Nebel über Hogwarts von Glasschmetterling ================================================================================ Kapitel 61: Erkenntnis ---------------------- Nebel über Hogwarts – Kapitel 61: Erkenntnis Lily wusste nicht, wie sie es zurück in den Gryffindorturm und durch den Gemeinschaftsraum geschafft hatte, bevor sie sich auf ihr Bett warf und den Tränen nachgab, die bereits in ihren Augenwinkeln warteten, seit Severus angefangen hatte, all diese schrecklichen Dinge über sie zu sagen – Dinge, die nicht wahr waren, Dinge, die sie nie getan hatte... sie schluchzte erneut auf. Was hatte sie ihm getan, um zu rechtfertigen, dass er so... so fürchterlich gemein zu ihr war? Gut, sie hatte James Potter geküsst – aber immerhin hatte sie ihm davon erzählt, weil sie ihm nicht wehtun wollte, indem er es von einem seiner Kollegen herausfand. Wenn sie es ihm nicht gesagt hätte, wäre er wahrscheinlich genauso wütend auf sie gewesen – konnte man diesem Mann denn gar nichts recht machen? Egal, was sie tat, es war falsch... falsch falsch falsch! Und nach allem, was er gesagt hatte... „Lily?“ Für jede andere Person hätte sie in diesem Moment einfach so getan, als ob sie eingeschlafen wäre, aber nicht für Emily – Emily würde ihr helfen, Emily würde sie trösten können und ihr erklären, was sie aus diesem fürchterlichen Chaos machen sollte. „Ja?“ Ihre Stimme klang noch immer tränenerstickt, und einen Moment später spürte sie, wie sich die Matratze des Bettes neben ihr neigte und ihre Freundin sie in ihre Arme zog, was einen neuen Anfall von Schluchzern auslöste. Emily wiegte sie fast wie ein Kind, während sie sich an sie klammerte, doch schließlich spürte sie, wie sich ihre Verzweiflung ein wenig lichtete und sie die Kraft fand, sich die Tränen von den Wangen zu wischen und einen tiefen, reinigenden Atemzug zu nehmen. „Was ist denn los?“, fragte Emily schließlich, und Lily seufzte auf. „Ich hab mich mit Severus getroffen...“ Emily rollte mit den Augen. „Was hat der Junge denn jetzt schon wieder angestellt?“ Wo sie Severus bis jetzt immer gegen Emily verteidigt hatte, tat ihr die offene Abneigung, die ihm entgegengebracht wurde, heute sogar gut, weil sie sie in ihrer Wut bestärkte, und die Geschichte sprudelte aus ihr heraus, was er gesagt hatte, was sie gesagt hatte, was sie gedacht und gefühlt hatte, wie gemein er zu ihr gewesen war... Während sie zuhörte, verfinsterte Emilys Gesicht sich zusehends, und zurecht – natürlich war sie wütend, wenn sie sich anhören musste, was für unbegründete Anschuldigungen Severus ihrer besten Freundin an den Kopf geworfen hatte! Lily wäre in derselben Situation auch im Namen ihrer Freundin wütend geworden! Nachdem sie schließlich das Ende des schrecklichen Gesprächs erreicht hatte, fühlte Lily sich leer und ausgelaugt von der Anstrengung, eine emotional so zehrende Szene noch einmal zu erleben, aber auch ein wenig erleichtert. Sie hatte es erzählt, sie hatte darüber gesprochen, und sie musste die Last der Dinge, die Severus ihr an den Kopf geworfen hatte, nicht mehr alleine tragen... Emily würde ihr dabei helfen, all seine Anschuldigungen zu entkräften, und dann müsste sie nicht mehr dieses nagende Gefühl in ihrem Inneren ertragen, das flüsterte, dass er vielleicht doch Recht hatte, und das von ihrem Selbstwert nicht ganz zum Schweigen gebracht werden konnte. „Verstehe ich das also richtig?“, fragte Emily schließlich. „Du hast gestern Abend, als wir schon wieder im Schloss waren, James geküsst, hast dann deswegen die ganze Nacht nicht schlafen können, und deine beste Idee in den acht Stunden, die du wach im Bett gelegen bist, war, zu Severus zu gehen und ihm davon zu erzählen?“ Lily zuckte zusammen. Emily klang scharf, fast wütend, ohne auch nur einen Rest des beruhigenden, mitleidigen Tonfalls, den sie zuvor an den Tag gelegt hatte, und ihre pointierte Formulierung ließ Lily nun selbst an der Weisheit ihrer Idee zweifeln. „Ja. Ich dachte, das hätte ich erzählt.