Traces of the Love we left von Stiffy ================================================================================ Kapitel 2: Hugh Smith --------------------- Ich war bis zum Ende der laufenden Schulstunde in Raum K-551 geblieben. Über die Möbel blickend, hatte ich die vergangenen Minuten Revue passieren lassen, immer und immer wieder. Ich schloss sekundenlang die Augen dabei und spürte den Kuss erneut, die Hände, die Leere, wenn ich die Augen wieder öffnete. Und ich sah seinen Blick, die gesamte Zeit über, sah diesen Ausdruck von unbeschreiblicher Angst. Ich begriff sie nicht ganz. Was sollte sie mir sagen? Hatte er dies alles eigentlich nicht tun wollen? Wieso aber hinterließ er mir dann eine Nachricht, die uns hierher treiben würde? Er wusste es selbst nicht, das hatte er gesagt… doch auch er musste bereits gestern den Blick begriffen haben, welchen wir geteilt hatten. Er musste gewusst haben, was passieren würde, wenn wir uns in diesem Raum träfen. Doch wenn er sich über all das im Klaren war... weshalb hatte ihn danach dennoch plötzlich diese Furcht ergriffen? Ich konnte mir dies nicht beantworten und ich wusste auch nicht wirklich, wie ich mich fühlte, als ich schließlich die Tür hinter mir schloss. Es war keiner Enttäuschung gleich, eher Neugierde vielleicht, dem Gefühl, ihm sagen zu müssen, dass es okay war, was geschehen war. Denn das war es doch. Ich fand ihn attraktiv, er schien mich dergleichen zu begehren… na und? Während ich damals meine Schritte zurück zum Klassenraum ging, vergaß ich wohl, wie viel Zeit auch ich gebraucht hatte, mich so zu akzeptieren. Auch bei mir hatte es eine Zeit gegeben, in der es mir Angst bereitet hätte. Nick hatte natürlich auf mich gewartet, als ich meine Sachen aus dem Klassenzimmer holen wollte. Er stand an seinem Platz neben meinem und fixierte mich sorgenvoll. Ich beteuerte ihm nur, dass es mir gut ginge, ergriff meine Tasche aus seinen Händen und ließ ihn stehen, in dem Wissen, dass er mir folgen würde. Die Frage, was mit mir los sei, traf mich bereits im Flur. An dieser Stelle war ich kurz davor, ihm die Wahrheit zu sagen, doch letztendlich wollte ich mich nicht an diesem Tag damit beschäftigen. Mir gingen schon zu viele Dinge durch den Kopf, über die ich in Ruhe nachdenken wollte. Also log ich Nick an und ließ mir erzählen, was in den verpassten Schulstunden gemacht worden war. Für den Heimweg lenkte mich dies auch tatsächlich etwas ab, zumindest bis sich unsere Wege trennten. Ab da war jeglicher Gedanke, der nicht mit K-551 zu tun hatte, zum Scheitern verurteilt. Den gesamten Resttag lang konnte ich an nichts anderes denken und auch in der Nacht war durch das unbändige Verlangen in mir keine Ruhe zu finden. Ich musste ständig daran denken, wie die Hände sich angefühlt, wie seine Lippen mich berührt hatten. Ich wurde immer und immer wieder von Extase geschüttelt und konnte gleichzeitig das schreckliche Gefühl nicht loswerden, dass ich überhaupt keinen Schimmer hatte, was nun passieren würde. Ich hatte keine Ahnung, an was ich nun war. Er hatte nicht reden wollen, würde er es je wollen? Würde es eine Gelegenheit dazu geben? Würde so etwas gar erneut passieren? Oder würde er mir fortan aus dem Weg gehen? Siegte die Furcht bereits jetzt über ihn? Musste ich vergessen, was geschehen war? Ich tat kein Auge zu und fühlte mich hilflos. Einmal die Sünde gekostet, war ich ein Ertrinkender. Würde ich der einzige