaiba die Grenze zwischen kindischer Zeitverschwendung und... ähm, Duellmonsters verlief. Tea war am Telefon. „Ich wollte nur sichergehen, dass du weißt, welcher Tag heute ist.“, sagte sie nach der üblichen Begrüßung. „Mittwoch?“, fragte er in der Hoffnung, dass Tea einfach damit rausrückte, was es mit dem Datum auf sich hatte. Ihren Geburtstag hatte er jedenfalls nicht vergessen, der war... irgendwann im Sommer. Tea hatte das manchmal, dass sie sich aus unerfindlichen Gründen für deinen Kalender hielt. „Heute ist der vierzehnte Februar“, sagte sie schließlich. „Ah“, machte Joey... und schwieg. Vierzehnter Februar... hm... sollte ihm das was sagen? Er hörte Tea durchs Telefon seufzen. „Valentinstag, okay?“ „Oh! Ja, klar! Das wusste ich“, sagte Joey schnell. „Klar.“ ~*~ Der Blumenladen war verdammt voll. Blumenläden waren ja meistens schon nicht besonders angenehm. Die Luft war feucht und es roch nach allem möglichen Kram und der größte Teil des Bodens war mit viel zu bunten Pflanzen zugestellt. Alles war irgendwie unordentlich und chaotisch... und jetzt war es auch noch voll. Draußen nieselte es, die Menschen waren nass und stanken. Kaiba versuchte, sich so zu drehen, dass er möglichst wenig von anderen Menschen berührt wurde, während er in der Schlange stand, aber es war fast so schlimm, wie das eine Mal als Joey ihn zum Berufsverkehr in die U-Bahn gezogen hatte. Grauenhaft. Warum tat er sich das an? Er hasste den vierzehnten Februar. Das Glöckchen über der Tür klingelte und Kaiba stöhnte innerlich auf, weil das hieß, dass sich ein weiterer Kunde in den winzigen Verkaufsraum quetschen würde. „Seto? Was machst du hier?“ Oh nein. Kaiba drehte sich um und sah Joey, der sich gerade an einer dicken Frau vorbeiquetschte, die den Laden verlassen wollte. „Ich kaufe Blumen für... eine Angestellte.“ „Eine Angestellte?“ Joey sah absolut ungläubig aus, aber auch ein bisschen amüsiert. „Ja, sie ist krank.“ „Du kaufst für all deine kranken Angestellten Blumen?“ „Sie ist sehr krank. Krebs. Sie wird sterben“, hörte sich Kaiba sagen und wollte seinen Kopf gegen irgendwas Hartes schlagen. Joey grinste ihn an. „Ziemlich voll hier, ne?“ „Hm.“ „Man müsste sicher eine halbe Stunde oder so warten.“ „Möglicherweise könnte Roland die Blumen für sie morgen holen.“ Joey nickte nachdenklich. „Möglicherweise.“ Sie standen in dem rosa und pink dekorierten Laden, Schulter an Schulter, eingeklemmt zwischen anderen Kunden. Kaiba konnte spüren, wie Joey vor unterdrückten Lachen zitterte. „Komm, lassen wir das. Das ist bekloppt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)