“ Emily rollte mit den Augen. „Wenn ich nicht den Gegenbeweis jeden Tag im Unterricht sehen würde, würde ich mich wirklich fragen, ob du anstatt einem Hirn nur Kruppmist im Kopf hast, Lily! Endlich schaffst du es, zu sehen, was sowohl James als auch der Rest der Schule, mit zwei Ausnahmen, schon seit Jahren wissen, nämlich, dass du und er wunderbar zusammenpassen würden, und anstatt dass du zu mir kommst, damit ich dir ein wenig Verstand einbläuen kann – den du ja offensichtlich dringend nötig hast – gehst du zu der einen Person, die du damit ins Unglück stürzen kannst, und beichtest ihm brühwarm, was du getan hast. Was hast du damit eigentlich bezweckt? Wolltest du dich so eklig mit ihm streiten, dass du heulend im Schlafsaal landest, oder wie?“ Sie konnte es nicht verhindern, ihre Kinnlade klappte nach unten. Dass Severus sie in seiner Wut angefaucht hatte, konnte sie ja noch fast verstehen – aber Emily? Die damit doch gar nichts zu tun hatte und von Rechts wegen doch eigentlich auf ihrer Seite stehen musste, weil sie ihre Freundin war und Severus noch nie leiden konnte? Jetzt ging auch noch sie auf sie los? Was war denn nur in alle gefahren? „Und jetzt du auch noch? Meinst du, das eben war nicht anstrengend genug für mich?“ Emily schnaubte. „Offensichtlich nicht. Nach all dem, was du mir eben erzählt hast, wäre ich versucht, dich für die selbstsüchtigste, eogistischste und blindeste Zicke der ganzen Welt zu halten wenn ich nicht wüsste, dass irgendwo da drinnen noch ein guter Mensch stecken würde.“ Die beklemmende Ähnlichkeit ihrer Worte mit Severus' ließ sie erblassen, und Emily bemerkte es wohl. „Für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen ist, Lily – er hat mit einem großen Teil der Sachen, die er gesagt hat, Recht. Zu mir bist du vielleicht nicht so schlimm wie zu ihm, aber dass du einen Hang zur Arroganz und dazu, dich selbst zu wichtig zu nehmen, hast, ist uns in Gryffindor auch schon aufgefallen, genauso wie die Tatsache, dass du gerne etwas Besonderes sein möchtest. Und was du ihm am Ende noch an den Kopf geworfen hast...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich mag Severus nicht, Lily, und ich hab nie verstanden, was du an ihm findest – aber niemand hat es verdient, das du seine Gefühle auf eine solche Art und Weise ausnutzt, um ihn zu verletzen. Niemand.“ „Und was ist mit meinen Gefühlen?“, fauchte Lily zur Antwort, und erst, als die Worte herausgesprudelt waren, bemerkte sie, wie pathetisch ihr wütender Tonfall im Vergleich zu Emilys ernster Ermahnung klang. „Meinst du, es ist toll, den ganzen Tag lang gesagt zu bekommen, was für ein schlechter Mensch ich bin, und dass ich es niemandem recht machen kann, egal, was ich versuche?“ „Das habe ich nicht gesagt, Lily, und das weißt du auch. Ich bin deine Freundin, und wenn ich dich nicht mögen würde, würde ich jetzt nicht hier sitzen und versuchen, dir zu helfen – auch wenn du das noch nicht verstanden hast. Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist und versuchst, das Richtige zu tun – aber das ist schwierig, wenn du selbst nicht verstanden hast, was deine Schwächen sind und wie sie beeinflussen, was du sagst und tust. Das musst du lernen, und zwar schnell – oder dein Temperament und dein Stolz werden dich noch mehr Freunde kosten.“ „Noch mehr...?“ Sie schluckte. „Aber ich kann... ich kann mich doch bei ihm entschuldigen, oder? Mit ihm reden...“ Emily seufzte tief, dann streckte sie ihre Hand aus und drückte Lilys mitfühlend. „Er hat dir seine größte Schwäche gezeigt, Lily, und du hattest nichts besseres zu tun, als in dem Moment, wo du sie gesehen hast, den Dolch in seinem Rücken noch einmal umzudrehen. Wenn ich er wäre, würde ich dir einen Fluch auf den Hals hetzen, bevor du überhaupt den Mund aufmachen könntest – und zu Recht.“ Sie fühlte die Tränen schon wieder in ihrem Hals aufsteigen, schluckte sie aber diesmal entschlossen hinunter – sie hatte heute schon genug geweint! „Er ist also weg? Für immer?“ Emily zuckte mit den Schultern. „Wenn du ihm genug Zeit gibst und dich ehrlich bei ihm entschuldigst, würde er vielleicht zurückkommen – aber du hast ihm wehgetan, Lily, und sein Vertrauen missbraucht. Das vergisst man nicht einfach in ein paar Tagen, oder auch Wochen... und mehr Zeit hast du nicht. Die Prüfungen sind in weniger als einem Monat, und du weißt doch... die meisten Leute, die in dieselbe Abschlussklasse gegangen sind, sehen sich danach nur sehr selten wieder.