in dieser Tiefe bleiben? ~ * ~ Es fiel mir schwerer noch als am Tag zuvor, an nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen. Außerdem sah ich wahrscheinlich noch viel bleicher aus, zumindest sagte Nick mir genau das mit seinem erschrockenen Blick, als ich ihn wie jeden Morgen traf. Doch er fragte nicht; vielleicht hatte er begriffen, dass er nichts aus mir herausbekommen würde, zumindest noch nicht. Eigentlich wusste er, dass ich ihm alles irgendwann erzählte, nun vertraute er wohl genau darauf, während ich neben ihm herging und sein Vertrauen schon lange missbrauchte. Den wichtigsten Fakt über mich hatte ich ihm noch immer nicht erzählt; an jenem Morgen quälte mich mal wieder der Gedanke, weshalb. Es hätte so vieles einfacher gemacht, wenn er wirklich alles über mich gewusst hätte, dann hätte ich ihm auch sagen können, was der Grund für meine weitgehend schlaflosen Nächte war. Ungewöhnlich schweigsam trafen wir bei der Schule ein, betraten das Klassenzimmer, setzten uns nieder. Nur Sekunden später trat auch Ralph durch die Tür und ich erstarrte. Er jedoch beachtete mich mit keinem einzigen Blick, seiner Körperhaltung war noch nicht einmal eine Veränderung anzumerken. Er schien gar nicht zu realisieren, dass ich im selben Raum war; oder es interessierte ihn schlicht und einfach nicht. Ich jedoch war mir sicher, dass es beides nicht war. Er wollte mich nicht beachten, mich nicht realisieren, seinen Körper nicht anspannen. Er wollte ganz einfach so tun, als sei nichts passiert, wollte die Furcht aus seinem Innersten vertreiben, so wie er es wahrscheinlich die ganze Nacht lang getan hatte. Ob auch er wach gelegen, an mich gedacht hatte? Ob es ihm ebenso wie mir ergangen war? Ich hoffte darauf, denn anders ertrug ich den Tag nicht, an dem er mich nicht ein einziges Mal beachtete. Vielleicht sah er mich während der Stunden an, doch das konnte ich nicht wissen, und so lebte ich mit meinen Vorstellungen, dass er einfach nur nichts zeigen wollte, sich nicht bloßstellen. Es musste so sein und sein Kopf zuckte nicht umsonst, wenn ich dann und wann in den Pausen zu ihm hinüber sah. Der folgende Tag verging kaum weniger ereignislos. Allerdings tauschte ich an jenem Donnerstag ein, zwei Blicke mit dem Jungen, den ich begehrte. Er schaffte es wohl nicht mehr, seinen eigenen Blick schnell genug abzuwenden, oder zumindest ließ er sich von mir gefangen nehmen, während der Rauch über sein Lippen glitt. In der Mittagspause gestattete ich mir eine Geste, welche verdeutlichen sollte, dass ich Zigaretten ekelhaft fand. Keine drei Sekunden später war seine ausgedrückt und er verschwand im Gebäude zusammen mit zwei Freunden. Wäre er alleine gewesen, wäre ich ihm gefolgt. Ob er das wusste? Am Freitag fragte ich mich, ob es langsam auffällig wurde, wie ich Ralphs Blickkontakt suchte. Bemerkte Nick es nicht? Oder einer von Ralphs Freunden? Ich fragte mich, ob es mich stören würde, wenn dem so wäre, und ich kam schnell zu der Antwort, dass es mir eigentlich ziemlich egal war. Aber Ralph wäre es nicht egal, da war ich mir sicher... Und dennoch ließ er mich seinen Blick immer und immer wieder treffen, und es waren definitiv die intensivsten Blicke, die ich je mit einem anderen Menschen ausgetauscht hatte. Innerlich begann ich zu brennen. Wie konnte er mir das bloß antun? Wie konnte er mit seinen Augen so viele Dinge zu mir sagen, doch nicht ein einziges Wort mit seinen Lippen