Advent von FreeWolf (Stille Zeit) ================================================================================ Kapitel 1: 1. Advent -------------------- Advent Die stille Zeit I: 1. Advent „Los jetzt, Falborg! Attacke!” Der riesige, grüne Falke erschien, wandte sich jedoch nicht dem Gegner, sondern ihm zu, und maß ihn mit einem wissenden, gleichzeitig unglaublich quälenden Blick. Er erhob seinen golden blitzenden Schnabel zu einem widerhallenden Schrei und sein Gefieder raschelte, als er sich hoch in die Lüfte erhob. „Was zum-“, er blickte seinen Gegner an, welcher den Befehl zum Angriff gegeben hatte, und schnappte nach Luft. Ihm gegenüber stand niemand anderes als er selbst, mit eisigem, undurchdringlichem Blick, ein klirrend kaltes, sadistisches Grinsen auf den Lippen. „Jetzt“, gab sein Ebenbild den Befehl. „Nein, hör auf!“, sein Bemühen, den Falken zu stoppen, war erfolglos. Falborg blickte ihn einen zögerlichen Moment lang an. Dann schlug der mächtige, anmutige Falke einmal mit seinen leise raschelnden Schwingen, die an ein Windspiel erinnerten, und stieß herab. Direkt auf ihn zu. „Nein!“, er schreckte auf. Bryan saß aufrecht in seinem Bett, keuchend wie nach einem Marathon. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er nach einem Marathon wirklich hätte so außer Atem kommen können. Langsam hob er seine zitternde Hand an seinen Brustkorb, fühlte sein Herz, das schmerzhaft in ihm schlug. Es war nur ein Traum. Es war nichts passiert. Zum Glück. Sein Blick wanderte zu seinem Wecker, welcher gerade mal sieben Uhr anzeigte. Seufzend stieg der Silberhaarige aus dem Bett, schlurfte auf Socken in die kleine Wohnküche und setzte Kaffee auf. Während er darauf wartete, dass das Türkengebräu heiß wurde, wandte er seinen Blick hinaus auf die verschneite Landschaft der Alpen. Er hatte früher oft geträumt weit weg zu fahren. Irgendwohin in den Süden vielleicht, auf einem Segelboot oder – noch besser – mit einem Flugzeug. Er hatte einmal ein Bild von den weißen Sandstränden Hawaiis gesehen, und von da an unbedingt dorthin gewollt. Bryan seufzte leise und setzte sich an den vereinsamten Tisch, trank seinen Kaffee in langsamen Zügen. Vor einem Jahr hatte er sich seinen Traum erfüllen können; er war alleine gereist, war mit dem Flugzeug geflogen, und hatte den Urlaub am azurblauen Meer und den weißen Palmstränden genossen.. Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet Bryan, dass es Zeit wurde. Schon innerhalb weniger Minuten hatte er sich fertiggemacht – frisch rasiert und in Jeans und dunklem Pullover gekleidet holte er auch schon seinen schwarzen Mantel von der Garderobe. Dabei fiel ihm eine lila-weiße Jacke in die Hände, deren Pelz sich zwar abgegriffen, jedoch immer noch weich anfühlte. Unwirsch schüttelte er den Kopf und vertrieb seine Gedanken. Nein, diese Zeit war vorbei. Trotzdem griff er nach der Jacke. Mit leisem Klicken rastete das Schloss hinter ihm ein, als er die leere Wohnung absperrte. Bryan schritt langsam, beinahe schon gemächlich durch die Straßen seiner momentanen Heimatstadt Zürich. Er mochte diese Stadt mit ihrer zurückgenommenen Geschäftigkeit irgendwie. Alle waren ständig auf Trab, wie ein Uhrwerk, und doch herrschte eine gewisse Behaglichkeit. Sein Weg zur Universität, wo er seit etwa einem Jahr Russisch unterrichtete, war nicht sehr weit, weshalb er ihn gerne zu Fuß unternahm – egal, welches Wetter herrschte. Er schritt an einem bereits hell erleuchteten Schaufenster einer Gärtnerei vorbei, bei der er gelegentlich einkehrte, um sich mit frischen Kräutern für Tee einzudecken. Doch das Licht war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregte – es war jeden Morgen ab sieben Uhr geöffnet, und nun, wo der Winter nicht mehr fern war, brannte zu ebenjener Stunde auch Licht. Mehr war es die Ankündigung im Schaufenster, die ihn dazu veranlasste stehenzubleiben und einige Minuten reglos durch die Glasscheibe zu starren. >Der Advent naht – nun führen wir auch Adventskränze!