Nebel über Hogwarts von Glasschmetterling ================================================================================ Kapitel 36: Die Welt anhalten ----------------------------- Nebel über Hogwarts – Kapitel 36: Die Welt anhalten Severus sah nichts und hörte nichts, als er aus dem leeren Klassenzimmer stürzte, nicht einmal Potter nahm er wirklich wahr. Alles, was er suchte, war ein roter Haarschopf, und den konnte er nicht entdecken, als er sich auf dem kalten Kerkerflur umsah. Sie war fort – er war zu langsam gewesen, und sie war fort. Die Wut, die eben noch von seiner Sorge wegen Lily unterdrückt worden war, brach nun wieder hervor, suchte sich einen Weg nach draußen und er spürte, wie seine Beine ihn von selbst trugen, er einen Weg tiefer und tiefer in die Kerker einschlug, ohne auf seine Schritte zu achten. Er verstand nicht, was geschehen war, genauso wie bei seinem letzten, größeren Streit mit Lily, nach den ZAGs. Natürlich, Schlammblut war ein schlimmes Schimpfwort, aber wegen einem Wort eine Freundschaft aufkündigen, die schon beinahe ihr halbes Leben lang bestand? Wieso? Er begriff es nicht. Und heute war es genauso. Ein riesiges, rätselhaftes, unvorstellbares Naturereignis hatte ihn getroffen und er lief davor weg, ohne zu wissen, was das hinter ihm war, das ihn verfolgte, das sein Leben für immer beeinflussen würde. Er hatte Lily beschützen wollen vor Potter und seiner unerträglichen Arroganz, seinem Wunsch, zu bestimmen, zu beherrschen, vor seiner Besserwisserei – und sie hatte ihm ins Gesicht geschrien, dass er selbst auch nicht besser war. Er verstand es einfach nicht. Das wütende, verletzte, eingesperrte Monster in seinem Inneren brüllte lautlos und er biss die Kiefer zusammen, beschleunigte seinen Schritt, während er Lily und Potter und alle Gryffindors verfluchte. Bei Potter war das ein bekanntes, ja schon fast beruhigend vertrautes Gefühl, doch dass Lily ihn fast zur Weißglut brachte, hatte er bis jetzt erst ein Mal erlebt – vor bald zwei Jahren, als sie ihm ins Gesicht gespien hatte, dass sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollte, und an diesen Abend. Und noch immer verstand er nicht wieso, weder damals noch heute, und er würde es wohl auch nie herausfinden. Nach ihrer Versöhnung hatte er sie nie wieder auf die Ereignisse nach ihren Prüfungen angesprochen aus Angst, dass sie ihre Meinung ändern, ihn wieder wegstoßen könnte, und jetzt hatte er keine Gelegenheit mehr, herauszufinden, was sie dachte und fühlte. Er hatte seine Chance gehabt, und jetzt hatte er sie verspielt – auch wenn er nicht wusste, wie und wieso. Eine große Leere tat sich vor ihm auf und drohte ihn zu verschlingen, doch nur für einen Moment. Dann erinnerte er sich an den Brief, der sicher versteckt zwischen seinen Büchern in seinem Schlafsaal lag – den Brief von Lucius, den er damals, als er ihn bekommen hatte, verflucht hatte, weil er ihm eine Entscheidung abverlangte. Eine Entscheidung zwischen Lily und der glorreichen Zukunft, die möglicherweise vor ihm lag – eine Entscheidung, die nun, da sie fort war, plötzlich so spielend leicht wirkte, dass er im Nachhinein fast über seine Zweifel staunte. Nur ein Brief und ein paar belanglose Worte trennten ihn von seinem Schicksal und er hielt mitten in dem leeren, schlecht beleuchteten Kerkerflur inne, starrte für einen Moment vor sich, bevor er sich abrupt umwandte. Fast so schnell wie zuvor trugen ihn seine Beine nun, doch aus seinem vollkommen anderen Grund. Wo er zuvor auf der Flucht gewesen war vor seinen Gedanken, seinen Gefühlen, seiner Wut und der Angst, die ihn fast jeden Tag seines Lebens begleitete, hatte er nun ein Ziel, das er erreichen wollte und auf das er zuarbeitete. Fast zu schnell tauchte die Bürotür vor ihm auf und für einen Moment hielt er inne, sammelte sich, raffte die Worte und Sätze zusammen, die er jetzt benötigen würde, dann hob er eine blasse Hand und klopfte vorsichtig an das dunkle, fast schwarze Holz. „Herein“, tönte die immer joviale Stimme von Professor Slughorn und er drückte die Klinke nach unten, trat ein in das Büro, das er immer gehasst hatte, weil ihm aus jeder Ecke falsche, geheuchelte Gemütlichkeit entgegenschrie – von den Fotos, von den Teppichen, selbst der kleine Fußschemel des Professors schien zu brüllen: „Entspann dich!“ „Nun, Mr Snape, was kann ich für Sie tun? Brauchen Sie Hilfe für die Vorbereitung Ihrer Abschlussprüfungen?