für mich formen? Dabei wünschte ich es mir so sehr. Mehr als Küsse, mehr als Berührungen sehnte ich danach, ihm Dinge sagen zu können, ihm Fragen zu stellen, den Menschen kennenzulernen, um nicht nur seinen Körper zu begehren. Dies erfüllte mich nicht, der Gedanke stieß mich ab. Ich wollte mehr als das. Würde er es mir geben, wenn ich fragte? In der letzten Schulstunde dieser Woche grübelte ich darüber nach, ob ich einen Schritt in seine Richtung machen sollte. Ich wollte es, bevor das Wochenende anbrach; ich wollte mir nicht zwei unendliche Tage lang Gedanken machen müssen, was diese Blicke nun wirklich bedeuteten, ob er vielleicht gar darauf wartete, dass ich ihm ein Zeichen gab. Dabei tat ich dies doch ständig, oder nicht? Meine Blicke mussten mehr als eindeutig sein. Seine waren es doch auch. Als es klingelte und ich fast den Entschluss gefasst hatte, wirklich etwas zu sagen, brauchte es letztendlich jedoch nur einen Blick, um ihn sofort wieder zu kippen. Dieser Blick war anders als die anderen zuvor; kühl und abweisend. Er sagte mir, dass ich es nicht wagen sollte, zu ihm zu gehen. Hatte er geahnt, was in mir vorgegangen war? Wie genau beobachtete er mich wirklich? Ich tat also nichts und ging ebenso missmutig und aufgewühlt nach Hause wie an den Tagen zuvor. Innerlich fühlte ich mich vollkommen ausgelaugt, der Gedanke machte mich fertig, dass ich mich nun ein ganzes Wochenende um diese tausend Fragen herumdrehen würde. Doch das Wochenende kam trotzdem, ungeachtet meines Missmuts... und es kam anders als erwartet. ~ * ~ Ich hatte mir geschworen, nicht nur Zuhause rumzuhocken, also beschlossen Nick und ich ins Schwimmbad zu gehen. Das in unserer Stadt einzige, kleine Hallenbad namens Hugh Smith war in den kälteren Monaten ein gerngesehener Treffpunkt. Das ein oder andere Schülergrüppchen konnte man hier vorfinden. Ob ich an jenem Samstagnachmittag die geringe Hoffnung hegte, auch Ralph zu begegnen? Bestimmt… Doch wenn es so war, so verging sie mir schnell, denn ich sah ihn nirgends. Enttäuscht sagte ich mir, dass ich ihn nicht die ganze Zeit über suchen könnte, versuchte mich abzulenken, alberte mit Nick herum, lachte viel, doch nur, wenn ich tief tauchte und das kalte Nass meinen Körper umspülte, fühlte ich mich für ein paar Sekunden befreit. Hier unten in der blauen Wasserwelt konnte ich einen Moment meine Gesichtszüge entgleiten lassen und doch an Ralph denken, die Erinnerungen für Millisekunden meine Haut kribbeln lassen und mir wünschen, dass es nicht ein einmaliges Erlebnis bleiben würde. Als mir irgendwann gegen Abend, während Nick gerade mit Catrin am Beckenrand sprach, wieder die Luft ausgegangen war und ich zur Wasseroberfläche tauchte, blendete mich für Sekunden die langsam orange werdende Sonne, welche durch die riesigen Glasscheiben fiel. Ich blinzelte in sie, ließ sie auf meiner feuchten Haut glitzern und senkte erst einen Moment später den Blick. In den nächsten Sekunden vergaß ich, Wasser zu treten. Ich hatte Ralph garantiert schon oft halb nackt gesehen, nur in Boxershorts oder wenigstens oben ohne. In den Umkleidekabinen war dies oft vorgekommen, oder im heißesten Sommer auf dem Schulgelände während der Pausen. Dass ich seinen nackten Oberkörper, von dem nun die Nässe abperlte, in diesem Moment anders wahrnahm, musste an dem liegen, was Tage zuvor geschehen war. Plötzlich raubte es mir die Sinne, ihn am anderen Ende des Beckens stehen