Fensterschreiben von Technomage (Every day is writing day) ================================================================================ Gleis und Schienen (17.06.2009) ------------------------------- „Manche von euch nennen mich exzentrisch und meine Methoden obsolet.“ Ferdinand Reeder durchmaß in gezielten Schritten den schmalen Gang, zu dessen Seiten sich Menschen aufreihten, teils mit affirmativen Blicken an seine Gestalt geheftet, teils unsicher musternd; einige wenige blickten unter sich oder aus den Fenstern, als würden sie ihn nicht wahrnehmen. „Wenige sind der Meinung, mein Verhalten sei überflüssig. Vereinzelte wissen nicht einmal, wovon ich spreche – doch das wird sich bald ändern.“ Eine junge Frau mit Kopfhörern sah von ihrem Buch auf und blickte ihn abschätzig an. Zwei Männer hinter ihr murmelten miteinander, während sie Ferdinand anstarrten. „Ich kann nur sagen, dass ich mir diese Rolle nicht ausgesucht habe – ich tue nur, was ich am besten kann. Weil sich am Anfang keiner der Aufgabe annehmen wollte. Weil ihr ein unkontrollierter Haufen Hühner ward, der nichts als gackern konnte über seine misslichen Umstände. Weil ich in 15 Minuten ein Hauptseminar zu Wolframs von Eschenbach „Willehalm“ habe und zu spät komme, wenn ich meinen Bus verpasse! Weil seit drei Monaten keiner von uns zu spät gekommen ist!“ Eine Reihe Anzugträger klopfte zustimmend auf ihre Aktenkoffer und rief, trotz verschlafener Augen, euphorisch seinen Namen. „Wir erreichen in wenigen Minuten Mainz Hauptbahnhof“, erklang eine metallen feminine Stimme aus den Lautsprechern. „In Mainz haben sie Anschluss an ...“ „Nils!“, richtete sich Ferdinand an einen pedantisch anmutenden Blondling nahe der Abteiltür. „Du warst übers Wochenende bei deinen Eltern und hast den Rollkoffer mit deinen Gesetzbüchern dabei. Ich will dich vorne an der Tür sehen.“ Nils nickte grimmig und hievte seinen schweren Koffer von der Ablage nach unten; zerrte ihn in den Zwischenbereich vor den Ausgängen, wo bereits andere Fahrgäste neugierig an den Fenstern lehnten. „Ein ganzer Haufen von ihnen, Ferdinand.“ Eine dunkelhäutiges Mädchen mit zurückgebundener Mähne drehte sich vom Fenster weg und kramte ein breites Buch – Diercke Weltatlas – aus ihrem Rucksack. „Der vordere Teil von Gleis 3 ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Wir müssen den Ansturm auf Tür 1 bis 3 übernehmen.“ Fernidand musterte das Mädchen kopfschüttelnd und schnippte ihr eine Strähe roter Haare aus dem Gesicht. „Du bist zu jung für die vorderste Reihe, Nat.“ „Ich muss rechtzeitig in der Schule sein, um Bio abzuschreiben.“ Natascha grinste. „Du hättest Bernd fragen können.“ Ein Mann Mitte Zwanzig sah von „Systematischer Zoologie“ auf und zog sich skeptisch die Brille von der Nase, um sie in einem Hartschalenetui zu verstauen. „Ich bin unausgelastet ohne morgendliche Aktivitäten.“ Sie schulterte ihren Rucksack erneut und zurrte die Gurte fest. „Such' dir 'nen Freund.“ Ferdinand schob sich lachend an ihr vorbei und lugte über die Köpfe der Reihe, die sich um die beiden Ausgänge gezogen hatte, hinweg auf den langsam werdenden Bahnhof. Die vorbeigleitenden Schemen wurden zu Körpern und schließlich zu Gesichtern. Reisetaschen und Koffer geschultert. Umhängetaschen schwingend. Bücher und Schulordner. Aktenkoffer und Thermoskanne. Ein Nadelstreifenmann mit Managerbrille wandte sich immer wieder zum langsam haltenden Zug um, während er unaufhörlich eine Vendingmachine mit Münzen fütterte. Eine junge Frau mit Dreadlocks verteilte die Snacks an die Menge am Rand zwischen Gleis und Schienen, welche sie annahmen ohne sich abzuwenden; das Erhaltene in Händen abwiegend. Ferdinand schob die Reihe vor der Tür auseinander, um Nils nach vorne zu lassen, während ein dürrer Rotschopf mit Hornbrille den Koffer auf der anderen Seite ergriff, sodass sie ihn gemeinsam unterhalb des Sichtfensters in der Tür fixierten. „Wir sind die Schienen“, murmelte Ferdinand beinahe nebensächlich. „Sie sind das Gleis“, antworteten mehrere Stimme im Zwischengang wie eine unterschwellige Bemerkung. „Wir sind die Schienen“, wiederholte er lauter. „Sie sind das Gleis“, gaben die Stimmen im Abteil immer noch durcheinander zurück. Ein wahlloser Sprechgesang. „Wir sind die Schienen!