Traces of the Love we left von Stiffy ================================================================================ Prolog: Location Unknown ------------------------ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Genre: Shounen Ai / Yaoi Fandom: Original / Eigene Serie Kapitel: Prolog, Kapitel 1-4, Epilog Disclaimer: Charaktere und ihr Leben gehören mir ^__~ Kommentar: Eigentlich würde ja an dieser Stelle kurz etwas über die Entstehung der Geschichte stehen, den Titel und den Wettbewerb bzw. das Lied, aber leider haben die Freischalter etwas gegen einen zu langen Kommentartext, weil mein Prolog so kurz ist. Aus dem Grunde stehen diese Dinge nun unter "Die Charaktere" auf der Hauptseite dieser FF. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr einen Blick darauf werfen würdet. Ansonsten... viel Freude beim Lesen! ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ TRACES OF THE LOVE WE LEFT ~ Prolog ~ Location Unknown ~ „Es ist schön heute Abend.“ Die unerwartete Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich beobachte seine Schritte, wie sie sich über den Platz nähern. Ich hätte nicht gedacht, dass er mir folgen würde. „Ja“, sage ich bloß, als er sich schon längst neben mich gesetzt hat. Ich sehe ihn eine Zigarette aus der Schachtel nehmen. „Du hast wieder angefangen“, stelle ich fest. Ich erwarte keine Antwort darauf und ich erhalte auch keine. Gemeinsam starren wir über die alten Gebäude hinauf. Langsam sind die letzten Lichtstrahlen verschwunden, der Himmel wird in Dunkelheit getaucht. „Worüber reden sie?“, deute ich mit dem Kopf nach Innen. „Sie sind bei Mrs. Lewis angekommen.“ Er zieht an der Zigarette. Ich sehe den Rauch Sekunden später über seine Lippen drängen. „Ich mochte sie nie...“ „Also ich fand sie eigentlich ganz kompetent...“ „Ich weiß.“ Ich spüre die Spannung der Worte. Wieder sehe ich ihn an. Gehen bei dem Namen wohl dieselben Gedanken durch seinen Kopf? „Es ist lange her.“ „Ja.“ Der Nebel scheint in seinem Mund zu hängen, bis er ihn von sich stößt. Vor mir blitzt ein vergessenes Bild auf. Er hatte mich damals aus der Raucherecke beobachtet, traurig, den Abschied in den Augen... Ich hatte das Gefühl gehabt, ihn noch immer zu spüren, und dass es mich innerlich auffraß... Heute weiß ich nicht mal mehr, wie sich seine Küsse angefühlt haben. Ich wende den Blick ab. „Ich dachte nicht, dass du heute kommst.“ „Ich wollte nicht, aber Lexa hat mich überredet. Sie sagte, ich würde es bereuen...“ „Ach ja?“ Eine Sekunde lang geht er nicht darauf ein. Ich höre, wie er die noch nicht ganz heruntergebrannte Zigarette von sich schnipst. Dann scheint seine Stimme im nächsten Moment ein Stück näher zu sein, oder tiefer in mir drin. „Ich habe ihr gesagt, dass ich den größten Fehler meines Lebens bereits begangen habe.“ Plötzlich spüre ich seinen Blick ganz deutlich auf mir. Es schnürt mir die Luft ab. Ich wage es nur langsam, den Blick zu drehen. Er war der letzte Mensch, den ich je wiedersehen wollte, und gleichzeitig war er der einzige Mensch, den ich je hatte wiedersehen wollen. „Hast du das?“, kratzt es in meinem Hals. „Ja.“ Seine Augen sehen direkt in meine hinein. Ich erkenne den Blick so genau, dass er mir geradewegs in den Magen fährt. Elektrisiert starre ich ihn an. „Ich konnte dich nie vergessen“, sind seine Worte so leise, dass sie auch ein Windhauch sein könnten, hätte ich nicht wahrgenommen, wie seine Lippen sie formten. „Nicht eine Sekunde lang.“ Prolog ~ Ende Kapitel 1: K-551 ---------------- Ich war ein unauffälliger Junge. Ein Langweiler, aber kein Nichtsnutz. Ich war gut in der Schule; Mathe, Geschichte, Sozialkunde. In Sport war ich eine Niete. Ich traf nie das Tor, den Korb verfehlte ich meilenweit und ohnehin hasste ich es, die erwartungsvollen Blicke meiner Mannschaftskollegen auf mir zu spüren, wenn ich einen Ball fangen sollte. Ich spielte gerne Badminton, ging gerne schwimmen, doch in der Schule war dies unwichtig. Hier hatten alle schnell begriffen, dass man mich besser nicht in seiner Mannschaft haben sollte; dass ich nicht viel sprach; dass ich kein besonders spannender Junge war. Zu allem Überfluss war ich auch noch ein homosexueller Junge. Sie wussten dies zwar nicht, dafür aber ich seit ich dreizehn war, und in der ersten Zeit sah ich es als die größte Strafe an. Zwar musste ich mich auf diese Weise nicht darüber ärgern, dass die Mädchen mich als vollkommen uninteressant beschrieben, aber gleichzeitig war mir klar, dass die Jungen es genauso sahen. Sie sahen keinen Sinn darin, sich mit mir anzufreunden. Auch wenn mich mein Schwulsein zu Anfang wirklich störte, begann ich doch irgendwann, mich damit abzufinden. Ich glaube, ich war damals so Ende vierzehn. Ich hatte keine Lust mehr darauf, mir ständig darüber Gedanken zu machen, weshalb ausgerechnet ich anders war, also beschloss ich, es nicht mehr zu tun. Ich outete mich vor meiner Familie, wurde akzeptiert und lernte in dieser Zeit auch, mich selbst zu akzeptieren. Ich war halt so, fertig aus, ich konnte nichts daran ändern, weshalb es also versuchen? Ich fand Jungen attraktiv, na und? Heute würde ich sagen, dass mir das Outing wirklich gut getan hat, auch wenn es zunächst nur wenige Leute betraf. Es half mir, mich selbst zu finden, mich auf jede Weise zu akzeptieren. So lernte ich auch, damit zu leben, dass ich ein unauffälliger Junge war, ein Langweiler, vielleicht ein Streber. Es gab ein paar wenige Menschen, die mich mochten wie ich war, und ich lernte, dass dies mehr wert ist als der größte Freundeskreis der Welt. Zu diesen wenigen Leuten gehörte auch Nick. Er war mein bester Freund, wir kannten uns seit dem Kindergarten, hingen sehr aneinander. Im Gegensatz zu mir war er beliebt, sportlich, spannend. Viele Mädchen mochten ihn und die Jungs fanden ihn cool. Nick tat dies meist als weniger wichtig ab und verbrachte die meiste Zeit mit mir, sagte mir immer wieder, dass ich ihm wichtiger sei. Ich aber sagte ihm während dieser Jahre nie, wie gut mir seine Freundschaft tat. Und ich sagte ihm auch nicht, dass ich ein wenig anders war als die meisten Jungen. Dabei hatte ich es ständig vor, doch ich fand einfach nie den richtigen Zeitpunkt dazu, auch oder erst recht nicht, als ich feststellte, dass es da diesen Jungen gab, der mich in seinen Bann zog. Dieser Junge, Ralph, ging in unsere Klasse. Er war einer der wohl beliebtesten Jungen der Schule. Wohin er ging, die Mädchen schmachteten ihm nach. Und ich verstand sie gut. Seit unserer Einschulung in die High School gefiel mir dieser Junge. Mehr war da nicht, da ich mir sicher war, dass ich niemals seine Aufmerksamkeit erhalten würde. Wahrscheinlich kannte er mich nicht einmal, wusste nicht, dass ich in seine Klasse ging, dass mich nur ein paar Plätze von ihm trennten. Ich schwärmte ihn ab und an im Stillen an, sprach mir nie Chancen aus, überhaupt mit ihm sprechen zu können, und empfand das ganze einfach als ein klein bisschen spannend - mehr nicht. Vielleicht war es so, als würde ich ein Idol aus einer Zeitschrift anhimmeln. Ziemlich lange verglich ich es damit, bis zu diesem einen Tag. An jenem Tag, im März unseres Abschlussjahres der High School, hatte ich ein für die Hausaufgaben wichtiges Buch im Klassenzimmer vergessen, weshalb ich Nick bat, auf mich zu warten, während ich es holen ginge. Ich überlegte mir bereits, wie ich ihn heute Nachmittag in diesem Rennspiel schlagen könnte, das er vor ein paar Tagen zu seinem siebzehnten Geburtstag bekommen hatte, als meine Gedanken jäh unterbrochen wurden. „Hey.“ Ich schrak zusammen, fuhr herum. In der hintersten Ecke sah ich ihn sitzen und wahrscheinlich starrte ich ihn gerade an wie einen Außerirdischen. Sein Grinsen wurde breit, er legte den Kopf etwas schief. Wartete er auf eine Erwiderung? „Hey...“ Meine Stimme klang so unglaublich uncool. Ich beschimpfte mich dafür, während das Buch, welches ich aus meinem Tisch genommen hatte, mir aus den Händen zurück auf die Tischplatte glitt. Nur ein paar Millimeter, deshalb ließ mich das leise Geräusch nicht mal zucken. „Du bist doch gut in Mathe, oder?“ „Ich?“ Ich sah mich um. Dämlich. Natürlich, ich war der einzige im Raum, abgesehen von ihm. Also redete er natürlich mit mir. Verblüfft stellte ich dies fest. Es war das erste Mal, oder? „Äh... ja.“ Woher wusste er das? „Kannst du mir mal helfen?“ Nun glitt sein Blick von mir zu dem Block auf seinem Tisch. „Sind das die Hausaufgaben?“, zwang ich mich zum Sprechen und ging langsam zu ihm hinüber. „Nein, ich muss nachsitzen. Mrs. Lewis kommt in zwanzig Minuten wieder und will die Lösungen. Ich hab keine Ahnung, wie ich das anstellen soll…“ Ich hatte mittlerweile den Tisch erreicht, an dem er saß. Seine Finger glitten über das Blatt, sein Blick wieder zu mir in die Höhe. „Hilfst du mir?“ Der unglaublich intensive Blick ließ mich erzittern, innerlich. Schnell wich ich ihm aus, starrte das Blatt unter seinen Fingern an. Ich erkannte Zahlen, Zeichen. Sie schwammen vor meinen Augen. Ich schalt mich zur Ruhe. Ich würde mich noch zu Tode blamieren, wenn ich mich nicht beruhigte! Also zog ich mir einen Stuhl heran, nahm den Block an mich. Ich spürte Ralphs festen Blick auf mir liegen, während ich mich zwang, die Aufgaben zu verstehen. Als ich es endlich schaffte, mich zu konzentrieren, merke ich auch, wie einfach sie eigentlich waren. Dies ließ mich unwillkürlich lächeln. Natürlich würde ich ihm helfen können… gerade konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen. Also legte ich den Block wieder vor ihn, sah ihm kurz in die intensiven Augen und zwang ihn dann, ebenfalls auf die Zahlen zu schauen. „Du musst es umschreiben“, begann ich mit dem kleinen x zu hantieren, während mein Finger über das Blatt glitt, ich Wort nach Wort formte und dabei dachte, ich würde von irgendeinem Sog ergriffen. Dass er mich zu diesem Zeitpunkt bereits in die Tiefe gerissen hatte, begriff ich erst, als ich das nächste Mal aufschaute. Ralphs Augen stachen direkt in meine, mir nahm es den Atem. „Du...“, war das letzte Wort, das ich formte, bevor ich nur noch verstummen konnte. Ich starrte ihn an und spürte deutlich, wie nah er mir war. Ich roch ihn sogar, auch wenn es eher die Zigaretten waren, die daraus hervorspielten. Ich spürte seinen heißen Atem auf meiner Haut. Wie winzig war die Distanz zwischen uns schon geworden? Bevor ich auch nur eine Sekunde darüber nachdenken konnte, spürte ich in der nächsten plötzlich seine Hand. Sie hatte meine ergriffen und noch ein winziges Stück war er mir näher gekommen. Seine Haut glühte an meiner. Ich konnte nichts erwidern, ich konnte nur weiter fassungslos stillhalten. Wusste er, wie wahnsinnig toll seine grünen Augen aus dieser Nähe aussahen? In seiner rechten Iris entdeckte ich einen winzigen, braunen Punkt. Wie viele vor mir hatten ihn schon wahrgenommen? Plötzlich wünschte ich mir, der erste zu sein. Der Atem wurde heißer, da Ralph mir noch näher kam. Ich blickte auf die Lippen hinab, welche nur ganz leicht lächelten. Würde er mich… Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Aber er würde, oder? Deshalb kam er mir näher? Deshalb hielt er mich mit seinem Blick gefangen. Deshalb… „Hey, Mann, wo bleibst du denn?“ Ich fiel mit dem Stuhl um und stieß mir den Kopf an einem Tisch. Für einen Moment drehte sich alles, dann spürte ich wieder Wärme an meiner Hand. Als ich die Augen öffnete, war es jedoch Nick, der vor mir kniete. Und er sprach mit sorgenvollen Augen auf mich ein, seine Finger betasteten meinen Hinterkopf. „Mir geht es gut“, schüttelte ich seine Hände ab und stand auf. Mein Blick fiel auf Ralph. Eine Sekunde noch erkannte ich den Schrecken in seinen Augen, bis diese das winzige Lächeln von zuvor zurück brachten. „Er hat mir nur geholfen“, deutete er nun auf sein Aufgabenblatt. Ich wand mich ab. „Danke.“ Das Wort elektrisierte mich erneut. Ich konnte nur nicken und zu ihm schielen. Dann folgte ich Nick, der schon wieder bei der Tür stand. „Geht es mit deinem Kopf?“, hielten die Worte mich jedoch ab, das Klassenzimmer zu verlassen. Ich nickte und sah ihn nun doch wieder an. Seine Augen fixierten mich und ich ließ mich erneut von dem Blick fangen. Ich spürte wieder seine Nähe, den Atem, der über meine Lippen gestrichen war. „Was ist?“, lächelte er nun, als könne er sich hingegen nicht mehr an diesen Augenblick erinnern. Ich zuckte innerlich zusammen, seufzte, suchte nach Worten. Unverfängliche Worte. Irgendwas Cooles. „Du solltest das Rauchen sein lassen“, sprach ich dann und verließ gehetzt den Raum. Nick wartete schon ungeduldig im Flur auf mich. Ich fluchte innerlich. Die Aussage war ja so was von uncool gewesen! „Tut es noch weh?“, berührte Nick mich am Arm, während wir das Gebäude verließen. Am Lehrerzimmer vorbei, kam uns Mrs. Lewis entgegen. Sie grüßte uns freundlich. Sie mochte mich. Ich war der Beste in ihrem Unterricht. „Nein, es geht“, antwortete ich meinem besorgten Freund schließlich, als wir hinaus in die Sonne getreten waren. „Wirklich.“ „Na gut...