zu sehen, gelehnt an eine der Glasscheiben, den Blick unverwandt auf mich gerichtet, ebenso intensiv wie zuvor, vielleicht noch direkter. Ich tauchte unter, da mir die Kraft fehlte, dem Blick länger als diese paar Sekunden standzuhalten. Unter Wasser nun griff ich mir ins Gesicht, kniff mich, ermahnte mich, nicht so vollkommen dämlich zu ihm zu starren, und musste dabei irgendeiner Schwimmerin ausweichen. Dann stieg ich wieder in die Höhe, den Blick direkt in Richtung meines Ziels gewandt. Und tatsächlich stand er noch immer da. Nun lächelte er ein wenig. Es war, als würde mir die Sonne wieder in die Höhe steigen. Minutenlang starrten wir uns an, zumindest kam es mir wie diese Ewigkeit vor. Sein Grinsen verschwand dabei und seine Augen zeigten etwas, das ich aus der Entfernung nicht verstand. Mehr denn je spürte ich mein Verlangen danach, unsere Blicke in Worte zu fassen. Mehr denn je wollte ich den Ausdruck in seinen Augen verstehen. Noch während dieser Gedanken stieß er sich mit einem Mal von der Glasscheibe ab, ging einen Schritt auf das Becken zu. Sein Blick fixierte mich immer noch und wäre ich untergetaucht, hätte mir die Luft zum Atmen gefehlt. Ich hatte das Gefühl, als wolle er mir etwas sagen, etwas ganz wichtiges, doch nur wenn er geschrien hätte, hätte ich ihn verstehen können. So also schwieg er, wartete Sekunden länger bis ich in seinen Zügen eine Veränderung erkannte. Dann dreht er sich um. Nur einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, was zu tun war, doch dann erkannte ich, wo seine Schritte ihn hinführen. Ich warf einen Blick zu Nick hinüber, nur um mir zu bestätigen, dass er noch immer vollkommen beschäftigt mit Catrin war. Wieder zum Dusch- und Umkleidebereich schauend, war Ralph nun verschwunden, und ich wusste, dass ich nicht anders konnte. Ich musste es versuchen. Er hatte mir irgendetwas sagen wollen. Ich musste es hören. Also stieß ich das Wasser von mir, bewegte mich schnell vorwärts und kam nur wenig später ebenfalls bei dem rauschenden Wasser der Duschen zum Stehen. Ich sah ihn nicht, und auch sonst niemanden, doch ich traute mich trotzdem nicht, seinen Namen zu sprechen. Einen Moment lang stand ich ratlos herum. Hatte ich es falsch verstanden? Machte er sich nun einen Spaß daraus, mich nach ihm schmachten zu sehen? Wusste er, dass ich so doof sein und ihm hier her folgen würde? Innerlich sauer auf mich selbst wollte ich den Rückzug antreten, mich umdrehen, zu Nick gehen und ihm sagen, dass ich nun gehen würde… doch weiter als bis zum Umdrehen kam ich nicht. Ich rutschte aus vor Schreck und Ralph hielt mich fest. Er grinste schief und zog mich wieder mit sich in die Höhe, ließ mich nicht los und zog mich in eine der drei Einzelduschkabinen hinein. Hier verlor er kein Wort sondern unterdrückte meine sogleich mit seinen Lippen. Das Abenteuer in der Duschkabine verlief schneller als das in K-551. Schon seit vier Tagen dies unbändige Verlangen mit mir herumgetragen, kam der Höhepunkt bei mir viel zu schnell. Doch auch Ralph folgte nur Sekunden später, stöhnte mir leise ins Ohr und küsste mich danach nochmals mit einer solche Leidenschaft, dass ich mit Sicherheit auf dem nassen Boden weggeglitten wäre, hätte er mich nicht noch immer an die Wand gepresst. „Ich kann nicht anders“, hauchte er mir ins Ohr, als es vorbei war und meine Arme ihn umfangen hielten. Ich spürte die heiße Haut an meiner und spürte, wie sein Körper dennoch zitterte. „Musst du doch ni-“ Er unterbrach mich mit einem weiteren Kuss, dann sah er mir in die Augen. „Nicht hier“, flüsterte er und strich über meine Wange hinweg. „Wo dann?