American Vampire von CurlyHair ================================================================================ Kapitel 14: Altes Land birgt Neues ---------------------------------- Ich war zuvor nie geflogen. Es war ein seltsames Gefühl, nicht schlecht, nein, ein absolut gutes Gefühl. Hoch über den Wolken waren meine Sorgen wie weggeblasen und es war einfach in meinem Kopf eine angenehme Stille hervorzurufen. In der Luft lag Freiheit. Ich hielt es schon immer mit dem Frei sein. Zwänge und Vorschriften, was man denken sollte, waren noch nie etwas für mich gewesen. Meine Liebe galt der Kunst, der Musik und Literatur, denn sie enthielten Gedanken und Fantasie und die waren mehr wert als Gut und Geld. Kunst war die wahre Sprache der Menschen. Denn egal welcher Nationalität man angehört, wir alle sind in der Schönheit der Werke gefangen. Jede Komposition, jedes Bild, jeder Roman - sie sind ein Teil von uns, weil sie Emotionen bei uns auslösen. Eine Welt ohne Kunst wäre eine Welt ohne Schönes und ohne Liebe. Eine Welt ohne Kunst wäre tot. Als das Flugzeug auf dem John. F. Kennedy International Airport landete, war es nachts. Ich stieg aus, betrat zum ersten Mal seit Jahrzehnten amerikanischen Boden. In diesem Moment wusste ich, dass dies mein Land war. Meine Heimat. Europa war schön, keine Frage, aber ich würde keinen Ort der Welt gegen Amerika eintauschen. Hier war mein Herz zuhause, hier konnte ich frei sein. Ich mietete mich in ein Hotel in der Nähe des Central Parks ein. Aus dem Fenster hatte man einen wunderbaren Blick über New York, denn das Zimmer lag im 15. Stock. Die Stadt hatte sich verändert, seit ich das letzte Mal hier war; aber damals war ich auch erst neun Jahre alt gewesen. Im Jahre 1950 war die Stadt schon groß und modern gewesen, aber jetzt im Jahre 1993 war sie einfach bombastisch. Dennoch hatte ich nicht vor mich lange an diesem Ort aufzuhalten. Ich hatte keinen genauen Plan, wohin ich gehen sollte, aber New York war definitiv nicht der richtige Platz. Bevor ich jedoch weiterreiste, brauchte ich ein Fortbewegungsmittel. Zwar wäre es kein Problem für mich, quer durch die Vereinigten Staaten zu rennen, aber auf die Dauer war das keine Lösung, schließlich würde es in ebenen, waldarmen Gebieten auffallen, würde jemand mit übernatürlicher Geschwindigkeit übers Feld rennen. Folglich machte ich mich am nächsten Tag auf die Suche nach einem Autohaus. Ich hatte schon eine Vorstellung, was für ein Wagen es werden sollte - auf jeden Fall einen Chevrolet. Warum? Mein Vater hatte bei General Motors gearbeitet, er war für die Marke Chevrolet zuständig. Mit der Erinnerung an ihn, wollte ich ein Auto kaufen, das er geliebt hatte. Es mag dumm sein, ein Auto nach so einem Kriterium auszusuchen, aber ich fand, dass ich es meinem Vater schuldig war, auch wenn er sicherlich bereits gestorben war. Zum Glück hatten Fergus und Athanasia sich um alle nötigen Papiere gekümmert. Neben einem Personalausweis und einem amerikanischen Pass, hatte ich auch einen Führerschein bekommen. Im Prinzip war er rechtsgültig, schließlich konnte ich fahren, ja, ich hatte sogar eine Fahrschule in Europa besucht. Es gab nur ein paar kleine Veränderung auf dem neuen Schein, wegen Alter und so etwas. Aber vom Prinzip her ist das doch ziemlich gleich, oder? Außerdem konnte ein Vampir es sich nicht leisten, sich in solchen Angelegenheiten an das Gesetz zu