“ Seine sanften Hände verschwanden von mir, ich schielte zu ihm. Wie viel hatte er gesehen? Wann genau war er durch die Tür getreten? Ich fragte ihn nicht und auch Nick kam nicht mehr auf die Situation im Klassenzimmer oder auf Ralph zu sprechen. Er ging einfach zu dem Gespräch über, welches wir geführt hatten, bevor ich noch mal reingegangen war. Ich konnte dem kaum folgen, denn noch immer spürte ich die fesselnde Nähe, welche ich nie zuvor erlebt hatte. Und dann fiel mir ein, dass das Buch noch immer auf meinem Tisch lag. Ich konnte mich den restlichen Tag nicht wirklich gut auf etwas konzentrieren. Beim Rennspiel unterlag ich kläglich und meine Hausaufgaben schienen irgendwie eine Stufe zu hoch für mich zu sein. Im Bett schließlich fand ich keine Ruhe, wälzte mich herum und sah immer wieder nur dies vergangene Situation vor mir. Hatte ich sie falsch gedeutet? Gab es irgendwas, das ich in dem Moment falsch verstanden hatte? Ich glaubte es nicht, und dennoch konnte ich noch weniger die andere Seite glauben. Er hatte mich küssen wollen, oder nicht? Das konnte einfach nicht der Wahrheit entsprechen. Nicht er… nicht dieser beliebte Junge… nicht er und ich… Dennoch kam ich am Ende zu keinem anderen Schluss. ~ * ~ Ich war, glaub ich, nicht mal an meinem ersten Schultag so nervös gewesen, wie ich es an jenem Tag war, als ich das Klassenzimmer betrat. Den ganzen Schulweg über hatte ich mich gefragt, wie ich ihm gegenüber treten sollte. Sollte ich ihn ansehen? Ignorieren? Ihn gar fragen, ob er die Aufgaben noch gelöst bekommen hatte? Letzteres verwarf ich bereits, als der Gedanken gerade erst entstanden war. Nichts würde mehr Blicke auf uns ziehen, als wenn ich, der ich doch in einer ganz anderen Welt lebte als der Großteil dieser Klasse, plötzlich mit dem unbestreitbaren Liebling sprechen würde. Und dann würde ich wahrscheinlich noch nicht mal einen Ton herausbringen; noch viel schlimmer! Also trat ich unschlüssig nach Nick, der meine mentale Abwesenheit als unbegründete Übermüdung deutete, in den Raum hinein. Der Tisch in der Ecke war leer. Meiner nicht. Auf ihm lag noch immer das Buch, genau an derselben Stelle. Ich antwortete auf Nicks Frage und ließ mich nieder. In den nächsten Minuten zwang ich mich, nicht ununterbrochen zur Tür zu schielen, nein, eigentlich während den gesamten ersten beiden Schulstunden. Es brachte nichts. Ralph erschien nicht zum Unterricht. War ich enttäuscht? In der ersten längeren Pause folgte ich Nick auf den Schulhof hinaus. Ein paar Mädchen standen hier, nahmen meinem besten Freund die Aufmerksamkeit, die sonst sicher mir gegolten hätte. Ich war ihnen dankbar, als ich mich neben ihnen niederließ und so mir selbst überlassen blieb. Mir und meinen Gedanken, welche ich noch immer nicht ordnen konnte. Ich sehnte so sehr danach, ihn zu sehen. Es war, als wollte ich mir bestätigen, dass dieser Junge tatsächlich existierte. Ich hatte ihn mir nicht nur jahrelang eingebildet; es war kein Traum, was gestern geschehen war. In den nächsten Minuten ging ich durch, was ich über ihn wusste. Das hatte ich auch schon in der Nacht getan, doch es lenkte mich davon ab, mich zu fragen, was wohl geschehen würde, wenn ich ihn das nächste Mal sähe. Ich wusste, dass er Handball liebte. Er war groß und wendig, der Sport passte gut zu ihm. Außerdem schlief er gerne im Unterricht. Nicht so richtig zwar, aber sein Kopf ruhte oft auf seinen Armen und sein Blick starrte blind in der Gegend herum. Die meisten Lehrer hatten es aufgegeben, ihn dafür zu bestrafen. Wahrscheinlich sahen sie keinerlei Erfolg in ihm, oder es lag an seinem einflussreichen Vater. Ansonsten wusste ich, dass er rauchte, viel und häufig. Ich fand es ekelhaft, ich mochte den Geruch nicht, kannte die braunen Zähne, welche es auf kurz oder lang verursachen würde. Ich verstand nicht, wieso die Lehrer trotz Rauchverbots diese kleine Raucherecke auf dem Hof tolerierten. Wann hatten sie aufgehört, sich mit den dort befindlichen Schülern zu streiten? Mein Blick glitt nun hinüber zu genau diesem Punkt. Links von mir lachten sie, Nick flirtete mit Catrin. Ich entdeckte Ralph und sah die anderen Jungen in der Raucherecke an. Erst eine Sekunde später begriff ich es. Mein Blick fuhr zurück. Und Ralph erwiderte ihn, in meinem Magen stach mich irgendwas. Mir blieb der Atem weg, als ich begriff, dass er, auf den ich den ganzen Morgen gewartet hatte, nun dort stand; zehn Meter von mir entfernt, vielleicht zwanzig. Ich konnte kaum wieder anfangen, zu atmen, während ich von seinen Augen verschlungen wurde. Die Zigarette in seinem Mundwinkel zuckte, dann nahm er sie heraus. Er blies den Rauch aus. Kurz wand sich sein Blick ab, er sagte irgendwas, doch schließlich fixierte er wieder mich. Direkt. Ich konnte mich nicht irren. Hier saß nur ich, kein Mädchen war mir so nahe, als dass er sie hätte ansehen können. Seine Augen lagen auf mir, mit nur wenigen Unterbrechungen, die gesamte Pause lang. Als es klingelte und wir zurück in den Klassenraum gingen, fühlte ich mich betäubt. Ich traute mich nicht, Ralph nun aus näherer Nähe noch immer anzusehen, doch ich fragte mich, ob er mich ansah. Wieso tat er es? Hatte er nicht zuvor immer über mich hinweggeblickt wie alle anderen? Hatte ich irgendetwas Falsches getan? Was dachte er über der Situation vom Vortag? Verabscheute er mich? Hatte er mich… ärgern wollen? Die Sozialkundestunde begann, ich konnte mich kaum konzentrieren. Noch immer hatte ich das Gefühl, mich in irgendeiner anderen Dimension zu befinden; mein Körper fühlte sich fremd an; es war, als würde sein Blick die ganze Zeit auf mir liegen. Ich wagte nicht, dies zu überprüfen, überhaupt bewegte ich mich kaum, verkrampfte mich eher und hoffte aufs baldige Ende der Stunde. Anschließend kam Latein. Ich hatte meine Hausaufgaben nicht machen können, da sie das Buch, welches ich im Klassenraum hatte liegen lassen, benötigten. Nick hatte mir seines leihen wollen, doch ich war mir sicher gewesen, dass ich mich ohnehin nicht hätte konzentrieren können, also beichtete ich nun dem Lehrer, der rum ging, um die Aufgaben zu kontrollieren, dass ich es vergessen hatte. Er staunte, war es doch bei mir das erste Mal, weshalb es letztendlich auch nicht ins Gewicht fiel. Schlimmer war, dass ich mir mit einem Mal sicherer war als zuvor, Ralphs Blick auf mir wahrzunehmen. Nach der Hausaufgabenkontrolle fing der eigentliche Unterricht an. Wir sollten das Buch aufschlagen, Seite 215. Ich tat es und als wir Minuten später auf Seite 217 blättern sollten, stockte mir der Atem. Ich saugte binnen Millisekunden jegliche Informationen von dem Zettel auf, die er von sich gab. Eine Uhrzeit, mittlerweile vergangen, ein Treffpunkt, irgendwo im kaum besuchten Trakt, und ein einzelner Buchstabe, gewunden wie eine Unterschrift. Ich blickte mich um, mir sicher, dass ich seinen Blick treffen würde. Doch dem war nicht so. Ralph hatte den Kopf auf den Armen gebettet und starrte an die Wand. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien. Stattdessen sah ich zurück auf den Zettel. „8:45 Uhr / K-551”, stand darauf; „R”. Er hatte sich mit mir treffen wollen. Während der ersten Stunde. Hatte er dort die ganze Zeit auf mich gewartet? Wieso hatte er geglaubt, dass ich den Zettel finden würde? Dachte er, dass ich das Buch doch noch holen würde? Hatte er mich wirklich die gesamten zwei Stunden dort erwartet? Mir wurde übel mit einem Mal. Hitzewallungen, Nervosität. Mein gesamter Körper rumorte. Ich stützte meinen Kopf in die Hand, spürte ihre schwitzige Kälte, ihr Zittern. Ich würgte und verstand nicht, was plötzlich mit mir geschah. „Aaron? Geht es dir nicht gut?“ Erschrocken fuhr ich auf. Der Lehrer stand direkt vor mir. Ich zerknüllte den Zettel in meiner Hand. „Ich... nein… es ist…“ Ich brach ab. Ich spürte Blicke von überall. Der Intensivste von ihnen kam von der Seite. Ich schielte zu Nick, seine Stirn lag in Sorgenfalten. Ich konnte den Blick nicht erwidern. Was dachte er? „Ich glaub... etwas frische Luft...“, sah ich wieder nach vorn. Ich musste kreidebleich sein, zumindest fühlte ich mich so. „Natürlich.“ Er nickte verständnisvoll. Was dachte er, was mit mir los sei? Was dachten die anderen? Und was dachte Ralph? Ich stand auf mit diesem schrecklichen Gedanken, entschuldigte mich und verließ das Klassenzimmer. Während ich dies tat, schielte ich hinter in die Ecke des Raumes. Und tatsächlich, nun sah er mich an. Doch sein Blick war vollkommen ausdruckslos. Wurde ich krank und hatte all das halluziniert? Dabei spürte ich doch den zerknüllten Zettel in meiner Handfläche. Raum K-551 war zu jener Zeit ein unbenutzter Raum. Viele alte Tische und Bänke standen hier, kaputte Schränke, bemalte Spinde. Der einzige, der hier ein und aus ging, war ab und an der Hausmeister, ansonsten lag der Raum in Stille. Man hatte ihn irgendwann den „Möbelfriedhof“ getauft, wann und wer, das wusste ich nicht. Nun in ihm vollkommen alleine, strich ich mit den Fingern über die verstaubten Möbelstücke hinweg. Auf den Tischen standen allerlei Sachen, Kaugummis klebten daran, Löcher waren hineingebohrt worden. Jeder würde wahrscheinlich eine Geschichte erzählen. Mich interessierten sie nicht. Ich hatte den Zettel schon längst wieder auseinandergeknüllt, die wenigen Informationen unzählige Male in mich aufgesogen, mir wieder und wieder bestätigt, dass Gestern wirklich passiert war. Er war mir wirklich so nah gewesen; er hatte mich wirklich fast geküsst, oder zumindest hätte er es gekonnt... Ich fragte mich, als ich über den Staub hinwegblickte, wo Ralph wohl gestanden oder gesessen hatte, während er wartete. War er ebenso nervös wie ich in diesem Moment? Fühlte er sich genauso schrecklich? Oder hatte er geplant, über mich zu lachen, wenn ich wirklich durch die Tür gekommen wäre? Ich ließ mich auf einen alten, knackenden Stuhl fallen. Staub wirbelte auf. Ich war mir sicher, dass Ralph wusste, dass ich nun hier war. Er musste es verstanden haben. Ich war hier und wartete, die gesamte Stunde lang und auch die anschließende Pause hindurch. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran, was geschehen würde, wenn er her käme. Er kam nicht, stellte ich enttäuscht fest, als es zu unser heutig letzten Schulstunde klingelte. Ich konnte mir das nur schwer eingestehen, denn eigentlich war ich mir sicher gewesen, dass er auftauchen würde. Hatte ich es falsch gedeutet? War ich ihm wieder egal geworden? Kam er nicht, weil ich nicht gekommen war? Ließ er mich deshalb an meiner Nervosität verrotten? Ich steckte den Zettel, welchen ich die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte, nun endlich weg und stand auf, träge. Müdigkeit ergriff mich und ich hatte so überhaupt keine Lust, zurück in den Klassenraum zu gehen. Dort würde ich ihn sehen. Vielleicht würde er lachen. Und Nick würde mich fragen. Doch was konnte ich stattdessen tun? Weiter hier zu warten, würde nichts bringen, würde mich nur immer mehr enttäuschen, mit jeder weiteren Sekunde. Also bahnte ich mir meinen Weg durch die Grabsteine und trat aus Raum K-551 heraus. „Dein Freund hat ziemlich besorgt auf dich gewartet…“ Augenblicklich fuhr ich herum. Erschrecken ergriff meinen ganzen Körper, dann ergriff eine Hand mich. Ralph, der breit grinste, zog mich mit sich in den Raum zurück, den ich soeben verlassen hatte, ehe ich überhaupt wirklich realisiert hatte, dass er es war, der vor mir stand. Die Tür knallte ins Schloss, mich drückte er gegen die Wand. „Er konnte sich gar nicht auf die Mädchen konzentrieren. Er macht sich Sorgen, denke ich…“ Augen erstachen mich. „Hast du die ganze Zeit…“ Mehr konnte ich nicht sagen. An mehr konnte ich nicht denken. „Erst seit zehn Minuten. Ich konnte ja nicht mitten im Unterricht gehen.“ Sein Grinsen wurde weicher, seine Hände, welche mich festhielten, entspannten sich langsam. „Und du?“ Die Härte in seiner Stimme war verrauscht, vollkommen. „Die ganze Zeit.“ Ich schluckte. „Ich dachte, du würdest…“ „Ich habe heute Morgen hier gewartet. Du bist nicht gekommen.“ „Ich wusste es nicht. Ich habe den Zettel erst vorhin-“ „Ich weiß.“ Nun ließ er mich los. Ich zuckte zusammen, als eine Hand sich in meine Haare begab. Sie ertastete mein Ohr. Ich öffnete den Mund, weil ich etwas sagen wollte, doch letztendlich verließ kein Ton meine Lippen. Ich brachte keinen zustande, ich war schier sprachlos unter den Berührungen, die er mir schenkte. Sanft glitten seine Finger meinen Hals hinab, meinen Nacken wieder hinauf. Seine zweite Hand berührte meinen Arm, führte elektrisierende Impulse in ihn hinein. Ich erzitterte darunter, ihn ließ dies lächeln. „Ich hab keine Ahnung, warum ich den Zettel geschrieben habe…“, gestand er mit plötzlich fremdartig sanfter Stimme, leicht verzweifelt vielleicht. „Ich habe keinen Schimmer, was ich hier mache…“ Die Hand verließ meinen Arm, ertastete meine Wange. Zärtlich strich er über sie hinweg, kam mir näher. „Du berührst mich“, hauchte ich verschmitzt auf die Frage, die er so nicht meinte. Doch auch seine Mundwinkel zuckten, seine Augen veränderten sich. Ich sah tiefer in sie hinein und entdeckte nun wieder den winzigen braunen Punkt in seiner Iris, hielt mich daran fest. Eigentlich hatte ich das Bedürfnis, meine Augen zu schließen, doch ich war zu nervös, es zu tun. „Gestern war...“ Ich vollendete den Satz nicht. „Ja.“ Sein Atem war genauso heiß wie in der kurzen Erinnerung zuvor. Ich roch wieder Zigaretten. Leicht rümpfte ich die Nase, was Ralph sofort bemerkte. Er lächelte noch breiter, strich mir über den Nasenrücken und kam mir noch näher. Vielleicht hätte das Knistern ein Laubfeuer entfachen können. Zumindest ging alles so entsetzlich langsam, dass ich es genau wahrnahm, jegliches Zucken seiner Gesichtsmuskeln. Entsetzlich und doch unglaublich erregend; verführend. Doch dann, endlich, küsste er mich. Ich erschrak zunächst unter den warmen Lippen, obwohl ich nur darauf gewartet hatte. Er ließ sich dadurch nicht beirren, und nur Sekunden später konnte ich nicht anders, als nun doch meine Augen zu schließen. Es war mein erster Kuss. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun musste. Ich kannte so etwas aus Filmen, doch wirklich gute Lehrer waren diese natürlich nicht. Also sah ich mich der Situation hilflos gegenüber, als ich seine Zunge spürte, wie sie gegen meine Lippen stieß. Ich wusste, dass ich sie öffnen musste, also tat ich es, legte den Kopf etwas weiter in den Nacken und wagte es einfach, mich ihm entgegenzudrücken. Seine Zunge in meinem Mund zeigte mir, was sie wollte. Auch ich ließ meine sich bewegen. Zögernd, dann fordernder. Ich begriff schnell, was ich machen musste, und dann streckte ich die Arme aus und zog meinerseits ihn näher an mich heran. Hitze schoss auf mich über als ich meinen Körper gegen seinen presste, als er strauchelte und an irgendeinem Möbelstück gelehnt wieder zur Ruhe kam. Seine Hände umschlangen mich gierig, griffen in meine Kleidung und zogen an meinem Hemd. Dann ertasteten sie meine Haut und ich zitterte, keuchte. Es brachte ihn dazu, den Kuss zu lösen. Erschrocken riss ich sofort die Augen auf. Ich hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, doch der Blick, den ich sah, verstand ich sofort. Ich hatte nichts falsch getan, überhaupt nichts. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war unbeschreiblich, glücklich fast, dachte ich, zufrieden. Ralph zog mir das Hemd über den Kopf, ohne mit den Augen von meinen zu lassen. Dann ertastete er meine Brust mit warmen Händen, die ganz leicht zu vibrieren schienen. Ich streckte mich und küsste ihn erneut. Den ersten Kuss meines Lebens noch nicht genug ausgekostet, wollte ich mehr spüren, viel, viel mehr. Auch ich ergriff nun Kleidung, begann unter sie zu dringen, es seinen Händen, die mich streichelten, gleichzutun. Natürlich war ich unbeholfen, doch ich wollte auch nicht einfach nichts tun. Ich verstand die Situation nicht, wusste nicht, wie es überhaupt dazu gekommen war, doch da wir nun an diese Stelle gelangt waren, wollte ich auf keinen Fall irgendetwas verpassen, und sei es nur die winzigste Erhebung auf seinem Rücken. Seine Lippen waren zu meinem Ohr gewandert, er knabberte daran, während ich meinen heißen Atmen gegen seinen Hals stieß, sein Hemd in die Höhe schob und anschließend ihn von mir drückte, damit auch ich ihn vollkommen berühren könnte. Die nackte Brust fühlte sich sagenhaft auf meiner an, als er mich wieder an sich zog. Seine Finger griffen hart in meinen Rücken, während er auch seinen Unterleib an mich drückte und ich bei ihm wie auch bei mir die Ausmaße unseres Handelns spüren konnte. Ich stöhnte in den nächsten Kuss, begriff, wie viel fordernder seine Hände mit jeder Sekunde wurden, dass sie bereit waren, den nächste Schritt zu gehen, als sie hinab glitten. Meine hatte ich mittlerweile doch mehr hilflos in seinen Haaren vergraben. Wie wohl nahezu jeder Junge in unserem Alter befriedigte auch ich mich selbst. Ich dachte dabei an hübsche Männer, in der letzten Nacht hatte ich selbstverständlich an Ralph gedacht. Ich hatte mir vorgestellt, wie der Kuss im Klassenzimmer gewesen wäre, hatte mir überlegt, wie seine Hände wohl in meine Haut gegriffen hätten. Wie hätten sie mich berührt, wenn es soweit gekommen wäre? Wären sie grob? Sanft? Gierig? Mit keinem dieser Worte konnte ich letztendlich das beschreiben, was ich wahrnahm, als er meinen Reisverschluss geöffnet hatte, als meine Hose hinab glitt und er meine Erektion berührte. Ich konnte es gar nicht beschreiben, denn ich war viel zu ergriffen von dem Moment, presste mich ihm entgegen, spürte kurz darauf sein heißes Glied an meinem und seine Hand, die beide berührte. Ich stöhnte laut. Ich konnte es nicht unterdrücken. Mir war es egal, wo wir uns befanden, ich konnte nicht aufhören, so laut zu atmen. Ich konnte nicht aufhören, mich zu bewegen, meine Finger härter in seinen Rücken zu krallen und dies fremde, unglaubliche Gefühl in mir aufzunehmen, jede Pore von ihm zu spüren, die Schweißtropfen, die unsere Körper hinab glitten und sich miteinander verbanden. Es war wie ein Erdbeben, oder wie eine Riesenwelle, die einen mitriss und nicht loslassen wollte. Aber ich wollte auch nicht losgelassen werden. Ich wollte mehr, immer mehr, wollte weiter, immer weiter… und so stöhnte ich, schrie ein Mal seinen Namen und begriff erst, als die Erleichterung auf ungeheure Weise über mich kam, dass es in meinem Leben noch nie einen vergleichbaren Augenblick gegeben hatte. Ralph war sehr wortkarg, als wir uns nur wenig später anzogen. Der Staub klebte am Schweiß unserer Körper und ich umhüllte ihn mit meiner Kleidung, während ich immer wieder zu dem Jungen hinüber schielte, mit dem ich vor zwei Tagen noch kein einziges Wort gewechselt hatte. Und nun war viel mehr passiert als das, nun war es nicht so harmlos, wie es die schlimmsten Worte der Welt hätten sein können. Ich spürte noch den letzten, erregten Kuss auf meinen Lippen. Ich wollte mit Ralph sprechen. Ich wollte darüber reden, was soeben geschehen war, doch er wollte es nicht. Drei Mal versuchte ich einen Anlauf, doch er weigerte sich, etwas dazu zu sagen. Und er berührte mich auch nicht erneut, sah mir nicht mal mehr in die Augen. Mich irritierte dies, ließ mich ihn noch genauer ansehen, und als ich ihn so betrachtete, glaubte ich plötzlich, in seinem Blick eine Art Furcht zu erkennen. Ich öffnete den Mund, wollte wieder etwas sagen, ihn fragen, ihn vielleicht beruhigen und sagen, dass wir doch nichts Schlimmes getan hatten, doch irgendwas ließ mich den Mund ohne jeden Ton wieder schließen. Seine hängenden Schultern vielleicht, die zaghaften Schritte, oder die Hände, die er schon die ganze Zeit immer wieder zu Fäusten ballte. Im Endeffekt vergingen diese Momente, in denen wir uns anzogen und in denen kein Wort mehr fiel, sehr schnell und Ralph ergriff die Flucht, sobald er es für möglich erachtete. Nur ein „Bye“ verließ dabei seine Lippen und als er die Tür erreicht hatte, traf nur ein kurzer, letzter Blick zu mir zurück. Doch er genügte, er reichte aus, um meinen Verdacht zu bestätigen. Er zeigte mir doch so genau, was in diesem Augenblick in dem sonst so selbstsicheren Jungen vorging. Furcht. Mit dieser Erkenntnis blieb ich zurück. Verwundert, sprachlos. Ich hatte sie nicht, diese Furcht. Mir hatte das Geschehende keine Angst bereitet. Ich hatte schon lange zuvor gewusst, wer, was ich war. War dies etwa bei Ralph nicht der Fall? Hatte er sich erst von mir in diese Tiefe reißen lassen? Part 1 ~ Ende Kapitel 2: Hugh Smith --------------------- Ich war bis zum Ende der laufenden Schulstunde in Raum K-551 geblieben. Über die Möbel blickend, hatte ich die vergangenen Minuten Revue passieren lassen, immer und immer wieder. Ich schloss sekundenlang die Augen dabei und spürte den Kuss erneut, die Hände, die Leere, wenn ich die Augen wieder öffnete. Und ich sah seinen Blick, die gesamte Zeit über, sah diesen Ausdruck von unbeschreiblicher Angst. Ich begriff sie nicht ganz. Was sollte sie mir sagen? Hatte er dies alles eigentlich nicht tun wollen? Wieso aber hinterließ er mir dann eine Nachricht, die uns hierher treiben würde? Er wusste es selbst nicht, das hatte er gesagt… doch auch er musste bereits gestern den Blick begriffen haben, welchen wir geteilt hatten. Er musste gewusst haben, was passieren würde, wenn wir uns in diesem Raum träfen. Doch wenn er sich über all das im Klaren war... weshalb hatte ihn danach dennoch plötzlich diese Furcht ergriffen? Ich konnte mir dies nicht beantworten und ich wusste auch nicht wirklich, wie ich mich fühlte, als ich schließlich die Tür hinter mir schloss. Es war keiner Enttäuschung gleich, eher Neugierde vielleicht, dem Gefühl, ihm sagen zu müssen, dass es okay war, was geschehen war. Denn das war es doch. Ich fand ihn attraktiv, er schien mich dergleichen zu begehren… na und? Während ich damals meine Schritte zurück zum Klassenraum ging, vergaß ich wohl, wie viel Zeit auch ich gebraucht hatte, mich so zu akzeptieren. Auch bei mir hatte es eine Zeit gegeben, in der es mir Angst bereitet hätte. Nick hatte natürlich auf mich gewartet, als ich meine Sachen aus dem Klassenzimmer holen wollte. Er stand an seinem Platz neben meinem und fixierte mich sorgenvoll. Ich beteuerte ihm nur, dass es mir gut ginge, ergriff meine Tasche aus seinen Händen und ließ ihn stehen, in dem Wissen, dass er mir folgen würde. Die Frage, was mit mir los sei, traf mich bereits im Flur. An dieser Stelle war ich kurz davor, ihm die Wahrheit zu sagen, doch letztendlich wollte ich mich nicht an diesem Tag damit beschäftigen. Mir gingen schon zu viele Dinge durch den Kopf, über die ich in Ruhe nachdenken wollte. Also log ich Nick an und ließ mir erzählen, was in den verpassten Schulstunden gemacht worden war. Für den Heimweg lenkte mich dies auch tatsächlich etwas ab, zumindest bis sich unsere Wege trennten. Ab da war jeglicher Gedanke, der nicht mit K-551 zu tun hatte, zum Scheitern verurteilt. Den gesamten Resttag lang konnte ich an nichts anderes denken und auch in der Nacht war durch das unbändige Verlangen in mir keine Ruhe zu finden. Ich musste ständig daran denken, wie die Hände sich angefühlt, wie seine Lippen mich berührt hatten. Ich wurde immer und immer wieder von Extase geschüttelt und konnte gleichzeitig das schreckliche Gefühl nicht loswerden, dass ich überhaupt keinen Schimmer hatte, was nun passieren würde. Ich hatte keine Ahnung, an was ich nun war. Er hatte nicht reden wollen, würde er es je wollen? Würde es eine Gelegenheit dazu geben? Würde so etwas gar erneut passieren? Oder würde er mir fortan aus dem Weg gehen? Siegte die Furcht bereits jetzt über ihn? Musste ich vergessen, was geschehen war? Ich tat kein Auge zu und fühlte mich hilflos. Einmal die Sünde gekostet, war ich ein Ertrinkender. Würde ich der einzige in dieser Tiefe bleiben? ~ * ~ Es fiel mir schwerer noch als am Tag zuvor, an nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen. Außerdem sah ich wahrscheinlich noch viel bleicher aus, zumindest sagte Nick mir genau das mit seinem erschrockenen Blick, als ich ihn wie jeden Morgen traf. Doch er fragte nicht; vielleicht hatte er begriffen, dass er nichts aus mir herausbekommen würde, zumindest noch nicht. Eigentlich wusste er, dass ich ihm alles irgendwann erzählte, nun vertraute er wohl genau darauf, während ich neben ihm herging und sein Vertrauen schon lange missbrauchte. Den wichtigsten Fakt über mich hatte ich ihm noch immer nicht erzählt; an jenem Morgen quälte mich mal wieder der Gedanke, weshalb. Es hätte so vieles einfacher gemacht, wenn er wirklich alles über mich gewusst hätte, dann hätte ich ihm auch sagen können, was der Grund für meine weitgehend schlaflosen Nächte war. Ungewöhnlich schweigsam trafen wir bei der Schule ein, betraten das Klassenzimmer, setzten uns nieder. Nur Sekunden später trat auch Ralph durch die Tür und ich erstarrte. Er jedoch beachtete mich mit keinem einzigen Blick, seiner Körperhaltung war noch nicht einmal eine Veränderung anzumerken. Er schien gar nicht zu realisieren, dass ich im selben Raum war; oder es interessierte ihn schlicht und einfach nicht. Ich jedoch war mir sicher, dass es beides nicht war. Er wollte mich nicht beachten, mich nicht realisieren, seinen Körper nicht anspannen. Er wollte ganz einfach so tun, als sei nichts passiert, wollte die Furcht aus seinem Innersten vertreiben, so wie er es wahrscheinlich die ganze Nacht lang getan hatte. Ob auch er wach gelegen, an mich gedacht hatte? Ob es ihm ebenso wie mir ergangen war? Ich hoffte darauf, denn anders ertrug ich den Tag nicht, an dem er mich nicht ein einziges Mal beachtete. Vielleicht sah er mich während der Stunden an, doch das konnte ich nicht wissen, und so lebte ich mit meinen Vorstellungen, dass er einfach nur nichts zeigen wollte, sich nicht bloßstellen. Es musste so sein und sein Kopf zuckte nicht umsonst, wenn ich dann und wann in den Pausen zu ihm hinüber sah. Der folgende Tag verging kaum weniger ereignislos. Allerdings tauschte ich an jenem Donnerstag ein, zwei Blicke mit dem Jungen, den ich begehrte. Er schaffte es wohl nicht mehr, seinen eigenen Blick schnell genug abzuwenden, oder zumindest ließ er sich von mir gefangen nehmen, während der Rauch über sein Lippen glitt. In der Mittagspause gestattete ich mir eine Geste, welche verdeutlichen sollte, dass ich Zigaretten ekelhaft fand. Keine drei Sekunden später war seine ausgedrückt und er verschwand im Gebäude zusammen mit zwei Freunden. Wäre er alleine gewesen, wäre ich ihm gefolgt. Ob er das wusste? Am Freitag fragte ich mich, ob es langsam auffällig wurde, wie ich Ralphs Blickkontakt suchte. Bemerkte Nick es nicht? Oder einer von Ralphs Freunden? Ich fragte mich, ob es mich stören würde, wenn dem so wäre, und ich kam schnell zu der Antwort, dass es mir eigentlich ziemlich egal war. Aber Ralph wäre es nicht egal, da war ich mir sicher... Und dennoch ließ er mich seinen Blick immer und immer wieder treffen, und es waren definitiv die intensivsten Blicke, die ich je mit einem anderen Menschen ausgetauscht hatte. Innerlich begann ich zu brennen. Wie konnte er mir das bloß antun? Wie konnte er mit seinen Augen so viele Dinge zu mir sagen, doch nicht ein einziges Wort mit seinen Lippen für mich formen? Dabei wünschte ich es mir so sehr. Mehr als Küsse, mehr als Berührungen sehnte ich danach, ihm Dinge sagen zu können, ihm Fragen zu stellen, den Menschen kennenzulernen, um nicht nur seinen Körper zu begehren. Dies erfüllte mich nicht, der Gedanke stieß mich ab. Ich wollte mehr als das. Würde er es mir geben, wenn ich fragte? In der letzten Schulstunde dieser Woche grübelte ich darüber nach, ob ich einen Schritt in seine Richtung machen sollte. Ich wollte es, bevor das Wochenende anbrach; ich wollte mir nicht zwei unendliche Tage lang Gedanken machen müssen, was diese Blicke nun wirklich bedeuteten, ob er vielleicht gar darauf wartete, dass ich ihm ein Zeichen gab. Dabei tat ich dies doch ständig, oder nicht? Meine Blicke mussten mehr als eindeutig sein. Seine waren es doch auch. Als es klingelte und ich fast den Entschluss gefasst hatte, wirklich etwas zu sagen, brauchte es letztendlich jedoch nur einen Blick, um ihn sofort wieder zu kippen. Dieser Blick war anders als die anderen zuvor; kühl und abweisend. Er sagte mir, dass ich es nicht wagen sollte, zu ihm zu gehen. Hatte er geahnt, was in mir vorgegangen war? Wie genau beobachtete er mich wirklich? Ich tat also nichts und ging ebenso missmutig und aufgewühlt nach Hause wie an den Tagen zuvor. Innerlich fühlte ich mich vollkommen ausgelaugt, der Gedanke machte mich fertig, dass ich mich nun ein ganzes Wochenende um diese tausend Fragen herumdrehen würde. Doch das Wochenende kam trotzdem, ungeachtet meines Missmuts... und es kam anders als erwartet. ~ * ~ Ich hatte mir geschworen, nicht nur Zuhause rumzuhocken, also beschlossen Nick und ich ins Schwimmbad zu gehen. Das in unserer Stadt einzige, kleine Hallenbad namens Hugh Smith war in den kälteren Monaten ein gerngesehener Treffpunkt. Das ein oder andere Schülergrüppchen konnte man hier vorfinden. Ob ich an jenem Samstagnachmittag die geringe Hoffnung hegte, auch Ralph zu begegnen? Bestimmt… Doch wenn es so war, so verging sie mir schnell, denn ich sah ihn nirgends. Enttäuscht sagte ich mir, dass ich ihn nicht die ganze Zeit über suchen könnte, versuchte mich abzulenken, alberte mit Nick herum, lachte viel, doch nur, wenn ich tief tauchte und das kalte Nass meinen Körper umspülte, fühlte ich mich für ein paar Sekunden befreit. Hier unten in der blauen Wasserwelt konnte ich einen Moment meine Gesichtszüge entgleiten lassen und doch an Ralph denken, die Erinnerungen für Millisekunden meine Haut kribbeln lassen und mir wünschen, dass es nicht ein einmaliges Erlebnis bleiben würde. Als mir irgendwann gegen Abend, während Nick gerade mit Catrin am Beckenrand sprach, wieder die Luft ausgegangen war und ich zur Wasseroberfläche tauchte, blendete mich für Sekunden die langsam orange werdende Sonne, welche durch die riesigen Glasscheiben fiel. Ich blinzelte in sie, ließ sie auf meiner feuchten Haut glitzern und senkte erst einen Moment später den Blick. In den nächsten Sekunden vergaß ich, Wasser zu treten. Ich hatte Ralph garantiert schon oft halb nackt gesehen, nur in Boxershorts oder wenigstens oben ohne. In den Umkleidekabinen war dies oft vorgekommen, oder im heißesten Sommer auf dem Schulgelände während der Pausen. Dass ich seinen nackten Oberkörper, von dem nun die Nässe abperlte, in diesem Moment anders wahrnahm, musste an dem liegen, was Tage zuvor geschehen war. Plötzlich raubte es mir die Sinne, ihn am anderen Ende des Beckens stehen zu sehen, gelehnt an eine der Glasscheiben, den Blick unverwandt auf mich gerichtet, ebenso intensiv wie zuvor, vielleicht noch direkter. Ich tauchte unter, da mir die Kraft fehlte, dem Blick länger als diese paar Sekunden standzuhalten. Unter Wasser nun griff ich mir ins Gesicht, kniff mich, ermahnte mich, nicht so vollkommen dämlich zu ihm zu starren, und musste dabei irgendeiner Schwimmerin ausweichen. Dann stieg ich wieder in die Höhe, den Blick direkt in Richtung meines Ziels gewandt. Und tatsächlich stand er noch immer da. Nun lächelte er ein wenig. Es war, als würde mir die Sonne wieder in die Höhe steigen. Minutenlang starrten wir uns an, zumindest kam es mir wie diese Ewigkeit vor. Sein Grinsen verschwand dabei und seine Augen zeigten etwas, das ich aus der Entfernung nicht verstand. Mehr denn je spürte ich mein Verlangen danach, unsere Blicke in Worte zu fassen. Mehr denn je wollte ich den Ausdruck in seinen Augen verstehen. Noch während dieser Gedanken stieß er sich mit einem Mal von der Glasscheibe ab, ging einen Schritt auf das Becken zu. Sein Blick fixierte mich immer noch und wäre ich untergetaucht, hätte mir die Luft zum Atmen gefehlt. Ich hatte das Gefühl, als wolle er mir etwas sagen, etwas ganz wichtiges, doch nur wenn er geschrien hätte, hätte ich ihn verstehen können. So also schwieg er, wartete Sekunden länger bis ich in seinen Zügen eine Veränderung erkannte. Dann dreht er sich um. Nur einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, was zu tun war, doch dann erkannte ich, wo seine Schritte ihn hinführen. Ich warf einen Blick zu Nick hinüber, nur um mir zu bestätigen, dass er noch immer vollkommen beschäftigt mit Catrin war. Wieder zum Dusch- und Umkleidebereich schauend, war Ralph nun verschwunden, und ich wusste, dass ich nicht anders konnte. Ich musste es versuchen. Er hatte mir irgendetwas sagen wollen. Ich musste es hören. Also stieß ich das Wasser von mir, bewegte mich schnell vorwärts und kam nur wenig später ebenfalls bei dem rauschenden Wasser der Duschen zum Stehen. Ich sah ihn nicht, und auch sonst niemanden, doch ich traute mich trotzdem nicht, seinen Namen zu sprechen. Einen Moment lang stand ich ratlos herum. Hatte ich es falsch verstanden? Machte er sich nun einen Spaß daraus, mich nach ihm schmachten zu sehen? Wusste er, dass ich so doof sein und ihm hier her folgen würde? Innerlich sauer auf mich selbst wollte ich den Rückzug antreten, mich umdrehen, zu Nick gehen und ihm sagen, dass ich nun gehen würde… doch weiter als bis zum Umdrehen kam ich nicht. Ich rutschte aus vor Schreck und Ralph hielt mich fest. Er grinste schief und zog mich wieder mit sich in die Höhe, ließ mich nicht los und zog mich in eine der drei Einzelduschkabinen hinein. Hier verlor er kein Wort sondern unterdrückte meine sogleich mit seinen Lippen. Das Abenteuer in der Duschkabine verlief schneller als das in K-551. Schon seit vier Tagen dies unbändige Verlangen mit mir herumgetragen, kam der Höhepunkt bei mir viel zu schnell. Doch auch Ralph folgte nur Sekunden später, stöhnte mir leise ins Ohr und küsste mich danach nochmals mit einer solche Leidenschaft, dass ich mit Sicherheit auf dem nassen Boden weggeglitten wäre, hätte er mich nicht noch immer an die Wand gepresst. „Ich kann nicht anders“, hauchte er mir ins Ohr, als es vorbei war und meine Arme ihn umfangen hielten. Ich spürte die heiße Haut an meiner und spürte, wie sein Körper dennoch zitterte. „Musst du doch ni-“ Er unterbrach mich mit einem weiteren Kuss, dann sah er mir in die Augen. „Nicht hier“, flüsterte er und strich über meine Wange hinweg. „Wo dann?