“, konnte ich bloß fragen. „Ich weiß es nicht.“ Er seufzte, küsste mich, legte die Stirn in Falten. Seine Augen wichen noch immer nicht von meinen und nun erkannte ich wieder den Ausdruck in Ihnen, welchen ich schon einmal gesehen hatte. Dieselbe Furcht, stärker als zuvor, und dennoch, wie es schien, nicht stark genug. Woher kam sie bloß? Weshalb ergriff sie ihn dermaßen? Ich wollte es ihn fragen, doch ich konnte es nicht. Er hätte es mir nicht beantwortet, da war ich mir sicher; nicht hier. Also schwieg ich und hob meinerseits meine Finger zu seinem Gesicht. Als ich es berührte, erzitterte er an meinem Körper und der Ausdruck seiner Augen zog sich über seine gesamten Züge. Was wollte er sagen, was er nicht aussprechen konnte? Was quälte ihn so? Statt zu fragen küsste ich ihn. Jedes Wort wäre zuviel gewesen, hätte ihn von mir getrieben, anstatt ihn näher zu bringen. Dabei wartete ich noch immer auf eine Antwort, die mehr als die Berührung unserer Körper war. Irgendwie wusste ich, dass er sie mir geben wollte. Als der Kuss, welcher weicher war als zuvor, fast intimer als während unserer intimen Berührungen, vorbei war, öffnete er die Lippen zum Sprechen. Es dauerte trotzdem noch Sekunden, bis er die Worte hervorpresste. „Was machst du morgen?“ Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so direkt fragen würde, in so naher Zukunft, doch es überwältigte mich so, dass ich alle etwaigen Pläne sofort verwarf. In diesem Augenblick hätte ich alles für ihn stehen und liegen gelassen. „Nichts“, sagte ich daher. „Weißt du, wo ich wohne?“ Die Falten auf seiner Stirn waren noch immer da. Er war sich nicht sicher, ob er einen Fehler beging; das sah ich, es war so deutlich für mich. Ich schüttelte den Kopf, während ich meine Finger zu den Falten streckte, die sein Gesicht so sehr verzogen. „Finde es heraus.” Er küsste meine Handinnenfläche, ein Kribbeln durchzog sie, durch meinen Arm, in meinen ganzen Körper. „Morgen ist niemand da.” Noch ein Mal glitten seine Hände fest über meine Brust hinweg, dann entfernte er sich von mir und schlüpfte aus der Kabine heraus, schneller als ich überhaupt den Gedanken fassen konnte, ihn aufzuhalten. Ich blieb zurück, erschrocken, überwältigt, mit zitternden Knien und einem Gefühl, das ich noch nie gespürt hatte. Gleichzeitig hätte ich vor berauschender Freude das gesamte Schwimmbad zusammen schreien können. Nick hatte mein Fehlen scheinbar doch bemerkt, aber ich erklärte ihm einfach, dass mir in der stickigen Hallenbadluft schlecht geworden wäre, weshalb ich eine Weile die Gesellschaft der kalten Duschen vorgezogen hatte. Er glaubte mir, zumindest sagte er das, was hätte er auch anderes tun sollen? Nur kurz darauf verließen wir das Hugh Smith. Ich schwor mir, mir überhaupt nichts anmerken zu lassen. Ich wollte nicht noch eine Frage heraufbeschwören, die ich nicht beantworten könnte. Es schmerzte so schon zu sehr, ihn immer und immer wieder zu belügen. Und als wir uns trennten, verabredet für den Montagmorgen wie immer, da schwor ich mir auch, dass es nicht mehr lange so weitergehen würde. Egal was morgen bei Ralph passieren würde, sei es positiv oder negativ, ich musste es Nick erzählen. Ich musste einfach, ich konnte meinen besten Freund nicht