halten. Ich hatte lernen müssen, dass zu akzeptieren. Mit einem Lächeln betrat ich das Autohaus und sah mich um. Nach wenigen Minuten kam ein Verkäufer auf mich zu. "Kann ich ihnen helfen, Miss?", fragte er freundlich. "Ich suche ein Auto, deswegen bin ich hier", meinte ich lachend und der Verkäufer lachte ebenfalls. "Nun, das wollen unsere Kunden meistens." Sehr schön, das Eis war gebrochen. Zusammen mit Mr. Archer, wie ich an seinem Namensschildchen las, ging ich durch die Reihen von Autos. Wenigstens hatte ich einen kompetenten Mann gefunden, denn obwohl mein Vater vernarrt in Automobile gewesen war, hatte ich keinerlei Kenntnis über solche Dinge. In Physik war ich eine Niete gewesen. Mr. Archer, Archie, wie ich ihn im Geheimen nannte, erklärte mir freundlich Vor- und Nachteile, der einzelnen Modelle. Am Ende entschied ich mich für einen schwarzen Chevrolet Corvette C4. "Eine sehr gute Entscheidung, Miss Anderson", sagte er und geleitete mich in sein Büro, um alles fertig zu machen. Ich wollte den Wagen gleich mitnehmen und bezahlte bar, was Archie ziemlich überraschte. Lag vielleicht daran, dass er meinen Papieren entnahm, dass ich erst 19 war. Doch er war ein guter Verkäufer und hakte nicht nach. "Gute Fahrt", wünschte er, als ich einstieg und losfuhr. Schnell holte ich meine Sachen aus dem Hotel und checkte dort aus, dann konnte ich auch schon raus aus New York. Ich fuhr Richtung Norden, denn ich hatte vor, mich nicht zu verstecken und unter Menschen zu leben. Da im Süden die Zahl der Sonnentage zu hoch war, musste es der Norden werden. Auf einer geraden Landstraße probierte ich aus, wie schnell mein neues Gefährt war und beschleunigte sehr stark. Das Auto gehorchte und das Gefühl für Geschwindigkeit stimmte mich euphorisch. An einer Tankstelle musste ich anhalten, also parkte ich an einer Tanksäule und tankte neu auf. Als ich bezahlte kaufte ich mir eine Karte der Region. Momentan befand ich mich in Vermont, ziemlich nah an dessen Hauptstadt Montpelier. Es war eine wunderbare Gegend, die Wälder, der Fluss. Hier trafen Zivilisation und pure Natur aufeinander ohne zu konkurrieren. Ich wollte hier bleiben, für die nächste Zeit. Also fuhr ich weiter in die Stadt Montpelier, vorbei am Kapitol von Vermont mit der schönen goldenen Kuppel. Zuerst hielt ich nirgendwo an, drehte einfach ein paar Runden durch diesen Ort – bis meine Augen ein Haus fanden und es nicht mehr loslassen wollten. Es lag auf einem Hügel, versteckt von Bäumen, umgeben von einem prächtigen Garten. Das Haus stand leer, ein großes „Zu Verkaufen“ Schild stand davor. Ich stieg aus und sah mir das Haus etwas näher an. Auch wenn ich nicht hinein konnte, sah ich durch die Fenster wie es drinnen aussah. Es war hell und die Wände waren teilweise mit Holz verkleidet. Ich merkte mir die Nummer der Immobilien-Gesellschaft und fuhr dann in ein Hotel, wo ich mich über Nacht einmietete. Von dort aus rief ich den Makler an, der mir für den nächsten Tag einen Besichtigungstermin gab. Es war mein Haus. Kaum hatte ich das Gebäude betreten, war es für mich klar gewesen. Der Vertrag ging schnell von Statten und ich konnte mein neues Reich beziehen. Nachdem ich alle Möbel gekauft und aufgestellt hatte, war es vollkommen. Dieses Haus war meins, meine kleine Welt. Ich trug mich am städtischen College ein. Englisch und Geschichte auf Lehramt. Welcher Teufel mich da gepackt hatte? Keine Ahnung. Es war eine innere Eingebung gewesen, okay, ich hab die Augen zugemacht und dann zwei Fächer angekreuzt! Jetzt sitze ich im Hörsaal. Er war klein, nichts im Vergleich zu denen der europäischen Universitäten. Aber alles war besser, als alleine bis in alle Ewigkeiten zu zweifeln. „Ist dieser Platz noch frei?