“ Severus gelang es eben noch, seinen Gesichtsausdruck neutral zu halten – schon lange war er über alles hinaus, was der alte Narr ihm über Zaubertränke beibringen konnte, hatte in der Bibliothek Rezepte gesehen und verbessert, die sich Slughorn nicht einmal vorstellen konnte. „Nun... ich...“ Es fiel ihm leicht, einen angemessen betretenen, traurigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, um seiner Lüge Glaubwürdigkeit zu verleihen. „Ich weiß ja, dass Sie schon vor einer Woche mit den Listen durch den Gemeinschaftsraum gegangen sind, aber ich habe gerade einen Brief von meiner Mutter erhalten... es geht ihr nicht gut und sie fühlt sich einsam... deswegen wollte ich fragen, ob ich nicht vielleicht doch über Weihnachten nach Hause fahren könnte...?“ Während er sich bemühte, bedrückt und elend auszusehen und die Wut, die noch immer in ihm gärte, vollkommen aus seiner Haltung und seiner Miene zu verbannen, konnte er doch einen kurzen, prüfenden Blick auf Slughorn nicht verhindern. Der Lehrer schien seine Lüge zu akzeptieren und kam einen Moment später um den Tisch herum, falsches Mitleid auf das Gesicht gepflastert. „Ihre Mutter, Snape? Ich kannte sie schon als Schülerin... war Kapitänin der Koboldsteinmannschaft, nicht wahr?“ Slughorn trat neben ihm und legte ihm einen schweren, dicken Arm um die Schulter, bevor er kurz zudrückte. „Wirklich bedauerlich, dass sie dann einen Muggel geheiratet hat... sie war doch ein so begabtes Mädchen...“ Severus biss die Zähne zusammen und hielt sich nur mit knapper Not davon ab, Slughorn zu erklären, dass er es alles andere als bedauerlich fand, dass seine Mutter seinen Vater geheiratet hatte, sondern eher für eine der größten Katastrophen der Zaubereigeschichte. Allerdings wusste er nicht, ob er sich davon würde abhalten können, wenn Slughorn jetzt eine seiner fadenscheinigen Entschuldigungen ausspucken würde, dass alles seine Richtigkeit haben und dass er in Hogwarts bleiben müsse, weil er sich nicht in die Listen eingetragen hätte. „Normalerweise würde ich sagen, dass eine Möglichkeit zur Entscheidung genug wäre, Mr Snape... aber bei so besonderen Umständen und wo ich Ihre Mutter doch kannte... schreiben Sie nach Hause, dass Sie zu Weihnachten mit ihr im Wohnzimmer sitzen werden, Mr Snape.“ Severus lächelte dankbar und entschuldigte sich noch einmal wegen der Umstände, während er sich überlegte, dass er alles außer das tun würde – dann bemühte er sich, so schnell wie möglich aus dem Büro seines Hauslehrers zu flüchten mit der Ausrede, dass er noch Hausaufgaben zu erledigen habe. Noch immer liefen seine Beine so als ob sie einen freien Willen hätten, doch diesmal trugen sie ihn zum Eingang des Slytheringemeinschaftsraumes und durch das Zimmer hindurch hinauf zu seinem Schlafsaal. Sein Bett und sein Koffer waren unangetastet, alle Bücher lagen noch so wie zu dem Zeitpunkt, als er weggegangen war, um mit Lily zu brauen, und er öffnete seine Geschichte der Zauberei und zog Lucius' verfluchten Brief hervor. Noch ein Mal überflog er die Zeilen, suchte nach versteckten Bedeutungen, Botschaften... würden Nacissa und ich uns sehr freuen, dich zu sehen... viele andere Gäste... nützliche Kontakte knüpfen... könnten deine Hilfe benötigen... Weihnachtsball mit angemessener Gesellschaft, nicht so wie auf Hogwarts... Er würde seine Freunde aus Slytherin wiedersehen, nicht nur Briefe mit ihnen tauschen, würde vielleicht sogar mit einigen schönen, reinblütigen Frauen tanzen, bevor sie herausfanden, wer sein Vater war... könnte die Familienbibliothek der Malfoys benutzen, einige Tränke brauen, sich mit Lucius unterhalten, nützliche Kontakte knüpfen. Er nickte langsam. Es wären keine schönen Weihnachten, doch schöne, frohe Weihnachten hatte er in seinem ganzen Leben nicht gesehen – aber es wäre ein befriedigendes Fest. Und mehr als das wünschte er sich nicht, denn Glück war schon sein ganzes Leben lang wie eine Frucht, die ihm direkt vor der Nase hing und die doch für ihn – allein für ihn – unerreichbar blieb. Weil er seine Tasche in dem Klassenzimmer vergessen hatte, in dem er mit Lily gebraut hatte, griff er nach dem Tintenfass und der Feder, die er immer in seinem Nachttisch aufbewahrte, und kritzelte einen kurzen Brief, in dem er sich für die späte Antwort entschuldigte und die Einladung mit Freunde annahm, dann