belügen. Ich brauchte ihn, brauchte jemanden, der die ganze Wahrheit kannte, egal wie egoistisch es war, es ihm aus dem Grunde erzählen zu wollen. Ich hätte es meinen Eltern sagen können, das wusste ich, doch ich zog es verständlicherweise nicht eine Sekunde lang in Betracht. Welches Kind teilt schon derartige Geheimnisse mit den Eltern, selbst wenn diese es noch so akzeptieren würden? Der Gedanke war absurd und dennoch ließ er mich grinsen, als ich mich an den Esstisch setzte und meinen Eltern stattdessen erklärte, dass mich der lange Schwimmbadbesuch ausgelaugt habe. Sie ließen es zu, dass ich das Essen mit mir hinauf in mein Zimmer nahm. Ich war ihnen dankbar, denn ich hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit und musste so nicht auch noch beantworten, weshalb dem so war. So nun konnte ich mich einfach nur auf mein Bett zurückziehen und meinen zwiegespaltenen Tagträumen nachgehen, welche bald zu meinen wirklichen Träumen wurden. Hier war alles bunter, etwas verrückter, unrealistisch und wunderschön kitschig, doch als ich durch irgendetwas mitten in der Nacht wach wurde, spürte ich, dass mich ein merkwürdig ernstes Gefühl ergriffen hatte. Ich konnte nicht mehr einschlafen, weshalb ich mich über mein kalt gewordenes Abendessen hermachte und mir leise das Telefonbuch aus Dads Arbeitszimmer erschlich. Noch fragte ich mich, wie ich Ralphs Adresse bloß herausbekommen würde, als es sich tatsächlich als viel einfacher herausstellte als erwartet. Sie stand wiedererwarten tatsächlich im Telefonbuch. Ich hatte es eher aus der Routine heraus aufgeschlagen. Ich wusste, dass mittlerweile viele sich nicht mehr eintragen ließen, und ich rechnete damit, auch seinen Namen nicht hier zu finden. Doch da stand er, sein Nachname, und zu meinem großen Glück wusste ich auch wie Ralphs Vater hieß, dessen Vorname ebenfalls dabei stand. Mr. George Bennet war der Vorsitzende des Elternverbandes, ein ziemlich oft gelobter Mann. Und daher hatte ich sie nun, ohne jeden Zweifel, Ralphs Adresse, welche ich mit bescheuertem Grinsen auf einen kleinen Zettel kritzeln konnte: Edinburgh Street 31. Sie lag gar nicht weit von meinem Elternhaus entfernt. ~ * ~ Hatte ich vorgehabt, an Sonntagmorgen noch irgendetwas Produktives zu tun, so konnte ich meine Pläne getrost in die Ecke schieben. Ich hätte ihnen meine Aufmerksamkeit nicht widmen können, egal wie sehr ich mich dazu gedrängt hätte. Auch meine Eltern begriffen schnell, dass man mit mir an diesem Frühstückstisch nichts besprechen konnte, und ließen mich daher mit meinen Tagträumen alleine. Was sie wohl dachten, was seit Tagen mit ihrem Sohn los war? Ob sie zu den richtigen Schlüssen kamen? Eigentlich konnte ich mir das sehr gut vorstellen, sie waren schon immer ziemlich aufmerksam gewesen, wenn es um ihre Kinder ging. Dieser kurze Gedanke an mein Coming-Out lenkte mich allerdings nur ein Weilchen ab. Ich hatte damals mit viel heftigeren Reaktionen gerechnet, während aber mein Vater letztendlich bereits nach fünf Minuten wieder nach der Morgenzeitung gegriffen hatte und meine Mutter mich fragte, ob ich denn aktuell einen Freund hätte. Selbst Lizzy, welche zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr am College lebte, und der ich es am selben Abend noch per Telefon erzählte, hatte nichts besseres zu tun, als mir zu erklären, dass sie doch schon immer gewusst habe, dass ich ein klein wenig anders sei. Nun wisse sie