“, konnte ich bloß fragen. „Ich weiß es nicht.“ Er seufzte, küsste mich, legte die Stirn in Falten. Seine Augen wichen noch immer nicht von meinen und nun erkannte ich wieder den Ausdruck in Ihnen, welchen ich schon einmal gesehen hatte. Dieselbe Furcht, stärker als zuvor, und dennoch, wie es schien, nicht stark genug. Woher kam sie bloß? Weshalb ergriff sie ihn dermaßen? Ich wollte es ihn fragen, doch ich konnte es nicht. Er hätte es mir nicht beantwortet, da war ich mir sicher; nicht hier. Also schwieg ich und hob meinerseits meine Finger zu seinem Gesicht. Als ich es berührte, erzitterte er an meinem Körper und der Ausdruck seiner Augen zog sich über seine gesamten Züge. Was wollte er sagen, was er nicht aussprechen konnte? Was quälte ihn so? Statt zu fragen küsste ich ihn. Jedes Wort wäre zuviel gewesen, hätte ihn von mir getrieben, anstatt ihn näher zu bringen. Dabei wartete ich noch immer auf eine Antwort, die mehr als die Berührung unserer Körper war. Irgendwie wusste ich, dass er sie mir geben wollte. Als der Kuss, welcher weicher war als zuvor, fast intimer als während unserer intimen Berührungen, vorbei war, öffnete er die Lippen zum Sprechen. Es dauerte trotzdem noch Sekunden, bis er die Worte hervorpresste. „Was machst du morgen?“ Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so direkt fragen würde, in so naher Zukunft, doch es überwältigte mich so, dass ich alle etwaigen Pläne sofort verwarf. In diesem Augenblick hätte ich alles für ihn stehen und liegen gelassen. „Nichts“, sagte ich daher. „Weißt du, wo ich wohne?“ Die Falten auf seiner Stirn waren noch immer da. Er war sich nicht sicher, ob er einen Fehler beging; das sah ich, es war so deutlich für mich. Ich schüttelte den Kopf, während ich meine Finger zu den Falten streckte, die sein Gesicht so sehr verzogen. „Finde es heraus.” Er küsste meine Handinnenfläche, ein Kribbeln durchzog sie, durch meinen Arm, in meinen ganzen Körper. „Morgen ist niemand da.” Noch ein Mal glitten seine Hände fest über meine Brust hinweg, dann entfernte er sich von mir und schlüpfte aus der Kabine heraus, schneller als ich überhaupt den Gedanken fassen konnte, ihn aufzuhalten. Ich blieb zurück, erschrocken, überwältigt, mit zitternden Knien und einem Gefühl, das ich noch nie gespürt hatte. Gleichzeitig hätte ich vor berauschender Freude das gesamte Schwimmbad zusammen schreien können. Nick hatte mein Fehlen scheinbar doch bemerkt, aber ich erklärte ihm einfach, dass mir in der stickigen Hallenbadluft schlecht geworden wäre, weshalb ich eine Weile die Gesellschaft der kalten Duschen vorgezogen hatte. Er glaubte mir, zumindest sagte er das, was hätte er auch anderes tun sollen? Nur kurz darauf verließen wir das Hugh Smith. Ich schwor mir, mir überhaupt nichts anmerken zu lassen. Ich wollte nicht noch eine Frage heraufbeschwören, die ich nicht beantworten könnte. Es schmerzte so schon zu sehr, ihn immer und immer wieder zu belügen. Und als wir uns trennten, verabredet für den Montagmorgen wie immer, da schwor ich mir auch, dass es nicht mehr lange so weitergehen würde. Egal was morgen bei Ralph passieren würde, sei es positiv oder negativ, ich musste es Nick erzählen. Ich musste einfach, ich konnte meinen besten Freund nicht belügen. Ich brauchte ihn, brauchte jemanden, der die ganze Wahrheit kannte, egal wie egoistisch es war, es ihm aus dem Grunde erzählen zu wollen. Ich hätte es meinen Eltern sagen können, das wusste ich, doch ich zog es verständlicherweise nicht eine Sekunde lang in Betracht. Welches Kind teilt schon derartige Geheimnisse mit den Eltern, selbst wenn diese es noch so akzeptieren würden? Der Gedanke war absurd und dennoch ließ er mich grinsen, als ich mich an den Esstisch setzte und meinen Eltern stattdessen erklärte, dass mich der lange Schwimmbadbesuch ausgelaugt habe. Sie ließen es zu, dass ich das Essen mit mir hinauf in mein Zimmer nahm. Ich war ihnen dankbar, denn ich hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit und musste so nicht auch noch beantworten, weshalb dem so war. So nun konnte ich mich einfach nur auf mein Bett zurückziehen und meinen zwiegespaltenen Tagträumen nachgehen, welche bald zu meinen wirklichen Träumen wurden. Hier war alles bunter, etwas verrückter, unrealistisch und wunderschön kitschig, doch als ich durch irgendetwas mitten in der Nacht wach wurde, spürte ich, dass mich ein merkwürdig ernstes Gefühl ergriffen hatte. Ich konnte nicht mehr einschlafen, weshalb ich mich über mein kalt gewordenes Abendessen hermachte und mir leise das Telefonbuch aus Dads Arbeitszimmer erschlich. Noch fragte ich mich, wie ich Ralphs Adresse bloß herausbekommen würde, als es sich tatsächlich als viel einfacher herausstellte als erwartet. Sie stand wiedererwarten tatsächlich im Telefonbuch. Ich hatte es eher aus der Routine heraus aufgeschlagen. Ich wusste, dass mittlerweile viele sich nicht mehr eintragen ließen, und ich rechnete damit, auch seinen Namen nicht hier zu finden. Doch da stand er, sein Nachname, und zu meinem großen Glück wusste ich auch wie Ralphs Vater hieß, dessen Vorname ebenfalls dabei stand. Mr. George Bennet war der Vorsitzende des Elternverbandes, ein ziemlich oft gelobter Mann. Und daher hatte ich sie nun, ohne jeden Zweifel, Ralphs Adresse, welche ich mit bescheuertem Grinsen auf einen kleinen Zettel kritzeln konnte: Edinburgh Street 31. Sie lag gar nicht weit von meinem Elternhaus entfernt. ~ * ~ Hatte ich vorgehabt, an Sonntagmorgen noch irgendetwas Produktives zu tun, so konnte ich meine Pläne getrost in die Ecke schieben. Ich hätte ihnen meine Aufmerksamkeit nicht widmen können, egal wie sehr ich mich dazu gedrängt hätte. Auch meine Eltern begriffen schnell, dass man mit mir an diesem Frühstückstisch nichts besprechen konnte, und ließen mich daher mit meinen Tagträumen alleine. Was sie wohl dachten, was seit Tagen mit ihrem Sohn los war? Ob sie zu den richtigen Schlüssen kamen? Eigentlich konnte ich mir das sehr gut vorstellen, sie waren schon immer ziemlich aufmerksam gewesen, wenn es um ihre Kinder ging. Dieser kurze Gedanke an mein Coming-Out lenkte mich allerdings nur ein Weilchen ab. Ich hatte damals mit viel heftigeren Reaktionen gerechnet, während aber mein Vater letztendlich bereits nach fünf Minuten wieder nach der Morgenzeitung gegriffen hatte und meine Mutter mich fragte, ob ich denn aktuell einen Freund hätte. Selbst Lizzy, welche zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr am College lebte, und der ich es am selben Abend noch per Telefon erzählte, hatte nichts besseres zu tun, als mir zu erklären, dass sie doch schon immer gewusst habe, dass ich ein klein wenig anders sei. Nun wisse sie zumindest endlich, weshalb ich im Kindergarten vernarrter nach ihren Puppen gewesen war als sie selbst. Ich hatte über dies Klischee nur die Augen verdrehen können. An diesem Morgen, als ich eigentlich nur darauf wartete, dass die Zeit irgendwie verging, in diesen Gedanken schwelgend, brachten sie das Lächeln, welches ich dabei mit Sicherheit trug, aber nicht lange auf meine Lippen. Es ließ andere Gedanken in mir entstehen. Ich fragte mich, wie Ralphs Eltern wohl waren. Meine Mutter hatte Mr. Bennet mal als sehr autoritär beschrieben, als einen Mann, der wusste, was er wollte. Hatte er Ralph wohlmöglich genau danach erzogen? Machte es Ralph so zu schaffen, weil er nicht das leben oder fühlen konnte, was sein Vater von ihm verlangte? War es so? Oder interpretierte ich bereits viel zu viel in die ganze Sache hinein? Mit jeder Minute, die verging, wurde ich nervöser, mit jedem Gedanken an ihn wollte ich schneller zu ihm; um mit ihm zu reden, um ihm eben diese Fragen zu stellen, um in seine Augen zu blicken und zu sehen, was er fühlte, denn ich war mir sicher, dass da etwas war. Nur sechs Tage waren seit unserem ersten Blickkontakt im Klassenzimmer vergangen und dennoch hatte ich bereits das Gefühl, ihn zu verstehen, zu wissen, dass er mehr wollte als das, was er zeigte. Ich wusste irgendwie, dass uns etwas verband, bereits an jenem Sonntagmorgen, als ich immer wieder zur Uhr starrte und mich fragte, wann ich mich endlich auf den Weg machen könnte. Ich wollte meine Fragen endlich aussprechen. Da Ralph und ich keine Uhrzeit ausgemacht hatten, wusste ich nicht, wann ich am besten bei ihm auftauchen sollte. Erst war ich mir sicher gewesen, dass ich nicht vor fünf Uhr hingehen sollte, dann war mir selbst zwei Uhr noch zu spät. Ich wollte ihn sehen, sofort. Doch wann erwartete er mich? Letztendlich machte ich mich doch erst um kurz vor drei auf den Weg und sagte meinen Eltern, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wann ich wieder daheim sein würde. Meine Mutter grinste und sagte mir, dass ich einen schönen Abend haben sollte. Es bestätigte mir nur meine Vermutungen, dass sie bereits richtig vermuteten. In der Edinburgh Street am Haus mit der Nummer 31 angekommen, blieb ich lange unschlüssig vor der Auffahrt stehen. Ich war zu Fuß gekommen, da ich so noch etwas Zeit vertrödelte. Dabei wäre ich am liebsten gerannt. Ich sehnte mich so sehr. Doch nun, in dem Augenblick, als ich das Haus vor mir sah, hielt ich inne. Hier fragte ich mich plötzlich zum ersten Mal, was ich mir eigentlich von diesem Treffen erhoffte. Mit einem Mal schwand mein ganzer Mut, der sich vollkommen natürlich in mir aufgebaut hatte. Ich kannte Ralph noch immer nicht, ich wusste noch immer nicht, was er mit mir verband. Vielleicht deutete ich doch jeden seiner Blicke falsch, vielleicht waren all die Dinge, die ich glaubte, in seinen Augen zu sehen, nur meine eigenen Hirngespinste. Was, wenn er heimlich über mich lachte? Was, wenn er sich einen Spaß daraus machte, mich um den Finger zu wickeln? Denn das tat er, bewusst oder unbewusst, ich war ihm bereits verfallen. Als ich also vor diesem wunderschönen Haus stand und mich fragte, was ich mir erhoffte, was ich eigentlich hier wollte, war die Antwort plötzlich keine so schöne mehr. „Zu viel“, war die erschreckende Wahrheit. Es war noch viel zu früh, sich irgendwas zu erhoffen. Ich wollte zu viel von ihm. Wahrscheinlich hatte er noch nicht mal ansatzweise so weit gedacht wie ich. Was hatten wir auch bisher geteilt? Ein paar Minuten bei den verlassenen Möbeln, Berührungen und Blicke im Hugh Smith. Sollte es etwa so weiter gehen? Eine körperliche Beziehung? Oder war sie bisher einfach das einzige, was uns möglich war? Ich sah doch in seinen Augen, wie schwer jedes Wort ihm fiel. Er konnte so schlecht darüber sprechen, war es ihm daher einfacher, mich zu berühren? Oder ging es ihm letztendlich gar nicht ums Sprechen? Diese Gedanken, die ich damals hatte, deprimierten mich sehr. Ich stand da und wusste nicht einmal mehr, ob es gut war, hergekommen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es wirklich noch wagen sollte, einen Schritt nach vorne zu tun. Plötzlich überfiel mich all die Angst, welche ich seit Tagen nicht gehabt hatte, welche ich aber vielleicht seit dem Blick im Klassenzimmer hätte haben sollen. Plötzlich war sie da, ganz unerwartet, und sie fesselte mich an die Steinplatten unter mir. Später erst sollte ich erfahren, dass Ralph mich beobachtet hatte, vom Wohnzimmerfenster aus. Er hatte dagestanden und gesehen, wie ich mit mir haderte, und er hatte befürchtet, dass ich wieder gehen würde, ohne reingekommen zu sein. Ursprünglich hatte er nicht einmal damit gerechnet, dass ich überhaupt auftauchen würde, und mich nun so unentschlossen zu sehen, verlangte ihm Selbstbeherrschung ab. An jenem Nachmittag aber, als ich dort stand, wusste ich nicht, dass ich beobachtet wurde. Hätte ich genauer zu den Fenstern gesehen, hätte ich es wahrscheinlich bemerkt, doch ich war so sehr in meiner eigenen Unentschlossenheit gefangen, dass ich es nicht tat. Und für eine Sekunde lang war ich tatsächlich kurz davor, wirklich wieder nach Hause zu gehen. Was mich am Ende doch dazu brachte, einen weiteren Schritt auf das Haus zu zu tun, weiß ich merkwürdigerweise noch all zu genau. Es war nicht der Blick von Furcht, den ich immer noch vor meinem inneren Auge sah, es waren auch nicht die intensiven Momente während der Pausen, sondern es war eine andere Erinnerung; es war der Gedanke, wie er die gerade mal halb abgebrannte Zigarette gelöscht hatte, direkt nach meiner neckisch gemeinten Geste. Keine drei Sekunden danach. Er hatte sie gelöscht. Und er hatte auch im Hallenbad nicht nach Zigaretten geschmeckt. Es war, als hätte diese winzige Erinnerungen mit einem Mal alle Zweifel beiseite gefegt. Da war er wieder, mein Mut, mit welchem ich mich auf den Weg gemacht hatte; die Vorfreude, die Sehnsucht. Plötzlich wusste ich, dass ich nicht eine Sekunde länger einfach nur dort stehen konnte. Den ersten Schritt getan, fiel der zweite so unglaublich leicht, der dritte ging noch schneller vonstatten. Und ehe ich mich versah, hatte ich meinen Finger bereits nach dem Klingelknopf ausgestreckt. Ich erreichte ihn nie, denn bevor ich ihm auch nur gefährlich werden konnte, wurde die Tür aufgerissen. Ich zuckte zusammen, erschreckte mich, war eine Millisekunde erstarrt, bis ich die Augen hob und ihn sah. Da stand er, und auf seinen roten Wangen, in dem hübschen Gesicht, in den wunderbar grünen Augen strahlte eine Erleichterung und Freude wieder, welche ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es war so deutlich zu erkennen, dass er so sehr auf mich gewartet hatte wie ich auf ihn; es war, als wäre ihm gerade zum ersten Mal die Sonne aufgegangen. Part 2 ~ Ende Kapitel 3: Edinburgh Street 31 ------------------------------ Ich stand länger vor Ralphs Haustür, als es normalerweise der Fall ist, wenn man jemanden besucht. In dem Augenblick war mir das allerdings weniger bewusst, da ich mich in der Betrachtung von ihm vollkommen verloren hatte. Wie hätte ich auch an irgendetwas anderes denken können, in diesem Moment, in dem ich ihm in die Augen sah. Seine zeigten mir so deutlich, dass er mich nun auf der Stelle küssen wollte. Mein Körper zuckte schon, um dem entgegen zu kommen, doch statt auf mich zu, machte er letztendlich einen kleinen Schritt zurück. „Komm rein“, bat er mit einem Ton in der Stimme, den ich noch nie gehört hatte. Das ist weder negativ noch positiv gemeint, einfach nur als die Deutung an sich, als eine winzige Tatsache, die mir im selben Moment, in dem ich die bekannten Lippen küssen wollte, auch wieder zeigte, dass ich außer ihnen doch fast gar nichts von ihm kannte. Ich tat also wie mir geheißen, trat an ihm vorbei in einen großen Flur. Sofort schloss er die Tür hinter mir und ich rechnete schon damit, dass er mich nun schnappen würde, doch auch das tat er nicht. Er deutete lediglich mit dem Kopf an, dass ich ihm folgen sollte, und von hier führte er mich eine Treppe hinauf in ein Zimmer, bei dem deutlich zu sehen war, dass es einem siebzehnjährigen Jungen gehörte. Keine Ahnung, weshalb mich das eine Sekunde lang erleichterte. „Möchtest du etwas trinken?