“ Jetzt fielen die Tränen doch, und Emily nahm sie mit einer Bereitwilligkeit in den Arm, die sie nach all ihren harschen Worten, die dafür gesorgt hatten, dass sie sich selbst wie eine schreckliche, unwürdige Person fühlte, überraschte. Beruhigende Hände streichelten über ihren Rücken, bis sie schließlich wieder das Gefühl hatte, sich im Griff zu haben, auch wenn es den Tränen nicht gelungen war, ihre Scham wegzuwaschen – so wie Emily es dargestellt hatte, hatte sie sich wirklich unverzeihlich gegenüber Severus verhalten, und es tat ihr leid. Dass sie wahrscheinlich keine Gelegenheit haben würde, sich bei ihm zu entschuldigen, weil er nicht mit ihr sprechen wollte, machte alles nur noch schlimmer, weil sie sich nicht einmal einreden konnte, dass sie zumindest einen Teil ihrer Schuld abgetragen hatte... aber wahrscheinlich hatte sie das nach allem, was sie gesagt hatte, auch verdient. Emily reichte ihr eine Packung Taschentücher von ihrem Nachttisch und sie versuchte, sich wieder einigermaßen präsentabel zu machen. „Wieder besser?“ „Ein bisschen,“ schniefte sie, bevor sie sich seufzend auf ihr Bett zurückfallen ließ. „Und du meinst wirklich, dass Severus...?“ „Ich kenne ihn natürlich nicht so gut wie du, Lily, aber ich denke, dass er im Moment alles hören möchte außer einer Entschuldigung von dir. Und da wäre auch noch die Frage, wie es jetzt mit dir und James weitergehen soll.“ Lily seufzte, auch wenn der Themenwechsel ihr eigentlich nicht unangenehm war – während der langen, durchwachten Nacht war sie schließlich zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre vorherige Meinung über James Potter, wenn auch nicht grundfalsch, wahrscheinlich nicht mehr wirklich korrekt war, und er sich in den letzten Wochen als überraschend sympathischer junger Mann herausgestellt hatte. Und er küsste... nun ja, er küsste wirklich gut, und sie war eigentlich auch geneigt, herauszufinden, ob er und sie vielleicht zusammenpassen würden... „Ich weiß es nicht. Ich meine... ich wäre ja eigentlich doch an ihm interessiert, aber was ist mit ihm? Meinst du, er möchte etwas Ernstes, oder war das nur eine einmalige Sache?“ Emily verdrehte die Augen. „Lily, wenn du auf der Suche nach einer Ausrede bist, wieso das mit euch nicht funktionieren kann, dann hast du ein Problem. Du bist so ziemlich die einzige Frau, die es geschafft hat, James Potters Aufmerksamkeit nicht nur über Tage, sondern über Jahre hinweg auf sich zu ziehen – meinst du, das hat sich geändert, nur, weil er dir nicht mehr hinterherläuft wie ein junger Hund? Ich bitte dich.“ Lily lachte ein wenig verlegen, das erste Geräusch seit ihrem Gespräch mit Severus, das wenigstens ein bisschen mit Fröhlichkeit zu tun hatte, und Emily grinste ebenfalls. „Siehst du? Allerdings muss dir bewusst sein, dass das die Chancen, dass du dich wieder mit Severus versöhnst, von verschwindend gering auf null senkt. Einen Kuss hätte er möglicherweise noch verzeihen können – eine Beziehung niemals.“ Die Warnung reichte, um den Ansatz an guter Laune, den sie eben noch gespürt hatte, wieder hinfortzuwischen, und sie seufzte auf. Die Entscheidung, die sie nun zu treffen hatte, war eine, mit der sie niemals gerechnet hätte, so klar waren die Fronten zwischen ihr und den beiden Männern festgeschrieben gewesen – Severus ihr Freund, James ihr Feind. Aber jetzt hatte sich alles gedreht und geändert, und sie wusste nicht mehr, was sie sagen und tun sollte, vor allem, weil ihr noch immer Severus' und Emilys harsche Worte der Kritik durch den Kopf spukten. Sie zweifelte an sich, und Gedanken, die zuvor noch klug und vernünftig gewirkt hatten, fühlten sich nun unsicher und suspekt an. Was sollte sie tun? Für wen sich entscheiden? Für Severus, der wahrscheinlich nie wieder mit ihr sprechen würde, oder doch James, der klares Interesse an ihr gezeigt hatte... sie seufzte. „Ich lass dich alleine, ja?“, meinte Emily schließlich, und Lily nickte – sie hatte die Anwesenheit ihrer Freundin schon kaum mehr bemerkt, so sehr hielten ihre Gedanken sie gefangen. „Versprich mir nur, dass du darüber nachdenkst, was ich gesagt habe – über alles, auch über meine Kritik an dir.“ Sie nickte nur langsam, hörte abwesend den Schritten ihrer Freundin zu, wie sie die Wendeltreppe hinunterliefen, und zog dann die Vorhänge ihres Himmelbettes zu, bevor sie sich wieder auf die Matratze warf. Sie wollte einfach nur alleine sein... alleine mit ihren Gedanken, um vielleicht herauszufinden, wie sie ein weniger verabscheuungswürdiger Mensch werden konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)