zumindest endlich, weshalb ich im Kindergarten vernarrter nach ihren Puppen gewesen war als sie selbst. Ich hatte über dies Klischee nur die Augen verdrehen können. An diesem Morgen, als ich eigentlich nur darauf wartete, dass die Zeit irgendwie verging, in diesen Gedanken schwelgend, brachten sie das Lächeln, welches ich dabei mit Sicherheit trug, aber nicht lange auf meine Lippen. Es ließ andere Gedanken in mir entstehen. Ich fragte mich, wie Ralphs Eltern wohl waren. Meine Mutter hatte Mr. Bennet mal als sehr autoritär beschrieben, als einen Mann, der wusste, was er wollte. Hatte er Ralph wohlmöglich genau danach erzogen? Machte es Ralph so zu schaffen, weil er nicht das leben oder fühlen konnte, was sein Vater von ihm verlangte? War es so? Oder interpretierte ich bereits viel zu viel in die ganze Sache hinein? Mit jeder Minute, die verging, wurde ich nervöser, mit jedem Gedanken an ihn wollte ich schneller zu ihm; um mit ihm zu reden, um ihm eben diese Fragen zu stellen, um in seine Augen zu blicken und zu sehen, was er fühlte, denn ich war mir sicher, dass da etwas war. Nur sechs Tage waren seit unserem ersten Blickkontakt im Klassenzimmer vergangen und dennoch hatte ich bereits das Gefühl, ihn zu verstehen, zu wissen, dass er mehr wollte als das, was er zeigte. Ich wusste irgendwie, dass uns etwas verband, bereits an jenem Sonntagmorgen, als ich immer wieder zur Uhr starrte und mich fragte, wann ich mich endlich auf den Weg machen könnte. Ich wollte meine Fragen endlich aussprechen. Da Ralph und ich keine Uhrzeit ausgemacht hatten, wusste ich nicht, wann ich am besten bei ihm auftauchen sollte. Erst war ich mir sicher gewesen, dass ich nicht vor fünf Uhr hingehen sollte, dann war mir selbst zwei Uhr noch zu spät. Ich wollte ihn sehen, sofort. Doch wann erwartete er mich? Letztendlich machte ich mich doch erst um kurz vor drei auf den Weg und sagte meinen Eltern, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wann ich wieder daheim sein würde. Meine Mutter grinste und sagte mir, dass ich einen schönen Abend haben sollte. Es bestätigte mir nur meine Vermutungen, dass sie bereits richtig vermuteten. In der Edinburgh Street am Haus mit der Nummer 31 angekommen, blieb ich lange unschlüssig vor der Auffahrt stehen. Ich war zu Fuß gekommen, da ich so noch etwas Zeit vertrödelte. Dabei wäre ich am liebsten gerannt. Ich sehnte mich so sehr. Doch nun, in dem Augenblick, als ich das Haus vor mir sah, hielt ich inne. Hier fragte ich mich plötzlich zum ersten Mal, was ich mir eigentlich von diesem Treffen erhoffte. Mit einem Mal schwand mein ganzer Mut, der sich vollkommen natürlich in mir aufgebaut hatte. Ich kannte Ralph noch immer nicht, ich wusste noch immer nicht, was er mit mir verband. Vielleicht deutete ich doch jeden seiner Blicke falsch, vielleicht waren all die Dinge, die ich glaubte, in seinen Augen zu sehen, nur meine eigenen Hirngespinste. Was, wenn er heimlich über mich lachte? Was, wenn er sich einen Spaß daraus machte, mich um den Finger zu wickeln? Denn das tat er, bewusst oder unbewusst, ich war ihm bereits verfallen. Als ich also vor diesem wunderschönen Haus stand und mich fragte, was ich mir erhoffte, was ich eigentlich hier wollte, war die Antwort plötzlich keine so schöne mehr. „Zu viel“, war die erschreckende Wahrheit. Es war noch viel zu früh, sich irgendwas zu erhoffen. Ich wollte zu viel von ihm. Wahrscheinlich hatte er noch nicht