“, kam es zögernd, als wir das Zimmer betreten hatten. Noch immer hatte er mich nicht mal mit der Fingerspitze berührt. Eigentlich wollte ich nichts trinken, selbst wenn meine Kehle ausgetrocknet schien, als habe ich zehn Tage in der Wüste verbracht, und dennoch bejahte ich die Frage, da ich spürte, dass mein Blick herum gleiten wollte, dass ich einen Augenblick alleine in diesem Zimmer verweilen wollte. Ich wusste, dass das nicht die feine, englische Art war, doch ich wusste auch, dass ich keine Ahnung hatte, wann ich wieder die Chance haben würde, hier her zu kommen. Deshalb wollte ich alle möglichen Eindrücke in Sekundenschnelle in mich saugen. Hätte ich gewusst, dass es tatsächlich mein einziger Besuch bleiben würde, hätte ich noch viel mehr auf die winzigen Details geachtet. Direkt unter dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Laptop darauf. Außerdem ein paar Dosen mit Stiften, ein paar Zettel lagen ordentlich gefaltet übereinander. Zu ordentlich. Lächelnd fragte ich mich, ob er wohl aufgeräumt hatte, bevor ich gekommen war. Neben den Zetteln entdeckte ich einige CDs und auf dem Boden neben dem Schreibtisch standen zwei große Mappen, die mir ihren Inhalt nicht unterbreiten wollten. Ehe ich in Gefahr lief, so neugieriger zu werden, riss ich meinen Blick davon los. Ich sah mich weiter um, entdeckte einen Basketball in der Ecke, daneben Sportschuhe, der große Kleiderschrank, das Bett, welches ungewöhnlich glattgestrichen wirkte. Ich lächelte schon wieder ein wenig zu sehr, bis ich weiter schaute an die dem Bett gegenüberliegende Wand. Hier nun nahm realisierte ich erst das riesige Bücherregal und ich konnte nicht anders, als mich genau davon fasziniert anziehen zu lassen. Während ich einen vorsichtigen Schritt nach vorne tat, musste ich mir eingestehen, dass ich nicht erwartet hatte, dass er überhaupt freiwillig las. Er kam mir wirklich nicht wie ein guter Schüler vor, wie jemand, der sich gerne bildete. Dass ich nun aber schwere Werke vor mir sah, ließ ein neues Bild von ihm entstehen. Ein Bild, das mir noch mehr gefiel und das sich dennoch perfekt in das bereits bestehende einfügte. Gerade als ich das erste Buch an mich genommen hatte, war Ralph wieder bei mir. Einen Moment lang wollte ich es zurück schieben, doch da er nur ruhig das Tablett abstellte, nahm ich an, dass diese gewisse Neugierde in Ordnung war. Also schlug ich es auf. „Hast du die alle gelesen?“, fragte ich, mit dem Kopf in Richtung der Bücher deutend, als Ralph sich zu mir umgedreht hatte. Ich blätterte sanft durch die über tausend Seiten des Wälzers in meiner Hand. „Alle“, bestätigte er mir. Er trat hinter mich, eine Hand berührte meine Schulter. Ich hielt bei einer Seite inne, tat so, als würde ich sie überfliegen. In Wirklichkeit nahm ich aber seine Nähe in mir auf, diese erste Berührung des Tages, den Atem, der über meinen Nacken strich. Nun, da er mich endlich berührte, kam es mir vor, als sei unser Erlebnis im Schwimmbad eine Ewigkeit her gewesen. Ich hatte mich so nach dieser Nähe gesehnt. Eine Sekunde lang wagte ich es, die Augen zu schließen, doch als ich mir sicher war, dass meine Untätigkeit langsam auffällig wurde, blätterte ich weiter bis zum Ende. Dann stellte ich das Buch weg. Hier nun zögerte ich. Mein Bedürfnis sagte mir, dass ich mich zu ihm umdrehen sollte, doch der Rest meines Körpers versteifte sich nervös. Ich wollte ihn berühren und küssen, doch eigentlich war ich nicht nur deshalb hier. Ich wollte reden, nicht wahr? Ihn kennenlernen… doch wie beginnt man ein solches Gespräch? Da ich in den Millisekunden keine Antwort fand, griff ich ein anderes Buch aus dem Schrank heraus. Fast gleichzeitig berührte auch Ralphs andere Hand mich. Er stand nun so direkt hinter mir, dass ich es erst recht nicht mehr wagte, mich umzusehen. Der Moment war prickelnd und unglaublich intim, weshalb ich das Buch durchblätterte, ohne eine Ahnung zu haben, was für eines es eigentlich war. Ich wollte es nur einfach ganz schnell zurück stellen, um ihn doch endlich küssen zu können. Ehe ich dies aber in die Tat umsetzen konnte, fuhr plötzlich Ralphs Hand nach vorne. Er hielt mich davon ab, eine der letzten Seiten umzuschlagen, blätterte stattdessen drei zurück. „Das ist meine Lieblingsstelle“, flüsterte er in mein Ohr. Dies ließ mich ihn nun doch kurz ansehen. Verwundert. Seine Augen galten mir, während sein Finger auf ein paar Zeilen deutete. Ich wollte etwas erwidern, doch dann folgte ich dem Finger nur und wollte anfangen, zu lesen, als im selben Moment die leise Stimme an meinem Ohr anfing, es für mich zu tun. Alicée whispered, it doesn’t take long, to get to like each other. It takes a long time to deepen, but simply falling in love is a simple thing. Love starts with a smile and grows with a kiss. The touch is the next step and then the heart follows on the way. You learn about the person, connect yourself with them and without even noticing, you can’t take your eyes off anymore. Once it get’s there, there I no turning back. She smiled and she lost hold of Dorian’s hand as the train began to move. Tears came across her face, he wanted to touch them, but he was already too far away. I love you, she thought. She still couldn’t say it, even if this was their last moment together. Still she was afraid of these words. They would hurt her; she couldn’t go on living once expressed her feelings in this simple way. She knew this, she had known since the first time Dorian spoke to her on that rainy day. Since their first moment she was sure, it would end this way. It always ends up in tears and someone to miss. She had been there before, but this time it was certain, it would be the last time. As she saw him trough her tears, waving at her with hurt written all over his face, she knew this would be the last man she ever loved. She wouldn’t see him ever again after this, but in her dreams he would always be there. He always had been. And like this she saw him fading in the fog as the train moved on, bringing her to a live she never wanted. She never had a chance to change her fate, but still she was glad. For one moment in her live Alicée had learned about love. That was everything she needed. She would remember it forever.[1] Stille lag in der Luft, als Ralph das Buch in meinen Händen zuschlug. Der Windhauch erreichte mein Gesicht. Seine Finger berührten meine auf dem Einband, ich spürte seinen heißen Atem an meiner Haut, und ich spürte, wie Traurigkeit von mir Besitz ergriffen hatte. All diese Eindrücke waren so unglaublich intensiv, dass ich kaum wagte, zu atmen, aus Angst, ich könne aus diesem Moment erwachen. Auch als er mir das Buch aus den Händen nahm und es zurück zwischen die anderen stellte, hielt ich noch den Atem an, folgte seinen Fingern mit den Augen, wie sie sich letztendlich mit meinen verschlangen. Jetzt erst ging mir die Luft aus; schnell sog ich neue in mich hinein. „Traurig?“, fragte er flüsternd und lehnte seinen Kopf an meinen. Seine Stimme klang nun wieder anders als während des mitreißenden Textes, doch dennoch nicht weniger gefühlvoll. „Ein wenig“, brachte ich hervor, noch immer tief ergriffen. Ich hob den Blick zu dem Buch, welches nun wieder zwischen den anderen stand, und atmete bewusst ein und aus, lehnte meinen Kopf an seinen, nahm die Finger um meine wahr. Fading snow, laß ich. Ich musste schlucken, als mir seine Worte von zuvor bewusst wurden, als mir klar wurde, dass er diese tragische Szene zu seinen liebsten erklärt hatte. Der Gedanke tat mir weh mit einem Mal, ich wusste nicht weshalb, aber ich fand ihn schwer, zu ertragen. Der Körper hinter mir kam mir noch näher. Nun berührte er mich, Ralph schlang seine Arme um meinen Oberkörper. Nun schloss ich die Augen, lehnte mich in die Umarmung, spürte, wie er das Kinn auf meinem Haar betten konnte, war er doch fast einen Kopf größer als ich. „Liest du gerne traurige Geschichten?“, fragte ich schließlich, unsicher, die Stille zu unterbrechen. „Eigentlich nicht.“ Ich hörte sein Lächeln. „Aber Alicées Stärke, obgleich ihrer Traurigkeit, hat mir immer gefallen.“ „Ich hätte dich nicht so eingeschätzt.“ „Ich weiß.“ Er strich mir durch die Haare. „Niemand würde das, denn kaum einer weiß, wer ich wirklich bin.“ Nun hob er das Kinn, ebenso die Arme. Sanft drehte er mich zu sich herum, ich spürte das Bücherregal in meinem Rücken. Seine Finger fanden mein Gesicht, berührten es sanft. „Und keiner weiß, was wir hier tun…“ „Reden?“ Ich konnte nicht anders, als diese Situation ins Lächerliche zu ziehen. Sie war mir unangenehm, sie sagte so viel aus, ohne dass ich eine Ahnung hatte, was wirklich in ihr vorging. Ich verstand ihn, das hatte ich geglaubt, doch gerade wusste ich nicht alles von ihm. „Nicht einmal das wissen sie...“, ging er aber nicht auf meinen versuchten Scherz ein. Er küsste mein Kinn, meinen Mund, sah mir noch immer in die Augen. „Und wenn sie hiervon wüssten, würden sie wahrscheinlich tot umfallen.“ „Wer sind Sie?“ „Alle.“ Wieder erkannte ich die Furcht in seinem Blick, noch stärker als zuvor. Ein erneuter Kuss lenkte mich ab, dieses Mal mit mehr Leidenschaft. Er zeigte mir deutlich, dass er jetzt nicht reden wollte, nicht darüber. Er bestätigte mir die Vermutung, wie schwer ihm jedes Wort fiel. Doch wie sollte ich ihn nur mit Berührungen verstehen? Sollte es auf dieser Grundlage weiter gehen? Seufzend gab ich es dennoch auf. Ich wollte reden, doch ich wollte auch von ihm geküsst werden, ihn berühren, und weiß Gott, ich wollte noch viel mehr als das. Also ließ ich mich darauf ein. Wir sanken am Bücherregal zu Boden. Noch immer hatte Ralph die Arme um mich geschlungen und die Lippen mit meinen verbunden. Nun traute ich mich, ließ meine Hände wandern und seinen Schritt berühren. Ich spürte Ralph zucken, das gefiel mir. Ich öffnete die Augen wieder, um ihn anzusehen, während ich weiter ging, den Reisverschluss öffnete, sein Stöhnen vernahm. Dann plötzlich riss er die Augen auf. Erschrocken hielt ich inne. „Aaron?“ „Ja?“, piepste ich. Sekundenlang fixierte er mich direkt, schien irgendetwas in meinen Augen zu suchen, erst nach Sekunden beugte er sich näher an mein Ohr heran. „Ich würde gerne...“ Er berührte meine Wange, meinen Nacken. Seine Stimme klang nervös. „Ich würde gerne mit dir schlafen.“ Mir raubten sie die Sinne, diese Worte. Für einen Moment lang nahm ich nicht mal mehr die Berührungen wahr. Und ich konnte auch nicht denken, konnte die Worte nur schwer begreifen. Andererseits raste mein Herz wie wild. Natürlich, auch ich hatte es mir vorgestellt. „Es…“ Meine Stimme brach, ich wusste nicht, ob ich es sagen durfte, doch ich tat es dennoch. „Es ist mein erstes Mal…“ „Meines auch.“ Seine Augen waren ganz weich. „Zumindest auf diese Weise.“ „Wirst du… vorsichtig sein?“ Er nickte leicht, lächelte schwach. „Soweit ich es kann.“ Nun musste auch ich lächeln, hob meinerseits meine Arme und berührte sein Gesicht. Ich glaube, ich tat es zum ersten Mal in dem Bewusstsein, dass dies hier viel weiter reichte als einfaches Begehren. Natürlich begehrten wir uns, doch da war mehr. Auch wenn keiner von uns wusste, was es war, so wussten wir doch beide, was es werden würde. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich das plötzlich verstand, vielleicht durch die Stelle in dem Buch, vielleicht, weil er dies Geheimnis mit mir teilte, vielleicht, weil ich in diesem Augenblick begriff, dass es nichts auf der Welt gab, was mich in jenem Moment aus seinen Armen hätte reißen können. Ich berührte seine Wimpern, als er die Augen schloss. Ich küsste sie. „Dann will ich es auch“, hauchte ich. Mein Atem zitterte dabei. „Ich will mit dir schlafen.“ Wenn ich daran zurückdenke, war es wirklich nicht gerade die angenehmste Erfahrung, die ich an diesem Sonntagnachmittag machte. Es tat höllisch weh, auch wenn ich mir sicher war, dass Ralph alles tat, um mir die Schmerzen bestmöglich zu nehmen. Er war langsam, vorsichtig, wollte sich einige Male zurückziehen und aufhören, doch ich drängte ihn, weiter zu machen. Ich wollte es, tatsächlich wollte ich das. Ich hatte das Gefühl, dass es Ralph und mich einen großen Schritt näher bringen würde. Und ich wollte ihm nah sein, so nah wie möglich. Irgendwas an ihm hatte sich in mein Herz gestohlen und ich wollte es nicht gehen lassen. Also ertrug ich die Schmerzen, sah sein Gesicht, wie es sich vor Lust verzog, nahm wahr, wie wunderschön die Schweißperlen auf seiner Stirn aussahen, und dass ich in dem Moment vielleicht glücklicher war als je zuvor. Als er mir anschließend ins Ohr flüsterte, dass es ihm leid täte, konnte ich nicht anders, als ihn nur noch fester an mich zu ziehen. „Es war schön“, sagte ich ehrlich, während seine Finger sanft meinen Rücken streichelten. „Und nächstes Mal wird es mir auch Spaß machen… oder das Mal danach…“ Ich wusste genau, dass ich mich unter anderen Umständen mit diesen Worten weit aus dem Fenster herausgelehnt hätte, doch hier war es nicht so. Natürlich, er hatte es mir nicht gesagt; rein von den Fakten her hatte ich noch immer keine wirkliche Ahnung, was dieser Junge eigentlich von mir wollte, von mir dachte, was er erwartete. Mein Herz allerdings wusste es, irgendwie. Seine Augen hatten es mir gezeigt, seine zärtlichen Berührungen. Dies war nicht nur ein Abenteuer, ein neues Experiment, dies war weitaus mehr als das; wir bedeuteten einander bereits weitaus mehr. Aus diesem Grund wagte ich diese Worte, die zum ersten Mal von einer Zukunft sprachen. Ich musste sie ihm sagen, denn ich wünschte mir von ihm eine Erwiderung, wünschte mir, ihn nicht nur durch Blicke verstehen zu müssen, sondern durch seine eigenen Worte. Wir mussten endlich reden, über uns. Ich würde es nicht ertragen, nach Hause zu gehen, mit nichts mehr als meiner Vorstellung von uns. Nun, da ich diese Worte gesprochen hatte, blieb er einen Moment lang stumm. Doch es beängstigte mich nicht, da er mir noch immer in die Augen dabei sah. Wie konnten sie mir nur schon so vertraut sein? Ich erwartete, jeden Moment ein Lächeln auf Ralphs Lippen zu sehen, doch letztendlich blieb es aus. Stattdessen fragte er ganz sanft, ob ich das wirklich wollen würde. „Ja“, antwortete ich ebenso zurück. Konnte er das denn nicht sehen, spüren? „Ich auch.