machte er sich wieder auf den Weg in die Eulerei. Etwas zu tun, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, hatte etwas befriedigendes, ein Gefühl, das er nur selten gekannt hatte. Immer waren es andere gewesen, die bestimmten, was er tat, was mit ihm getan wurde, was in seinem Leben geschah. Zuerst sein Vater, der ihm seine Kindheit zur Hölle machte und in der er nur darauf wartete, von dem Brief aus Hogwarts gerettet zu werden. Und dann, nachdem er endlich glaubte, dieser ewigen Folter entkommen zu sein, Potter und seine Bastardfreunde, die glaubten, über ihn bestimmen zu können. In diesem Moment, in diesen Minuten, in denen er mit schnellen, wütenden Schritten zur Eulerei hinauf lief, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, selbst etwas zu tun, eine eigene Entscheidung getroffen zu haben. Und der Gedanke befriedigte ihn über alle Maßen – besonders der Eindruck von Endgültigkeit, der sich ihm in diesem Augenblick aufdrängte und der ihn dazu aufrief, alles hinter sich zu lassen, was ihn noch band. Dass die Eule, die auf seinen Ruf antwortete, als er in den kalten, zugigen Turm mit den Resten von Schnee auf dem Stroh trat, schwarz war, war nur eine weitere, leichte Ironie, die er spürte, während er den Brief an ihr Bein band und sie zum Fenster trug. Es war ein schönes, großes Tier mit herrischem Blick und er streichelte vorsichtig, fast ehrfürchtig über ihre Federn, bevor sie ihre Schwingen ausbreitete und hinaus in die kalte, dunkle Nacht segelte. Sie würde Lucius gefallen und zu ihm passen, dessen war er sich sicher. In kleinen, weißen Wölkchen kondensierte sein Atem vor seinem Gesicht und er sah ihm zu, bemerkte, dass die Zeit zwischen den Zügen länger wurde, genauso wie er sich immer weiter beruhigte. Die Wut war noch da, brodelte in seinem Inneren und drohte, bei der kleinsten Gelegenheit nach draußen zu brechen, doch jetzt, in diesem Moment, in der stillen Kälte, die nur manchmal durch das leise Rascheln von Flügeln unterbrochen wurde, war sie gefangen in Eis und beeinträchtigte nicht sein Denken. Wie hatte Potter sie eigentlich gefunden? Er hatte niemandem von ihren abendlichen Treffen erzählt und war sich sicher, dass auch Lily diesem Idioten nicht auf die Nase gebunden hätte, in welchem der alten Zaubertränkeklassenzimmer sie brauen wollten. Wie hatte Potter es also geschafft, sie aufzuspüren, obwohl er eigentlich keinen Anhaltspunkt haben dürfte? Er bezweifelte, dass der Gryffindor einen Zauber auf sie gelegt hatte, der ihre Bewegungen verfolgte, oder einen, der Alarm schlug, wenn sie sich zu sehr annäherten – immerhin war dieser Abend nicht der erste gewesen, den sie gemeinsam verbracht hatten. Resolut unterdrückte er den Gedanken, dass es vielleicht der letzte gewesen war, verbannte ihn in eine Ecke seines Geistes, in dem er zwar schmerzte und pochte, aber seine Überlegungen nicht behinderte. Wenn Potter einen solchen Zauber auf sie gelegt hatte, gleich nachdem er Severus in der Bibliothek angegriffen hatte, dann hätte er schon viel früher zu ihnen hereinplatzen und sie stören müssen. Waren seine Worte dann wirklich nur leeres Geschwätz gewesen, wie Severus gedacht hatte, und Potter war nur durch Zufall auf sie gestoßen? Er schloss die Augen, erinnerte sich an das Bild, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte – Potter, der mit wütendem Blick die Tür zu ihrem improvisierten Labor aufriss und anklagend auf sie starrte. Nicht überrascht – nicht verletzt – nein, anklagend. Schon zuvor hatte er gewusst, dass sie sich hier verbargen, und war mit seiner ganzen Wut und seinem gesammelten Zorn zu ihnen gekommen. Severus runzelte die Stirn und lehnte sich an die kalten Steine, fühlte, wie der Frost durch seinen Umhang unter seine Haut glitt und in seine Knochen floss. Sein Kopf pochte anklagend, protestierte gegen all die Emotionen, die sich hinter seiner gleichgültigen Fassade abspielten, doch auf merkwürdige Weise begrüßte er den Schmerz, fühlte, wie er sein Denken lähmte. Er wollte nicht überlegen, nicht grübeln, sich nicht erinnern an die Dinge, die er verloren, und jene, die er gerade eben, mit diesem Brief, in Empfang genommen hatte. Er wollte einfach nur, dass die Welt für einen Moment inne hielt und aufhörte, sich zu drehen, damit auch er endlich zur Ruhe kommen und Atem schöpfen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)