mal ansatzweise so weit gedacht wie ich. Was hatten wir auch bisher geteilt? Ein paar Minuten bei den verlassenen Möbeln, Berührungen und Blicke im Hugh Smith. Sollte es etwa so weiter gehen? Eine körperliche Beziehung? Oder war sie bisher einfach das einzige, was uns möglich war? Ich sah doch in seinen Augen, wie schwer jedes Wort ihm fiel. Er konnte so schlecht darüber sprechen, war es ihm daher einfacher, mich zu berühren? Oder ging es ihm letztendlich gar nicht ums Sprechen? Diese Gedanken, die ich damals hatte, deprimierten mich sehr. Ich stand da und wusste nicht einmal mehr, ob es gut war, hergekommen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es wirklich noch wagen sollte, einen Schritt nach vorne zu tun. Plötzlich überfiel mich all die Angst, welche ich seit Tagen nicht gehabt hatte, welche ich aber vielleicht seit dem Blick im Klassenzimmer hätte haben sollen. Plötzlich war sie da, ganz unerwartet, und sie fesselte mich an die Steinplatten unter mir. Später erst sollte ich erfahren, dass Ralph mich beobachtet hatte, vom Wohnzimmerfenster aus. Er hatte dagestanden und gesehen, wie ich mit mir haderte, und er hatte befürchtet, dass ich wieder gehen würde, ohne reingekommen zu sein. Ursprünglich hatte er nicht einmal damit gerechnet, dass ich überhaupt auftauchen würde, und mich nun so unentschlossen zu sehen, verlangte ihm Selbstbeherrschung ab. An jenem Nachmittag aber, als ich dort stand, wusste ich nicht, dass ich beobachtet wurde. Hätte ich genauer zu den Fenstern gesehen, hätte ich es wahrscheinlich bemerkt, doch ich war so sehr in meiner eigenen Unentschlossenheit gefangen, dass ich es nicht tat. Und für eine Sekunde lang war ich tatsächlich kurz davor, wirklich wieder nach Hause zu gehen. Was mich am Ende doch dazu brachte, einen weiteren Schritt auf das Haus zu zu tun, weiß ich merkwürdigerweise noch all zu genau. Es war nicht der Blick von Furcht, den ich immer noch vor meinem inneren Auge sah, es waren auch nicht die intensiven Momente während der Pausen, sondern es war eine andere Erinnerung; es war der Gedanke, wie er die gerade mal halb abgebrannte Zigarette gelöscht hatte, direkt nach meiner neckisch gemeinten Geste. Keine drei Sekunden danach. Er hatte sie gelöscht. Und er hatte auch im Hallenbad nicht nach Zigaretten geschmeckt. Es war, als hätte diese winzige Erinnerungen mit einem Mal alle Zweifel beiseite gefegt. Da war er wieder, mein Mut, mit welchem ich mich auf den Weg gemacht hatte; die Vorfreude, die Sehnsucht. Plötzlich wusste ich, dass ich nicht eine Sekunde länger einfach nur dort stehen konnte. Den ersten Schritt getan, fiel der zweite so unglaublich leicht, der dritte ging noch schneller vonstatten. Und ehe ich mich versah, hatte ich meinen Finger bereits nach dem Klingelknopf ausgestreckt. Ich erreichte ihn nie, denn bevor ich ihm auch nur gefährlich werden konnte, wurde die Tür aufgerissen. Ich zuckte zusammen, erschreckte mich, war eine Millisekunde erstarrt, bis ich die Augen hob und ihn sah. Da stand er, und auf seinen roten Wangen, in dem hübschen Gesicht, in den wunderbar grünen Augen strahlte eine Erleichterung und Freude wieder, welche ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es war so deutlich zu erkennen, dass er so sehr auf mich gewartet hatte wie ich auf ihn; es war, als wäre ihm gerade zum ersten Mal die Sonne aufgegangen. Part 2 ~ Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)