“ Ich schaute auf und sah in tiefe braune Augen. Der junge Mann lächelte mich an und ich konnte nicht anders, als zu erwidern. „Natürlich“, sagte ich und räumte meine Tasche von dem leeren Platz. Dankend nahm er Platz und hielt mir die Hand hin. „Jonathan Nolan, sehr erfreut“, stellte er sich vor. Für einen kurzen Moment zögernd ergriff ich seine Finger. „Grace Anderson, nett dich kennen zu lernen.“ „Wow, deine Hand ist eiskalt“, stellte er fest. Verlegen meinte ich nur, dass es normal bei mir wäre. Es gab auch Menschen mit kalten Händen, nichts außergewöhnliches, also. „Darf ich?“, fragte Jonathan und hielt seine Hände hin. Etwas verwirrt reichte ich ihm meine, die er mit seinen umschloss und wärmte. „Oh, danke“, sagte ich. Nach einer Weile ließ er meine Finger los. „Besser?“, fragte er. Ich nickte und lächelte. Meine Hände waren tatsächlich warm, seit Jahren waren meine toten Finger mal wieder warm. Es fühlte sich gut an, irgendwie menschlich. Lächelnd sah ich nach vorne und folgte der Vorlesung. „Nun, bitte ich sie alle, schreiben sie mir ihr Lieblingsgedicht auf. Egal von wem, egal aus welcher Zeit. Schreiben sie es auf und bevor sie aus dem Raum gehen, legen sie es bitte hier auf mein Pult“, wies uns der Professor an. Mein Lieblingsgedicht? Das war schwierig, denn es gab zahlreiche schöne Gedichte. Ich überlegte hin und her, ehe ich eines in säuberlicher Handschrift auf ein leeres Blatt notierte: William Shakespeare – Sonnet 29 Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt, Als Ausgestoßner weinend mich beklage, Umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt, Und ich verzweifelt fluche meinem Tage, - Dann wär' ich gern wie andre hoffnungsreich, So schön wie sie, bei Freunden so beliebt, An Kunst und hohem Ziele manchem gleich, Freudlos mit dem, was mir das Schicksal gibt. Veracht' ich mich beinah in den Gedanken, So denk' ich dein, dann steigt mein Geist empor Der Lerche gleich von trüber Erde Schranken Und jauchzt im Frührot an des Himmels Tor. In deiner Liebe fühl' ich mich so reich, Daß ich nicht tausche um ein Königreich! Es passte irgendwie zu mir, fand ich, zudem war es klangvoll. Ich mochte es, wie vieles von Shakespeare. Dieser Mann war ein Genie! Lächelnd legte ich mein Blatt auf das Pult und verließ den Raum. „Shakespeares Sonnet 29? Weshalb so melodramatisch?“, fragte Jonathan. Ich drehte mich zu ihm um und zuckte die Schulter. „Ich mag es“, verteidigte ich meine Entscheidung, „Was hast du denn gewählt?“ „‘Hab Sonne im Herzen‘ von Cäsar Flaischlen.“ Ich lächelte und rezitierte seine Wahl: „Hab Sonne im Herzen, ob's stürmt oder schneit, ob der Himmel voll Wolken, die Erde voll Streit ... hab Sonne im Herzen, dann komme was mag: das leuchtet voll Licht dir den dunkelsten Tag! Hab ein Lied auf den Lippen mit fröhlichem Klang, und macht auch des Alltags Gedränge dich bang ... hab ein Lied auf den Lippen, dann komme was mag: das hilft dir verwinden den einsamsten Tag! Hab ein Wort auch für andre in Sorg und in Pein und sag, was dich selber so frohgemut lässt sein: Hab ein Lied auf den Lippen, verlier nie den Mut, hab Sonne im Herzen, und alles wird gut!