“ Ferdinand stellte sich direkt hinter den Koffer in die Tür. „Sie sind das Gleis“, brandete es unisono zurück. „Wir sind die Schienen!“ Er sah der Menge ohne Gemeinsamkeiten draußen vor der Tür entgegen. Noch war der „Tür-öffnen“-Knopf nicht grün unterlegt. „Sie sind das Gleis!“ Es sprang auf grün und mit dem gewohnten Zischen öffnete sich langsam die Tür. Erst im letzten Moment rissen Nils und der Rotschopf den Koffer in die Höhe. Ein pochender Hagelschauer prallte am Kofferdeckel ab, als die Menschen am Gleis die Snacks wie Wurfgeschosse in die Öffnung schleuderten. Nach der ersten Salve gab Ferdinand dem Koffer einen Stoß und die Arme der beiden Anderen schwangen routiniert mit, um das große Objekt in die Menge draußen vor die Tür zu befördern. Eine Bresche bildete sich, um dem schweren Trümmer auszuweichen. Ein langhaariger Südeuropäer lag mit einem Bein darunter und versuchte ihn hastig von sich herunter zu schütteln. Ferdinand sprang nach vorne und landete breitbeinig über dem Koffer. Eine Hand ging zum Griff des Koffers, die andere streckte sich dem Gefallenen entgegen. Dieser griff zu, als Ferdinand gleichzeitig ihn und den Koffer hochriss. Weitere Zugfahrende strömten hinter ihm aus den Türen hinaus und prallten mit den Wartenden, die in den Zug hineindrängten aufeinander. „Senior Reeder! Mal wieder auf dem Weg klüger und arbeitslos zu werden“, verkündete der junge Mann, der immer noch seine Hand umfasste. „Herr Milan, auf dem Weg um der bibliophilen Dienstleistungsindustrie Frankfurts Ihre menschlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Sie entschuldigen mein unhöfliches Betragen.“ Ferdinand schleuderte den Spanier mit einem Schwung des Koffers von sich, wo er von der Menschenmenge hinter sich abgefangen wurde. Während andere Wartende vor dem schwingenden Koffer zurückwichen, ergriff eine Hand das andere Ende und er konnte im Eifer des Gefechts Bernd ausmachen, der ihm mit grimmiger Miene zunickte. Gemeinsam verwendeten sie das wuchtige Objekt wie einen Rammbock und irgendwo hinter ihnen hörte man Natascha „Lücke!“ durch das Getümmel brüllen hören. Körper drängten sich gegen Ferdinands Rücken und trieben den Keil voran, solange bis sie plötzlich taumelnd die Menschenmasse durchbrochen hatten. Ferdinand riss seine Armbanduhr vor Augen. Drei Minuten. „Nils!“, verlangte er lautstark und hob den Koffer in die Höhe. „Hier“, kam Nils’ Stimme und dann auch er selbst durch die Menge der Zugfahrenden auf ihn zu. Er nahm ihm den Koffer ab und klopfte ihm auf die Schulter. „Gute Show.“ Ferdinand grinste nur und war schon halb durch die Unterführung Richtung Bushaltestellen gespurtet, als Natascha ihn einholte. „Mein Lehrer hat mal erzählt“, verkündete sie im vollen Lauf, „dass früher mal einfach die Menschen im Zug ausgestiegen sind und danach die am Gleis eingestiegen, ohne dass es Probleme gab.“ „Wolfram sagte mal ‚swer triuwe hat, der solt iuch klagen. ir sit durh triuwe in dirre not.’“ „Und das bedeutet?“ „Verstehst du, wenn du groß bist.“ Ferdinand schlüpfte in den Bus hinein, kurz bevor sich die Tür schloss. ‚Bis Morgen’ formten seine Lippen, während das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Das Gesicht des Mädchens wurde zu einem verdutzen Grinsen, dann aber formten ihre Lippen dasselbe und verschwanden mit dem Bahnhof aus Ferdinands Sicht. Heute ist es mal wieder nicht zu spät. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)