“ Er schluckte und wand den Blick ab. Mein Herz wollte vor Freude hüpfen, doch ich merkte, dass da mehr war als diese einfachen Worte. Er versteifte sich ein wenig und ich begriff vollends, dass ich das erwartete Lächeln nicht sehen würde. Stattdessen zitterte seine Stimme bei den nächsten Worten: „Und genau das macht mir Angst.“ Das Streicheln auf meinem Rücken war verstummt. „Weshalb?“, fragte ich vorsichtig. „Weil du...“ Plötzlich wand er sich aus meinen Armen, setzte sich auf. „Weil du ein Junge bist. Und weil ich einer bin…“ Er vergrub seinen Kopf in seinen Händen, atmete schwer. Ich zögerte, setzte mich ebenfalls auf, berührte nun meinerseits seinen Rücken. Er schrak darunter zusammen, weshalb ich die Hand sofort zurückzog. „Das ist doch nicht schlimm…“, versuchte ich es zögerlich. Sofort sträubte sich sein Körper gegen diese Worte, zuckte, er riss die Hände zurück. „Doch, das ist es!“, schrie er. „Ich bin das nicht!“ Er sah mich direkt an, Schmerz verzog seine Züge. „Ich bin nicht so! Ich bin nicht…“ Er brachte es nicht mal über die Lippen, schlug stattdessen mit voller Wucht auf die Decke ein. Ich zucke zusammen aufgrund seiner Aggression. Dabei überraschte mich das Gespräch nicht. Ich hatte nichts anderes erwartet, wenn ich es mir vorgestellt hatte. Ich wusste, dass es so kommen würde. Seine Augen hatten mich nicht angelogen, und ich hatte sie richtig gedeutet. Die Furcht war so groß, wie ich gedacht hatte. Ich schaffte es, seine verkrampfte Hand auf der Decke zu berühren und er ließ es zu. Ich spürte nun das Zittern ganz deutlich, das seinen ganzen Körper durchzog, welches auch sein Blick widerspiegelte. Sanft streichelte ich seine Haut. „Ich bin es schon.“ Ich sah ihn unverwandt an, auch als sein Blick nun ungläubig wurde. „Ich bin schwul.“ Die Abneigung in seinen Augen war unglaublich intensiv. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, klang es nach Abscheu. Nicht gegen mich, das wusste ich. „Ich bin es einfach.“ „Aber…“ „Es ist kein Fluch.“ „Doch, das ist es!“ Nun plötzlich sprang er auf, stand nackt vor mir und sprach mit solch einer Verzweiflung in der Stimme, dass ich das Gefühl hatte, jegliches von ihm vor mir ausgebreitet zu haben. „Es ist nicht normal so zu sein! Die Leute akzeptieren das nicht! Sie starren einen an, sie reden über einen, lachen… Sieh dir doch die Schwuchteln auf der Straße an! Man lästert über sie und die Spinde werden mit Dreck beschmiert! Ich will nicht so sein! Ich will nicht, dass mich jeder anstarrt! Meine Eltern sollen mich nicht so sehen, sie sollen doch stolz auf mich sein, sie sollen nicht glauben, dass sie ein Weichei zum Sohn haben. Sie wollen doch Enkelkinder... sie wollen doch…“ Die Stimme brach ihm, plötzlich rannen Tränen seine Wangen hinab. Er ging in die Knie, schlug die Hände vors Gesicht. Im nächsten Augenblick war ich bei ihm. Er wehrte sich gegen meine Hände, drängte sich zurück, stieß an das Bücherregal am anderen Ende des Raums. Irgendwas fiel heraus, es erhielt unsere Aufmerksamkeit nicht. Stattdessen schaffte ich es endlich, meine Arme um den Körper zu schlingen, der größer war als meiner, muskulöser, männlicher, stärker… und doch wirkte er an meinem in diesem Augenblick zerbrechlich, winzig, zittrig, schwach. Er weinte. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Verzweiflung wirklich nachvollziehen konnte, welche in diesem Moment durch seine Sinne drang, doch ich wusste, dass sie echt war. Ich selbst war dem nie ausgesetzt gewesen, nicht in dieser heftigen Weise; nicht mal in der Anfangszeit. Ich hatte mich geärgert, hatte mich vielleicht kurzzeitig scheußlich gefühlt, versucht, es zu ändern, doch letztendlich hatte ich schnell begriffen, dass es nichts brachte, dass ich nichts ändern konnte, dass es vielleicht nicht mal was zu ändern gab. Vor Jahren hatte ich angefangen, mit der Gewissheit meiner Selbst zu leben, mit mir, so wie ich war. Ralph aber schien bis dort noch einen unendlich langen Weg vor sich zu haben, länger, als ich ihn mir je hätte vorstellen können. Ich hielt ihn lange in meinen Armen fest, auch als er schon längst aufgehört hatte, zu schluchzen. Ich suchte nach Worten, die ich ihm sagen könnte, doch wirklich finden, tat ich keine. Alles hätte in meinen Ohren abgegriffen gewirkt, nichts davon hätte ihm wahrscheinlich geholfen. Also schwieg ich und wartete, bis er mich wieder ansah. In Wahrheit hatte ich sogar ein wenig Angst vor dem ersten neuen Blick. Als er ihn mir schließlich schenkte, konnte ich ihn kaum sehen. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden, nur aus dem Flur drang Licht in das Zimmer herein und warf Schatten auf unsere Körper. Aus diesem Grund konnte ich zwar seine Augen erkennen, jedoch nicht den Ausdruck in ihnen. Vielleicht daher überraschten mich die Worte, die er mit ruhiger, fast neugieriger Stimme in die angebrochene Dunkelheit sprach. „Wie lange beobachtest du mich schon?“ Ich musste schlucken, wurde mit Sicherheit rot. Plötzlich war es mir peinlich, dass er mir schon bei unserer Einschulung aufgefallen war. Aber musste mir vor ihm überhaupt etwas peinlich sein? Wir saßen beide nackt zusammen auf seinem Zimmerboden und seine Tränen waren gerade erst getrocknet. „Lange“, sagte ich schließlich nur. Er nickte, strich sich übers Gesicht. Vielleicht, um sicher zu gehen, dass er nicht mehr weinte. „Du bist mir vor ein paar Wochen aufgefallen“, sagte er dann. „Bei deinem Referat.“ Ich konnte mich noch genau daran erinnern. Ich hatte es schon immer gehasst, vor der gesamten Klasse zu reden, am liebsten wäre ich damals im Boden versunken. Ihn hatte ich allein durch die Aufregung gar nicht wahrgenommen, wie niemanden im gesamten Raum. „Du hast das Thema wirklich toll rübergebracht… es hat mich vorher nicht mal interessiert, aber ich konnte meine Augen nicht von dir nehmen…“ Nun glühte ich wahrscheinlich wie eine Lampe im Rotlichtmilieu, doch wenigsten erhellte ich nicht ebenso den Raum. Ralph lächelte nur gedankenverloren, als er weiter sprach: „Danach hab ich dich manchmal beobachtet und gesehen, dass auch du ab und an zu mir schaust… Ich dachte, das sei Zufall… doch dein Blick, als du mich am Mittwoch im Klassenzimmer gesehen hast…“ „Er war eindeutig, was?“, nahm ich ihm die Worte weg. Ich konnte mich so brennend genau an die Situation erinnern. Nun küsste ich sanft sein Haar, grinste hinein. „Nicht direkt… aber er hat Interesse gezeigt, glaube ich… Und dann wollte ich dich so gerne küssen…“ Diese Eröffnung ließ mich genau das im nächsten Moment tun. Lange und sanft. „Ich dich auch“, gab ich danach zu. „Und dann hätte ich Nick wirklich erschlagen können…“ Ein Grinsen endlich auch auf Ralphs Gesicht. „Ich auch… einen Moment lang dachte ich sogar, er sei dein Freund…“ „Weshalb?“ „Ich weiß nicht. Sein Blick war ziemlich… Wie soll ich sagen…“ Leicht zuckt er mit den Schultern. „Aber er ist es nicht, oder?“ „Nein.“ „Das ist gut.“ Ralph streckt sich in meinen Armen, küsst mich nun. Und dieses Mal wurde mehr daraus. Der Körper in meinen Armen stützte sich vom Boden ab, mit einem Mal lag ich unter ihm. „Tut es noch weh?“, strich Ralphs Hand über die Seite meines Oberschenkels. „Ich weiß nicht.“ Ich öffnete meine Beine ein Stück, hob die Hände und zog ihn zu mir hinab. „Lass es uns herausfinden…“ Ich ging an jenem Sonntag nicht mehr nach Hause. Ralphs Eltern waren auf Dienstreise und somit empfand er keine Furcht, mich bei sich zu haben, im Gegenteil, wie er mir leise ins Ohr flüsterte, als wir verschwitzt auf dem Zimmerboden in den Armen des anderen lagen; er genieße meine Nähe, das waren seine Worte. Ich konnte sie nur zurück geben. Auch wenn ich noch immer ein wenig Schmerzen empfand, war da auch dies unbeschreibliche Glücksgefühl in meinem Körper, die Erleichterung, dass er sich beruhigt hatte… und der faszinierende Gedanke daran, dass ich ihm bereits ein paar Wochen zuvor aufgefallen war. Ich konnte es kaum glauben, auch als er es mir auf meine Frage hin versicherte. Ich hatte immer angenommen, dass ich wie Luft für ihn gewesen sei. Nicht ein Mal war ich auf den Gedanken gekommen, dass auch er mich beobachtete. Nun erfüllte mich dieser Gedanke mit purer Freude und das sagte ich ihm später auch, als wir uns eine Pizza in den Ofen geschoben hatten und mit knurrenden Mägen am Boden der Küche saßen, uns hier wieder und wieder sanft küssten. Die Pizza verbrannte, am Ende aßen wir trockene Bagel mit Frischkäse und einer Tüte Chips, was mir in meinem Leben noch nie derartig gut geschmeckt hat. Anschließend redeten wir stundenlang. Es waren zum größten Teil sehr unwichtige Dinge; das Leben halt, unsere Hobbys, ein bisschen über die Schule, doch irgendwann auch ein bisschen mehr über uns. Dass dies alles erst am Montag begonnen hatte, dass ich erst seit so kurzer Zeit begann, mehr von ihm wahrzunehmen, zu lernen, konnte ich bald kaum noch glauben. Hatte ich tatsächlich vorher nie mit ihm geredet? Wusste ich so gar nichts über ihn, außer den unwichtigen Dingen, wie sein Geburtsdatum oder eben den Namen seines Vaters? Ich hatte nicht mal gewusst, dass er ein Einzelkind war, ebenso wie ich ihm nun zum ersten Mal von Lizzy erzählte. Wir redeten über diesen Unterschied und über anderen Gegensätzen bei uns. Ich erzählte ihm, dass ich schon vor Jahren mein Coming-Out gehabt hatte, und er beichtete mir, dass er sich nicht vorstellen könnte, es seinen Eltern in den nächsten zwanzig zu gestehen. „Glaubst du wirklich, dass sie dich verurteilen würden?“, wurde die Stimmung an dieser Stelle, irgendwann in der Nacht, wieder ernster. „Sie sind sehr christlich“, sagte er nur. „Es würde für sie eine Sünde sein, glaube ich. Und es würde ihren Namen beschmutzen.“ „Also willst du dich verstecken?“ „Ich weiß es nicht…“ Er schaltete das Licht ab. Gerne hätte ich mich über ihn gebeugt, es wieder entflammt, doch ich glaubte, dass er diese Dunkelheit nun dringender brauchte als ich den Ausdruck in seinen Augen. Ich spürte seine Finger an meinem Schlüsselbein. „Willst du…“ Ich zögerte, griff nach den Fingern und umschloss sie. „Willst du, dass es zwischen uns weiter geht?“ „Ja.“ Es kam ohne Umschweife. Die Antwort war offensichtlich gewesen. „Das heißt, ich soll mich auch verstecken? Ein guter Freund von dir sein? Mehr nicht…“ Er zögerte, ich merkte, dass er meine Hand loslassen wollte. „Eigentlich…“ Ich ließ ihn frei, drehte mich etwas. Sehen konnte ich ihn natürlich nicht, nur erahnen. „Eigentlich?“, fragte ich nach. „Ich weiß nicht… Wir können nicht...“ In meinem Magen zog sich etwas zusammen. Ich ahnte schon, was er sagen wollte, bevor er es über die Lippen brachte. Vielleicht tat es dadurch weniger weh. Oder nur umso mehr? „Wir können keine Freunde sein…“ „Weshalb nicht?“ Meine Stimme war dünn, sofort spürte ich seine Finger, die nun meine suchten. Nur widerwillig ließ ich zu, dass sie sie fanden. „Es geht einfach nicht… versteh doch… ich... kann nicht ständig so in deiner Nähe sein… ich glaube, das ertrage ich nicht… und in der Schule… sie haben… du bist…“ „Warum ist es dir so wichtig, was die denken?“ Nun zog ich an meiner Hand. Er hielt sie fest. „Ich weiß es nicht“, kam es leise. Ich seufzte, spürte, dass meine Augen brannten. „Ich schon“, sagte ich dann und als keine Antwort kam, ich die Frage in der Dunkelheit spürte, sprach ich weiter: „Es ist tiefer zu fallen, wenn man beliebt ist, nicht wahr? Man hat mehr zu verlieren… Die Leute haben ihr makelloses Portrait von einem bereits gemalt, und man will es ja nicht zerstören, nur weil man nicht so toll ist, wie die Leute erwarten. Außerdem ist man es nicht gewohnt, im Mittelpunkt von abschätzenden Blicken zu stehen. Deshalb hat man Angst vor ihnen, vor der Tiefe...“ Es sollte kein Vorwurf sein, es war einfach eine Tatsache, und dennoch glaube ich, dass er sich angegriffen fühlte. Denn plötzlich war seine Hand weg. Und auch sonst berührte mich keine Stelle seines Körpers mehr. Ich wollte mich entschuldigen, doch letztendlich tat ich es nicht. Stattdessen drehte ich mich weg von ihm, vergrub mein Gesicht ein Stück in der Decke und schloss die Augen. Ich wusste, dass ihm meine Worte wehgetan hatten, da sie wahr waren, doch er hatte mir auch wehgetan. Merkte er das nicht? Ich konnte nicht einschlafen, so sehr ich es auch versuchte. Ich vernahm Ralphs ungleichmäßigen Atem neben mir und musste die ganze Zeit an seine Worte denken. Es schmerzte, zu wissen, dass er in der Öffentlichkeit nicht mal ein Freund von mir sein wollte. Doch irgendwie schmerzte mich die Tatsache für ihn fast noch mehr. War er so unglücklich mit sich selbst, dass er kein Risiko eingehen wollte? War wirklich ein Bild für andere entstanden, das er nicht zu zerstören wagte? Wie schwer musste dies für ihn sein, mit der Gewissheit, jemanden gleichen Geschlechts zu begehren? In mir kam schnell das Verlangen auf, mich zu ihm umzudrehen, ihn wieder in die Arme zu schließen und zu küssen. Plötzlich wollte ich ihn wieder trösten, ihm sagen, dass die Welt gar nicht so böse war, wie sie für ihn erschien. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte kein Glied meines Körpers dazu bringen, sich zu bewegen. Ich konnte nicht den ersten Schritt gehen… und dementsprechend gut tat es, als er ihn ging. Es war zunächst nur einer seiner Handrücken, der sacht meinen Rücken berührte. Als ich nicht darauf einging, bewegte Ralph sich auf der Matratze und griff über mich. Seine Finger fanden meine und er hielt sich förmlich daran fest. Seine Lippen legte er in meinen Nacken, den er küsste, liebkoste, an dem er weiter wanderte, bis zu meinem Ohr. „Es tut mir leid“, flüsterte er, was eine Träne dazu bracht, sich aus meinem Augenwinkel zu lösen. Und ich drehte mich auf den Rücken, suchte ihn in der Dunkelheit und erkannte im fahlen Mondlicht nur das Glänzen seiner Augen. Nach ihnen streckte ich meine freie Hand aus, fand sein Gesicht, berührte es sanft. Ich sagte nichts. Ich hätte ihm nicht sagen können, dass ich ihn verstand, denn das tat ich nicht. Ich hätte ihm auch nicht sagen können, dass ich ihm verzieh, denn eigentlich wollte ich wütend auf ihn sein. Stattdessen ließ ich einfach nur zu, dass er sich hinab beugte und mich küsste. Es war der bitterste Kuss von allen, aber vielleicht auch der süßeste. Part 3 ~ Ende [1] - FADING SNOW: Ich weiß nicht, weshalb ich das Bedürfnis hatte, diese Szene in Englisch zu schreiben, aber die Worte dazu flossen nur so aus meinen Fingern. Daher gibt es die deutsche Fassung an dieser Stelle^^ Alicée flüsterte, es dauert nicht lange, sich ineinander zu verlieben. Es dauert lange Zeit es zu vertiefen, doch das einfache Verlieben ist eine einfache Sache. Liebe beginnt mit einem Lächeln und wächst mit einem Kuss. Die Berührung ist der nächste Schritt und das Herz folgt auf dem Fuße. Du lernst etwas über die Person, verbindest dich selbst mit ihr und ohne es überhaupt zu bemerken, kannst du deine Augen nicht mehr von ihm nehmen. Wenn es einmal so weit gekommen ist, gibt es kein Zurück mehr. Sie lächelte und verlor die Berührung von Dorians Hand, als der Zug sich zu bewegen begann. Tränen rannen über ihr Gesicht, er wollte diese berühren, aber sie war schon zu weit entfernt. Ich liebe dich, dachte sie. Sie konnte es noch immer nicht sagen, auch wenn dies ihr letzter Moment zusammen war. Immer noch hatte sie Angst vor den Worten. Sie würden sie verletzen; sie könnte nicht weiterleben, wenn sie ihre Gefühle einmal auf diese einfache Weise ausgedrückt hätte. Sie wusste dies, sie hatte es gewusst seit dem ersten Mal, als Dorian an jenem Regentag mit ihr gesprochen hatte. Seit ihren ersten Moment war sie sich sicher, dass es so enden würde. Es endet immer Tränen und damit, jemanden zu vermissen. Sie hatte zuvor schon erlebt, aber dieses Mal war es sicher, es würde das letzte Mal sein. Als sie ihn durch ihre Tränen sah, ihr zuwinkend mit Schmerzen überall in seinem Gesicht geschrieben, wusste sie, dies war der letzte Mann, den sie je lieben würde. Sie würde ihn hiernach nie wiedersehen, aber in ihren Träumen wäre er immer da. Er war immer da gewesen. Und so sah sie ihn im Nebel verschwinden, je weiter der Zug fuhr, der sie zu einem Leben bringen würde, das sie nie gewollt hatte. Sie hatte nie eine Chance gehabt, irgendwas an ihrem Schicksal zu ändern, doch trotzdem war sie froh. Für einen Moment in ihrem Leben hatte Alicée die Liebe kennengelernt. Das war alles, was für sie nötig war. Sie würde sich für immer daran erinnern. Kapitel 4: Hillcroft Avenue --------------------------- Am liebsten wäre ich am nächsten Morgen nicht aufgestanden, vor allem nicht, da ich gerade mal zwei Stunden zuvor eingeschlafen war, und doch hatte ich nicht wirklich eine andere Wahl. Sehr wenig Zeit zur Verfügung, flitzte ich auf dem kürzesten Wege nach Hause, um mein Schulzeug zu holen. Und auf diesem Weg konnte ich kaum glauben, was bis hierher geschehen war. Solange ich bei Ralph gewesen war, hatte es alles der Wirklichkeit entsprochen, unsere Berührungen waren selbstverständlich und vertraut gewesen. Nun auf dem Heimweg kam ich mir vor, als sei all das einer anderen Welt entsprungen. Ich konnte das Lächeln nicht mehr von meinen Lippen vertreiben, während ich an unsere zärtlichen Berührungen unter dem warmen Wasser der morgendlichen Dusche dachte, welche die Schwere der letzten Nacht vollends vertrieben hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich ihm in der Schule begegnen sollte, ohne ihn nicht genau so anzusehen. Würde man es nicht an dem Leuchten in meinen Augen erkennen? Meine Eltern taten dies ganz sicher, als ich ihnen eine ziemlich fadenscheinige Erklärung auftischte und mich sofort wieder auf den Weg machte. Bei ihnen störte es mich nicht, bei Nick jedoch hatte ich ein wenig mehr Sorge. Nun mit diesem Glücksgefühl im Magen wollte ich mein Lächeln nicht verbergen, nicht vor ihm, meinem besten Freund. Ich wollte es teilen mit ihm, wenn schon mit keinem anderen. Irgendjemandem musste ich es einfach erzählen und vielleicht kam es mir nur zurecht, dass er mich direkt durchdringend anblickte, als mir das überfröhliche „Einen wunderschönen guten Morgen“ über die Lippen gedrungen war. In dem Augenblick nämlich wusste ich, dass ich ihm die Wahrheit nicht eine Sekunde länger verschweigen konnte. Also schickte ich die erste Schulstunde zum Teufel und erklärte Nick stattdessen, dass ich ihm unbedingt etwas erzählen müsse. Meine Füße trugen mich dabei Richtung Park, während ich nach den richtigen Worten suchte und er mich nur vollkommen verwirrt von der Seite musterte. Natürlich war ich nervös, aber Angst hatte ich eigentlich keine. Ich kannte meinen besten Freund, glaubte zu wissen, wie er es aufnehmen würde. Doch Nick reagiert anders als erwartet. Hätte ich in den letzten Jahren wirklich einen Grund dafür nennen sollen, weshalb ich ihm meine Homosexualität verschwiegen hatte, so hätte ich wahrscheinlich keinen plausiblen gefunden. Denn eigentlich war ich mir immer sicher gewesen, dass er mich deshalb niemals hassen würde. Er würde es akzeptieren, würde weiterhin mein Freund bleiben… und dennoch hatte ich es ihm nie gesagt. Vielleicht hatte ich am Ende auch schlicht und einfach gehofft, dass er es irgendwann von selbst merken und mich seinerseits darauf ansprechen würde. Er hatte es nie von selbst gemerkt, und an jenem Morgen im Park, nachdem ich ihm endlich gesagt hatte, dass ich mit einem Jungen zusammen war, machte er zunächst auch nicht den Anschein, als hätte er vor, es zu akzeptieren. Er sah mich an, als sei ich von einem anderen Planeten. Seine Augen waren ungläubig, zeigten einen Ausdruck, den ich nicht verstand, verzogen sich immer weiter, während er kein Wort über die Lippen brachte. Er ballte die Fäuste und ich glaubte für einen Moment, er würde auf mich losgehen, doch das tat er nicht. Er schrie nicht, er schlug nicht, er tat gar nichts, minutenlang nicht. Ich wagte in ihnen kaum, zu atmen, und jedes Knacken unter meinen Fußsolen ließ mich zusammenzucken. Hatte ich mich tatsächlich dermaßen in ihm geirrt? Das wollte ich einfach nicht glauben. Die ersten Worte, welche über seine Lippen kamen, waren jedoch nicht von Abscheu geprägt, sie waren weder geschrien noch überhaupt irgendwie wütend. Ich glaube, mir kamen sie sehr emotionslos vor, was ich am schlimmsten fand. „Ist es Ralph?“, war seine Frage, auf die ich nicht mehr als nicken konnte. Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen, ich räusperte mich, schluckte den Kloß hinunter. Noch immer ahnte ich nicht, wie er reagieren könnte. Von ihm folgte ein Nicken, er kickte eine zerknüllte Bierdose aus dem Weg. Ich sah sie fliegen gegen den nächsten Baum, dann lag sie reglos am Boden. Als ich wieder zurück zu Nick sah, hatte sich dessen Gesichtsausdruck vollkommen verändert. Plötzlich war da Wut, merkwürdiger Hass, und als ich den Namen meines besten Freundes sprach, schrie er mich an. „Warum dieser Aufschneider?“, richtete er die Augen direkt in meine. „Warum ausgerechnet der Typ? Der will doch nur mit dir ins Bett, seinen Spaß haben! Der hat doch gar keine Ahn-“ Ich hatte Nick nie geschlagen, zumindest nicht, seit wir dem Sandkasten entwachsen waren. An jenem Morgen tat ich es und ihn ließ es augenblicklich verstummen. „Sag mal, spinnst du?“, schrie stattdessen ich. „DU hast doch überhaupt keine Ahnung! Weißt du eigentlich, wovon du sprichst? Du kennst ihn nicht! Du weißt überhaupt nichts über ihn!“ „Aber du?“ „Ja!“ „Woher denn?“ „Er hat es mir erzählt?“ „Ach ja? Das sind doch alles nur Lügen, um dich-“ „Hör sofort auf!“ Hatte ich soeben noch geschrien, war meine Stimme nun ruhig, aber kalt wie Eis. „Noch einen Ton und ich werde…“ Ich brachte die Drohung nicht zu Ende und kurz wollte er darauf spöttisch reagieren, doch beide entschieden wir vielleicht im selben Moment, dass das nicht die Basis war, auf der wir uns unterhalten sollten. Wir standen mittlerweile irgendwo mitten im Park, die Fäuste gespannt und kurz davor, uns zu verprügeln. Das entsprach nicht der Freundschaft, die wir führten. Ich löste meine angespannten Hände nun langsam, schloss die Augen eine Sekunde und suchte nach vernünftigen Worten. „Ich habe gedacht, dass du dich für mich freuen würdest“, fand ich sie und schlug die Augen wieder auf. „Ich dachte, als mein bester Freund würdest du mich unterstützen.“ Sein Blick änderte sich augenblicklich als habe ich ihm ins Gesicht geschlagen. Er wand sich ab, kämpfte sichtlich mit sich. Ich verstand nicht weshalb. Wieso hatte er so ein riesiges Problem damit? „Du hast recht“, kam es jedoch in der nächsten Sekunde. Er drehte sich wieder zu mir um. „Es stimmt, ich sollte dich unterstützen... es ist nur...“ Seine Stirn lag noch immer in Falten. „Was ist es?“, fragte ich vorsichtig. „Du weißt es doch nicht erst seit heute... Dass du schwul bist...“ „Nein.“ „Warum hast du es mir nie gesagt?“ Seine Augen blickten direkt in meine. Plötzlich erkannte ich die Enttäuschung in ihnen. „Ich dachte, als mein bester Freund würdest du mir alles erzählen.“ Es blieb still. Ich wusste nichts zu sagen. Er hatte recht. Sein Vorwurf saß tiefer als meiner, plötzlich verstand ich die Wut, welche ihn trieb. Ich senkte den Kopf. „Es tut mir-“ „Mir auch“, unterbrach er mich schnell. Sofort sah ich ihn wieder an. Seine Mundwinkel hoben sich langsam ein Stück. Das war alles, was es brauchte. Ich fiel ihm um den Hals. Ich weiß nicht, weshalb so plötzlich, aber mir war danach. Ich brauchte vielleicht diese Absicherung, dass er es noch immer zulassen würde, und als es so war, war ich erleichtert. Ich spürte den Stein fallen, welcher immer auf meinem Herzen gelastet hatte. Endlich wusste er es. Endlich hatte ich es ihm gesagt. Diese Tatsache war mir gerade unheimlich viel wert. Letztendlich gingen Nick und ich erst zur dritten Schulstunde jenes Tages. Wir verbrachten noch eine ganze Zeit im Park und traten die Bierdose vor uns her. Unter dieser Beschäftigung fragte er nun ganz neutral nach Ralph und wie es gekommen war. Wann hatte es begonnen. Wie stark waren meine Gefühle. Wie lange wusste ich schon, dass ich schwul war. Ich beantwortete ihm alles und es tat gut, dies zu tun, vor allem, da ich keine Abscheu spürte. Selbst die Frage, ob wir bereits miteinander geschlafen hätten, brachte er über die Lippen, als rede er über ein Mädchen. Insgeheim hatte ich es mir immer so vorgestellt, doch als ich damals mit ihm genau so sprach, wurde mir bewusst, dass ich auch immer irgendwo Angst gehabt hatte, dass es doch anders sein könnte. Aber das war es nicht. Er akzeptierte mich. Im Endeffekt hatte er genau so reagiert, wie ich es erwartet hatte. Wir betraten das Klassenzimmer kurz vor Beginn der Stunde. Ich bemerkte, dass dieses Mal nicht nur mein Blick in die Ecke ging. Wir beide entdeckten Ralph dort, mir schenkte er einen winzigen, äußerlich sehr neutralen Blick, ehe er zurück auf sein Buch starrte. Lächelnd setzte ich mich nieder, auch wenn das Lächeln mit schnell wieder schwand. Eigentlich hatte ich das Bedürfnis, zu ihm zu gehen. Ich wollte ihm sagen, dass mein bester Freund mich akzeptiert hatte, doch noch mehr als das, verlangte es mich danach, ihn zu berühren, nur ganz kurz, es musste nicht mal ein Kuss sein. Die Schulstunde begann, ohne dass ich mich noch einmal umgesehen hatte. Hätte ich es getan, wäre es schwer an Selbstbeherrschung gewesen, also zwang ich mich, es nicht zu tun. Doch auch so konnte ich mich nicht auf das konzentrieren, was der Lehrer sagte. Ich spürte Ralphs Blick direkt auf meinem Rücken liegen; wenn ich die Augen für Sekunden schloss, spürte ich auch wieder seine Finger auf meiner Haut. Mir wurde heiß; wenn ich die Augen öffnete, wurde mir direkt wieder kalt. Ich atmete tief durch, versuchte, mich zu beruhigen. Es würde ab nun immer so sein, sagte ich mir, jeden Tag, bis zu unserem Abschluss in ein paar Monaten. Ich sollte schnell versuchen, mich daran zu gewöhnen. Doch es ging nicht schnell, ganz und gar nicht. Als die Pause zu Ende war, war ich kurz davor, doch zu ihm hinüber zu gehen. Stattdessen zwang ich mich, mit Nick zu reden, der mir jedoch direkt ansah, dass mir ganz andere Dinge durch den Kopf gingen. „Das ist nicht gut“, sagte er mit sorgenvollen Augen. „Du bist nicht der Typ, dich dermaßen zu verstecken.“ „Ich weiß!“, klagte ich und vergrub meinen Kopf zwischen meinen Armen auf dem Tisch. Die nächste Stunde brach an und ich begann mich zu fragen, was Ralph vor hatte. Was tat er heute Abend? Wollte er mich sehen? Gab es eine Möglichkeit für mich, ihn zu sehen? Und wie würde ich es erfahren? Ob er wusste, wie viel er mir abverlangte, schon jetzt? Konnte er ahnen, wie sehr ich mich nach ihm sehnte? Vielleicht konnte er das, denn als ich nach der letzten Stunde zu meinem Spind ging, fand ich einen Zettel darin vor. Ich strahlte Nick an wie ein Honigkuchenpferd, während ich mich noch fragte, was an dem Ort war, weshalb er mich dort treffen wollte. Doch es war mir egal, Hauptsache er würde da sein. Unser Treffpunkt, die kurze Hillcroft Avenue, liegt am Rande eines kleineren Wäldchens; kein besonders großes, aber so gut wie unbesucht. Ich selbst war nur ein oder zweimal während meiner Kindertage dort gewesen. Diese fehlende Spektakularität des Ortes war wohl der Grund, weshalb Ralph gerade ihn wählte. In jenem März war der Frühling in Arlington gerade angebrochen und die Bäume und Sträucher trugen dichtes Blattwerk. Wenn man nur ein paar Meter in den Wald hineinging, konnte einen niemand mehr entdecken. Gespannt also ließ ich mich in der Abenddämmerung von Ralph weiter hinein führen. Er hielt meine Hand bereits seit ein paar Metern und an ihr zog er mich schließlich auf eine winzige Lichtung, Mitten im Wald. „Gefällt es dir?