< War es wirklich schon wieder Zeit? Bryan kam es so vor als wäre sein letztes einsames Advents- und Weihnachtsfest erst wenige Monate her. Doch tatsächlich schien wieder ein Jahr vergangen zu sein. Eine Turmuhr schlug, und der Silberhaarige eiste sich von dem Anblick der glitzernden Tannenkränze los, eilte zur Universität. Doch der Gedanke an die bevorstehende Zeit verfolgte ihn während seiner Unterrichtsstunden. Advent.. morgen war tatsächlich schon der erste Advent.. Er hatte es vor einigen Jahren aufgegeben, das Fest zu feiern. Es war nur deprimierend, weckte zu viele Erinnerungen. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie es mit seinen Eltern gewesen war. Das einzige, an das er sich noch erinnerte, war, dass er als kleiner Junge immer seiner Mutter zugesehen hatte, wie sie einen Kranz aus Tannenzweigen geflochten und anschließend die Kerzen darauf festgesteckt hatte. Der Advent war früher immer die schönste Zeit des Jahres gewesen, die er kaum hatte erwarten können. Das ganze Jahr über hatte er sich darauf gefreut.. Immer, wenn es auf den Advent zugegangen war, war es ruhig geworden in der Abtei. Sicher, sie mussten immer noch trainieren, aber ihnen wurde etwas Freizeit zugesprochen. Für Balkov musste der Advent mehr bedeutet haben, denn zu jener Zeit hatte er nur leichte Strafen verhängt wie etwa Küchen- oder Putzdienst. Das Schönste war immer der erste Advent gewesen. Sie alle waren vom Training freigestellt gewesen und waren in die Kirche der Abtei gegangen, wo ein Priester eine kurze Andacht gehalten hatte. Dann hatte ein auserwähltes Kind der jüngsten unter ihnen die erste Kerze anzünden dürfen. Er hatte es einmal gedurft, und es war einer der schönsten Momente seines damaligen Lebens gewesen. Bryan erinnerte sich noch gut an die Faszination, die er verspürt hatte, als die Kerze endlich gebrannt hatte. Später, als er zusammen mit Ian, Spencer und Tala ein Team gebildet hatten, hatten sie jedes Jahr ausgelost, wer in den angrenzenden Wald und Zweige für einen Adventskranz abschneiden musste. Meistens hatte er verloren, aber es hatte ihm nichts ausgemacht. Wirklich nicht, niemals. Denn er hatte es gerne getan. Bryan schmunzelte leicht, als er daran dachte, wie viel sie immer gelacht und gescherzt hatten, als sie gemeinsam den Kranz banden. Wie Ian immer fluchte, wenn er einen stacheligen Zweig ins Gesicht bekam. Wie Spencer immer helfen musste, den großen Baum mitten im Innenhof aufzustellen, weil es so groß und stark war. Und wie selbst Tala, der so selten lächelte und lachte, während der Advents- und Weihnachtsandacht immer ein Lächeln auf den schmalen Lippen gehabt hatte, wenn er dachte niemand beobachte ihn. Und er selbst.. er war entgegen seiner kalten Fassade innerlich erwärmt, jedes Jahr. Auf dem Heimweg fiel ihm etwas Winziges, Federleichtes auf die Nase. Bryan sah nachdenklich zum Himmel und hielt die Hand auf. Eine weitere Flocke fiel auf seine Hand, schmolz. Tatsächlich, es schneite. Schon den ganzen Tag über hatten schwere Wolken den Himmel verhangen, es roch nach Schnee, doch der Silberhaarige hatte die Hoffnung beinahe schon aufgegeben. Nun blieb er mitten auf dem Bürgersteig stehen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, genoss die leichte Brise, die durch die Straßen wehte. Menschen hasteten an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, ohne ihn anzustoßen, doch auch, ohne den Schnee zu bemerken. In der Nähe stand ein kleines, in einen dicken Mantel gehülltes Kind, und zupfte aufgeregt am Mantel seiner Mutter. „Sieh mal, Mami!“, war seine klare, begeisterte Kinderstimme zu hören, „Es schneit!“ Bryan schmunzelte leicht und ging ein paar Schritte. Und plötzlich stand er wieder vor dem Schaufenster mit den Adventskränzen. Wieder sah er ins Schaufenster, besah sich sein Spiegelbild, das ihn verwundert aus grauen Augen ansah, die verhalten begeistert blitzten. Sein Spiegelbild trug seine frühere Lieblingsjacke mit dem Emblem der Demolition Boys und dem Pelz am Kragen, dem kuscheligen, etwas abgetragenen Pelz, in den er sein Gesicht immer gerne kuschelte, auch wenn es seltsam klang. Er sah gesünder aus als früher, nicht mehr so blass, aber irgendwie auch einsamer. Etwas fehlte. Leichte, weiße Flocken fielen vom Himmel, setzten sich in seinem Haar fest und ließen es glitzern. Bei diesem Glitzern musste er plötzlich an den großen, weißen Eiswolf denken, den Tala zum Bitbeast gehabt hatte. Bryan wusste, was fehlte. Drei Personen, seine Familie, die in alle Winde verstreut