“ Jonathan sah mich an. „Wow, du kannst wohl alle Gedichte auswendig?“ Lachend verneinte ich, meinte aber, dass ein paar sicherlich zusammen kämen. „Hast du vielleicht Lust auf einen Kaffee?“, fragte Jonathan und deutete auf ein kleines Café an der Straßenecke. Einen Moment lang war ich etwas gelähmt. Hatte er das gerade wirklich gefragt? „Sicher“, meinte ich nur, „aber mir wäre ein Tee lieber. Ich hasse Kaffee.“ Wir lachten beide und gingen in das Geschäft. Es war gemütlich, hell und hatte eine warme Atmosphäre. Der Duft von Kaffee und Gebäck lag in der Luft, vermischt mit dem zarten Geruch der Veilchen, die auf jedem Tisch standen. Jonathan bestellte einen Kaffee und einen grünen Tee, den uns die Kellnerin, dann an unseren Fensterplatz brachte. „Du stammst nicht von hier“, stellte mein Begleiter fest. „Korrekt“, stimmte ich lächelnd zu, „fällt das so sehr auf?“ „Eigentlich nicht, aber ich niemand schien dich zu kennen, alle sind dir aus dem Weg gegangen. Daraus habe ich geschlussfolgert, dass du entweder neu und einschüchternd bist oder einfach unbeliebt. Zweite Möglichkeit habe ich ausgeschlossen, weil du einfach zu nett bist, als das man dich nicht mögen könnte“, schilderte er. Ich lachte. „Gute Auffassungsgabe, aber da du mich gerade mal eine Stunde kennst, wie willst du sagen, ob ich nett bin oder nicht. Was wäre denn, wenn ich eine Leiche im Keller hätte?“ „Du liebst Poesie“, sagte er. „Oh ja und es gibt natürlich keine poetischen Mörder“, scherzte ich. „Nun, bisher habe ich keinen getroffen, du etwa?“, entgegnete er grinsend. Ich lachte. „Und selbst wenn, wüsste ich nicht, dass dieser jemand Poesie mag.“ Es war so einfach. Leicht wie eine Feder im Wind schwebte, so leicht war es sich mit Jonathan zu unterhalten, mit ihm zusammen zu sein. Wir scherzten und lachten, konnten aber im nächsten Moment auch über ernste Dinge reden. Nach den Vorlesungen saßen wir oft zusammen in dem Café oder gingen durch einen kleinen Park spazieren, während wir über Literatur sprachen oder einfach über Alltägliches lachten. Seine Nähe war warm und wohlig, wie eine warme Decke an einem kalten Wintertag. Man kuschelt sich ein und plötzlich ist auch dem Schnee eine schöne Seite abzugewinnen. Mir wurde Tag für Tag klar, dass Jonathan das richtige Gedicht für sich gewählt hatte, denn er war eine Sonne, die Glück und Leben schenkte. Jonathan war von Natur aus eine vertrauensvoller Mensch. Er hinterfragte mein Fernbleiben an Sonnentagen nicht, er wärmte meine Hände jeden Tag aufs Neue, ohne nach einem Grund für ihre Kälte zu forschen. Ich hütete mich auch davor, es ihm zu erzählen, aus verschiedenen Gründen. Zum einen hatte ich Angst, er würde sich vor mir fürchten oder mich verrückt erklären. Beides wäre nicht zu ertragen. Zum anderen gab es nie den passenden Moment, außerdem wäre dieses Gespräch sicher komisch geworden. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie ich es ihm hätte sagen sollen. Vielleicht „Oh hey, Jonathan, ich wollte dir übrigens sagen, dass ich ein Vampir bin. Das macht dir doch sicher nichts aus.“? – Zum Brüllen komisch, ich werde später lachen. Es war nicht leicht. Schwer wie die Welt aus ihren Angeln zu heben, so schwer war es, meinem besten Freund mein größtes Geheimnis anzuvertrauen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)