war. Spencer, Ian und Tala. Ihr Kontakt war abgebrochen, als er Moskau vor Jahren verlassen hatte. Sie waren im Streit auseinander gegangen, alle, und er bereute es noch immer, acht Jahre später. Das Schlimmste war, dass er den Grund des Streits noch nicht einmal mehr benennen konnte. Sein Spiegelbild blinzelte ihn wehmütig an. Was war bloß aus ihm geworden? Er war knappe 29, hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und lebte von Tag zu Tag in Einsamkeit. Sicher, er hatte sich seine Träume größtenteils erfüllt, doch was war das ohne sein Team, seine Familie gewesen? Bryan stand nicht mehr unentschlossen vor dem Schaufenster, sondern betrat endlich das kleine Gärtnereigeschäft. Im Inneren war es feucht-warm, Blumen erblühten auf jedem freien Fleck. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die freundliche Verkäuferin am Tresen und lächelte ihm souverän zu. „Falborg!“ Sein Spiegelbild mit den kalten Augen blickte ihn verwirrt an, ihn, der das Bitbeast mit solch ruhiger, beinahe schon sanfter Stimme gerufen hatte. Das Gefieder des Falken raschelte leicht in der warmen Brise, die er bei seinem Erscheinen erzeugte. Wieder wandte der riesenhafte Vogel sich ihm zu, doch ohne jegliche Aggressivität. Er blickte ihn aus weisen, schwarzen Augen heraus verstehend an und gurrte zustimmend, als Bryan das Stadium ohne jede Furcht durchschritt, um zu seinem Spiegelbild zu gelangen. Der Junge war ein gutes Stück kleiner als er selbst und verbarg seine Angst gut. Doch Bryan sah sie in seinen Augen aufblitzen, als er langsam nähertrat. „Jetzt hör schon auf“, er lächelte leicht, „Es ist Advent – du darfst du selbst sein.“ Bryan ging nicht weiter auf sein jüngeres Spiegelbild zu, sondern wartete darauf, dass es den nächsten Schritt machte. Das tat es auch. Seine jüngere Ausgabe lächelte leicht, und Falborgs weiches Gefieder streifte seine Schulter. Mit einem Lächeln auf den Lippen erwachte er an diesem Morgen, und ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass es schneite. Es war gerade zehn Uhr geworden, und er fand schneller als sonst in die Realität, die ihm mit einem Mal nicht einmal mehr so beklemmend und einsam vorkam. Er verbrachte den Vormittag über Unterrichtsvorbereitungen, aß zu Mittag und entschied sich am Nachmittag für einen Spaziergang in der Züricher Altstadt, die schon in der schönsten Weihnachtsbeleuchtung strahlte. Ihm war einfach danach, durch die verschneiten Straßen zu schlendern und die Menschen zu beobachten. Die Schaufenster waren schön herausgeputzt, obwohl die Geschäfte sonntags geschlossen blieben, und hin und wieder erwischte er sich, wie er stehen blieb, durch eine der Scheiben sah, und sich überlegte, was er wohl einem jeden seines Teams zu Weihnachten schenken wollte.. Dünn lächelnd schüttelte er den Kopf über sich selbst und setzte seinen Weg fort und steckte seine Hände in die Taschen seiner Lieblingsjacke. Leises Knistern von Papier war hörbar, als er den Zettel hervorkramte. Er blieb abrupt stehen, kaum hatte er die schwungvollen, kyrillischen Buchstaben erblickte. Ian.. mit einer Telefonnummer. Bryan konnte sich ein melancholisches Lächeln nicht verkneifen. Das war typisch für den Kleinen, den sie früher einmal liebevoll ‚Krümel‘ getauft hatten. Der Jüngste mochte den Spitznamen nicht wirklich, besonders nicht, nachdem er nach einem Wachstumsschub nochmal ein gutes Stück gewachsen war. Der Silberhaarige beschloss, diesen Wink des Schicksals zu nutzen, und steuerte zielstrebig eine Telefonzelle am anderen Ende des Platzes an, auf dem er sich gerade befand. Es läutete nicht lange, bis sich Ians vertraute Stimme meldete. >„Papov hier“< Bryan lächelte leicht. „Hallo Krümel, ich bin’s.“ Die kleine Flamme des Streichholzes entzündete die erste Kerze, und Bryan sah von seiner dunklen Wohnung hinaus in die einzig von Straßenlaternen erhellte Dunkelheit der wolkenverhangenen Nacht. Die Kerze strahlte nicht viel Licht aus, gerade so viel, dass er selbst ein wenig des wärmenden Scheins abbekam, doch er wusste irgendwoher, es war nicht zu spät. „Kaum zu glauben.. der erste Advent..“, murmelte er, wie zu sich selbst, und fühlte, wie die Einsamkeit all der Jahre von ihm abfiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)