“, fragte Ralph sanft und seine Stimme verriet, dass er unsicher war. Ich hingegen war sprachlos. Vor mir war eine Decke ausgebreitet, daneben ein Picknickkorb, dahinter ein kleines Igluzelt. Hätte ich diese Szenerie in irgendeinem Film gesehen, hätte ich sie wohl für übertrieben kitschig gehalten; nun aber in meinem eigenen Film brachte ich kein Wort über die Lippen, sondern konnte nur seine Hand drücken und ihm in den ersten Sekunden damit signalisieren, wie sehr ich mich freute. Erst als ich mich wieder gefangen hatte, küsste ich ihn wild, überschwänglich, landete mit ihm auf der Decke und sagte ihm, dass ich dieses Ort lieben würde. Er war wunderschön. Ab diesem Tag wurde unser geheimer Treffpunkt diese winzige Lichtung in der Mitte des Waldes. Hierher brachten wir mit der Zeit noch ein paar weitere Decken, ein großes Kissen, einen batteriebetriebenen CD-Player und allerlei Unfug. Wir aßen, schliefen, lachten hier, badeten im winzigen See in der Nähe und lernten uns immer besser kennen, lernten uns verstehen, und vor allem lernten wir uns lieben, auch wenn dies keiner von uns in Worte fasste. Wir mussten es nicht, dachten wir, sahen wir doch in den Augen des anderen wie wir für einander empfanden. Jedes Blatt, jeder Zweig oder Vogel konnte es sehen; und so trug das kleine Wäldchen an der Hillcroft Avenue unser Geheimnis in sich. Insgesamt fast volle vier Monate lang trafen wir uns nahezu täglich dort, wenn auch manchmal erst sehr spät, nachdem alle anderen Verabredungen hinter uns lagen; wir verbrachten Nacht um Nacht gemeinsam und waren glücklich, genau jetzt hier zu sein. Ich habe keine Ahnung, was Ralph seinen Eltern sagte, wahrscheinlich übernachtete er für sie bei seiner Freundin; meinen Eltern sagte ich jedoch irgendwann die Wahrheit, da ich das leicht besorgte Gesicht meiner Mutter nicht länger ertragen wollte. Sie sagte mir anschließend nur, was ich bereits wusste: Ich hätte Ralph zu jedem Zeitpunkt problemlos mit zu mir nach Hause nehmen können. Meine Eltern hätten kein Problem damit gehabt. Ralph allerdings sträubte sich am Anfang gegen den Gedanken und schließlich wollte auch ich es selbst nicht mehr. Hier auf der Lichtung war es schöner. Hier waren wir alleine, hatten jede Sekunde für uns, konnten machen was wir wollten, so oft und so viel wir es wollten, und sei es der Streit, der gegen Ende immer häufiger wurde. Zu Anfang jedoch war davon nicht die Rede, zu Anfang war es einfach wunderschön. Ich genoss jede Minute mit Ralph, jede seiner Berührungen, jeden Kuss, sei er auch noch so kindlich. Ich genoss es, mit ihm stundenlang über die Bäume um uns herum philosophieren zu können, und dann wieder darüber zu reden, was zuvor in den Nachrichten passiert war. Wir lernten hier zusammen, denn die Abschlussprüfungen rückten näher, und ich stellte fest, dass Ralph eigentlich ein sehr guter Schüler war. Etwas faul, wenig herausstechend, doch manches verstand er besser als ich, und ich glaube, es tat ihm gut, dass auch er mir das ein oder andere zeigen konnte. Ralph und ich hatten beide große Pläne für unsere Zukunft nach der High School. Ich wollte Bauwesen studieren gehen, er würde bei seinem Vater in der Börsenfirma einsteigen. Nicht selten malten wir uns aus, wie er dabei reich werden würde und wir uns irgendwann ein Haus in Kalifornien oder auf Hawaii leisten könnten, weg von den Blicken der Leute, vier Wände ganz für uns alleine. Es waren Träume, die wir hatten, die wir ausschmückten und liebten. Ich glaube nicht, dass einer von uns wirklich je daran glaubte, dass wir diese Zukunft zusammen haben könnten, doch wir sprachen auch nicht über die Realisierbarkeit unserer Wünsche. In unserem kleinen Waldstück war dies egal. Hier hatten wir uns, unsere Wirklichkeit. Hier spielte das wirkliche Leben, welches uns und vor allem Ralph fesselte, keine Rolle. Zumindest in den ersten beiden Monaten nicht. Lange konnten wir einfach nur in unseren Träumen verweilen. „Es ist wirklich ein Wunder, nicht wahr?“ Ich glaube, es war unterm Sternenhimmel Anfang Mai und wir lagen auf der Decke im Freien, als Ralph leise diese Worte sprach, welche ich nie vergessen sollte. Ich kuschelte mich enger an ihn, da die vorbeiziehende Nachtluft mich frösteln ließ. „Was?“, fragte ich sanft. Sein Finger fanden mein Haar, glitten hindurch. „Wenn zwei Menschen sich finden... Es gibt so viele auf der Welt, überleg dir mal, wie vielen wir schon begegnet sind… und doch gibt es unzählige Menschen, die zusammengehören, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Dabei hätten sie sich, wenn ein paar Dinge anders gelaufen wären, vielleicht niemals getroffen...“ Er drehte sich ein Stück, küsste mein Haar, vergrub sein Gesicht darin. „Ich sollte erst auf eine andere Schule gehen, dann hätte ich dich wahrscheinlich nie kennengelernt... doch so wir haben uns gefunden... Meinst du nicht, dass es an ein Wunder grenzt?“ Ich spürte deutlich die Schwere seiner Worte, ich versuchte sie hinunterzuschlucken, während ich mich etwas von ihm entfernte, um ihn anzusehen. Hier nun versuchte ich ein Lächeln, während ich in seine ruhigen Augen blickte. „Ja“, flüsterte ich dann und beugte mich an seine Lippen. „Es ist ein Wunder.“ Ich unterdrückte meine Tränen mit Mühe. Vielleicht ist man mit siebzehn so naiv, dass man tatsächlich an Wunder glaubt; dass man glaubt, alles würde sich schon irgendwann zum Guten wenden. Ich weiß nicht, ob auch ich wirklich daran geglaubt habe, oder ob ich es mir nur selbst vormachte. Auch Ralph schätzte ich eigentlich als sehr realistisch ein… und dennoch träumten wir diese gemeinsamen Träume, verbrachten solche Nächte unter dem Sternenhimmel und wachten letztendlich nur langsam aus unserer Wirklichkeit auf. Zunächst stritten wir uns nicht wirklich, wir diskutierten nur ab und an über unsere Situation. Mich störte es, dass alle mir wichtigen Menschen die Wahrheit kannten, er jedoch noch nicht mal daran dachte, seinen Eltern zu sagen, was mit ihm los war. Ich merkte, dass es mir zunehmend schwer fiel, ihm in der Schule aus dem Weg zu gehen. Es tat weh, ihn lachen zu sehen, wenn ich keine Ahnung hatte, worüber er lachte. Und ich wollte ihn berühren, wann immer er mir zufällig nahe war. Ich wollte ihn anfassen und vor allem anlächeln können, ihm immer wieder zeigen, wie viel er mir bedeutete, auch wenn er dies nur zu gut wusste. Nick ertappte mich oft dabei, wie ich Ralph verstohlen beobachtete, wies mich dann auf meinen traurigen Blick hin und konnte sich zunehmend nicht verkneifen, mir zu sagen, dass es nicht gut für mich wäre. Ich wäre kein Mensch von Versteckspielen, wiederholte er ein paar Mal. Ich hätte immer so gelebt, wie ich es für richtig gehalten hatte. Und Nick hatte recht. Ich verstellte mich und mir ging es nicht gut dabei. Dass ich so gut wie jedem Menschen zeigen musste, dass ich keine Ahnung hatte, was Ralph für ein Mensch war, tat mir weh. Dabei kannte ich ihn wie niemand sonst. Kaum einer wusste, dass er alte Schwarzweißfilme liebte, dass das Buch, Fading Snow, nur eines von vielen in seinem Regal war, in denen es um tragische Liebe ging. Auch wenn er damals gesagt hatte, dass er so etwas eigentlich nicht so gerne lese, strafte ich ihn lügen, denn zusammen verschlangen wir das ein oder andere seiner Lieblingsbücher, und ich spürte deutlich, dass sie ihm ebenso nahe gingen wie mir. Manchmal diskutierten wir anschließend, was der oder die Protagonistin hätte anders, besser machen können. Meist waren wir derselben Meinung, glaubten, dass sie einfach nur den Mund hätten aufkriegen müssen. Umso unverständlicher war es mir, dass er diesen Fehler selbst beging. Sah er denn nicht, dass man auch über ihn eine tragische Geschichte hätte schreiben können? So allerdings war ich der einzige, der diese Geschichte kannte. Niemand außer mir wusste um diese weiche, verletzliche Seite an Ralph, niemand ahnte, mit was für Gefühlen er kämpfte, dass er vieles, worüber er mit den anderen sprach, gar nicht so toll fand, wie er vorgab; dass er es nicht mochte, Mädchen anzugraben, über sie zu reden, als seien sie Freiwild. Er mochte es nicht, dafür mochte er andere Dinge, und ich kannte alle von ihnen, Sosehr mich dieses Exklusivrecht einerseits freute, da es mich noch auf eine ganz andere Weise zu einem wichtigen Menschen in seinem Leben machte; zu seinem Vertrauten, zu dem, dem er alles sagen konnte; so sehr machte es mich auch traurig. Traurig für ihn, der er schauspielerte, wann immer er nicht alleine mit mir zusammen war. In der Schule erkannte ich oftmals, dass er nur lachte, weil es von ihm erwartet wurde; ich erkannte die sehnsüchtigen Blicke aus dem Fenster hinaus und ich sah die Erleichterung, die in eben diesen Blicken lag, wenn wir uns wieder trafen, wenn er das Lächeln tragen konnte, das er fühlte. Doch was konnte ich tun, außer dann für ihn da zu sein, außer ihm zu sagen, dass es ihm nicht gut tat? Er war der einzige, der sein Leben leben konnte. Merkte er denn nicht, dass ihm dies alles letztendlich viel mehr schaden als helfen würde? Ich konnte nicht immer Verständnis für Ralph aufbringen, selbst wenn ich es gerne getan hätte. Irgendwann begann es auch mir zu schaden, da ich mich veränderte, noch nachdenklicher wurde als ich es schon immer gewesen war, weil ich öfter spürte, dass ich aus unsinnigen Gründen traurig wurde. Das gefiel mir nicht, also begannen irgendwann die Diskussionen darüber. Und dann begannen wir zu streiten, immer häufiger. Ralph sagte mir wieder und wieder, dass es seine Entscheidung sei, dass er Gründe dafür hatte, niemandem die Wahrheit zu sagen, dass er es nicht gut vertrug, wenn ich ihn so ansah. Doch wie sah ich ihn an? Traurig? Vorwurfsvoll? Enttäuscht, weil er nicht mit mir ins Kino gehen wollte, nichts wirklich öffentlich mit mir teilen wollte? Sah er wirklich nur meine Seite und ihre Einschränkungen? Merkte er nie, wie sehr es auch ihn befreien würde, wenn er doch nur ein Mal in der Öffentlichkeit meine Hand ergreifen würde? Ich verstand es irgendwann wirklich nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, mich nur zu wiederholen, ihm jedes Mal die selben Dinge zu sagen, die zwar offensichtlich waren, von ihm aber nicht gesehen wurden. Deshalb weinte ich manchmal, weinte auch in seinen Armen, wenn er mir wieder nur sagen konnte, wie leid es ihm tat, wenn er mir sagte, dass ich ihm mehr bedeuten würde als alles andere. Das wusste ich, auch wenn er nie die richtigen Worte dafür fand, auch wenn er mir nie sagte, dass er mich liebte. Doch auch ich sprach dies nicht aus. Manchmal, wenn ich kurz davor war, musste ich an die Zeilen des Buches denken. Seit ihren ersten Moment war sie sich sicher, dass es so enden würde. Ich wusste es auch, irgendwo, ganz tief in meinem Herzen wusste ich es, denn vielleicht ist man selbst mit siebzehn nicht so naiv, an das Wunder zu glauben, dass sich schon alles irgendwann zum Guten wenden wird. Das konnte es nicht, wenn man nichts dafür tat. Also würde es enden, irgendwann, still und leise, da war ich mir sicher, und dies ließ mich meine Liebe nicht in Worte fassen. Ebenso wie Alicée konnte ich sie nie sprechen und auch mein Dorian schwieg stumm. Es endete alles an einem Abend im Juli. Es gab keine Anzeichen dafür, nicht mehr oder weniger als sonst. Es war ein Tag wie jeder andere, wieder wollten wir einander auf der Lichtung treffen, wieder einmal freute ich mich darauf und schwor mir, nicht mit ihm zu streiten. Noch am Tag zuvor waren wir so unglücklich in den Armen des anderen eingeschlafen. Das wollte ich nicht erneut, an diesem Abend wollte ich einfach nur glücklich mit ihm sein, ohne böses Wort, ohne traurige Gedanken. Es war vielleicht der Zufall, vielleicht das Schicksal, das es anders kommen ließ. Zunächst, als ich Ralph in dem kleinen 24-Stunden-Laden traf, welcher ganz in der Nähe der Hillcroft Avenue lag, freute ich mich darüber. Ich hatte nur etwas zu Knabbern kaufen wollen, er hatte scheinbar denselben Gedanken gehabt. Er lächelte zärtlich und in seinen Augen sah ich, dass er ebenso wie ich einfach nur einen schönen Abend haben wollte. Keinen Streit, einfach nur ein paar sanfte Küsse, Berührungen, Worte. Er wollte ebenso wie ich die Vertrautheit zwischen uns genießen und den gestrigen Streit vergessen. Nun, in diesem kleinen Laden, kam er zu mir hinüber, berührte sogar kurz zärtlich meinen Arm. Er fragte mich irgendeine Lappalie und wir lachten, während die Kassiererin die Beträge abzog. Wir verfielen in eines unser üblichen, neckischen Gespräche, natürlich bedacht darauf, uns nicht zu berühren, und dennoch zu unvorsichtig. Ich sah die anderen zuerst. Es waren drei unserer Mitschüler, ein Mädchen, zwei Jungen, außerdem ein Mädchen aus unserer Parallelklasse. Natürlich hatten sie uns schon gesehen, bevor wir ihrer gewahr geworden waren. Sie hatten uns vertraut miteinander lachen sehen, freundschaftlich, nicht nur so, als würde man irgendeinem Klassenkameraden begegnen. Dass wir einander mochten, wenn auch nicht wie sehr, war wahrscheinlich offensichtlich. Als Ralph die vier bemerkte, gefror er neben mir. Ich sah zu ihm hinauf, sah seine erschrockenen Augen, sah, dass er kurz davor war, die Dinge in seinen Händen fallen zu lassen. Ich nahm sie ihm ab, er bekam es kaum mit. Die vier kamen auf uns zu. Die Jungen ließen blöde Sprüche fallen, mir gegenüber, schätzten mich mit Blicken ab und fragten Ralph, was er denn mit „so einem“ zu tun haben würde. Erst ein paar Tage später sollte ich verstehen, was sie damit meinten. Bereits seit langem ratschlagte man hinter hervor gehaltener Hand darüber, ob ich vielleicht schwul sei. Ich hatte nie etwas davon mitbekommen, Ralph allerdings wusste es scheinbar ganz genau. Ich glaube, ich kann mich heute nicht mehr an seine Antwort erinnern, weil ich sie damals sofort wieder vergessen wollte. Sie war gemein, verletzend und überhaupt nicht ansatzweise so liebevoll, wie all das, was er sonst zu mir sagte. Er lachte, ich weiß nicht mal mehr worüber, nur, dass es mit mir zu tun hatte. Dann tätschelte er übertrieben meine Schulter, wünschte mir noch einen schönen Abend und verschwand mit den anderen aus dem Laden hinaus. Zunächst verstand ich nicht, was vor sich ging, erst, als ich ihn in das Auto steigen sah, erst als dieses ihn weg brachte, weg von mir; erst da ließ ich alles, was ich getragen hatte, zu Boden fallen, hörte zersplitterndes Glas und mein eigenes, erbärmliches Schluchzen, als ich mir die Hände vors Gesicht presste, und versuchte, dem Schmerz in mir zu entkommen. Es war das erste Mal, dass ich eine Nacht alleine auf unserer Lichtung verbrachte. Ich schlang die Decken um mich und fror dennoch tierisch, auch wenn mein Körper wahrscheinlich Unmengen an Schweiß produzierte. Es waren mit Sicherheit weit über zwanzig Grad, doch ich hatte das Gefühl, eine Eiszeit wäre angebrochen. Ich weinte lange und heftig, bis ich keine Tränen mehr hatte, und ich starrte in den Sternenhimmel, musste an all sie Worte denken, welche er bei diesem Anblick zu mir gesagt hatte. Ich zwang mich, an das Wunder zu denken und die Sterne zu zählen, denn wenn ich die Augen schloss, sah ich seinen Blick aus dem Laden vor mir, seine kühlen Augen. Noch nie hatte er mich so angesehen, egal wie heftig wir gestritten hatten, niemals war sein Blick derart abweisend gewesen. Es zerriss mein Herz mit jeder Sekunde ein Stückchen mehr, denn ich verstand, was der Blick hieß. Ich verstand es zu gut, um es mir einzugestehen. Stattdessen klammerte ich mich an die winzige, sinnlose Hoffnung, dass er kommen würde in dieser Nacht, zu mir, auf unsere Lichtung. Ich klammerte mich an den Gedanken, dass er mich küssen und sich entschuldigen würde. Ich würde ihm verzeihen, verstand ich doch, was mit ihm los war. Ich würde ihm alles verzeihen, wenn er mich doch nur diese Nacht in den Armen halten würde. Doch das tat er nicht. Er kam nicht, auch nicht am folgenden Tag, den ich auf der Lichtung verweilte. Ich wollte die Hoffnung nicht schon aufgeben. Wir hatten einander doch gefunden, unser Wunder war geschehen, er konnte mich doch nicht einfach so hier alleine lassen. Doch ich wusste, dass er es tat. Eigentlich hatte ich es schon lange gewusst, schon vor diesem Tag. Ich hatte gewusst, dass es irgendwann so kommen würde, ja, irgendwo hatte ich es gefühlt. Nun wollte ich es mir aber nicht eingestehen. Gegen Nachmittag jenes schmerzlichen Tages riss mich mein Handy aus meinen Alpträumen. Die Sekunde der schieren Hoffnung war nicht lang, denn ich erkannte andere Buchstaben vor meinen schwimmenden Augen. Es war nicht Ralph, sondern Nick. Er fragte, wo ich sei. Ralph hätte in der Schule so blass ausgesehen, ob wir uns gestritten hätten. Ich konnte nicht antworten darauf, stattdessen sagte ich ihm, wo er mich finden konnte und legte auf. Keine zwanzig Minuten später sank er zu mir auf den Boden und ließ mich in seinen Armen die Tränen weinen, von denen ich dachte, dass sie nicht mehr in meinem Körper vorhanden wären. „Es ist aus“, ließ ich hier nun zum ersten Mal bewusst den Gedanken an mich heran, und ich wiederholte ihn immer wieder, egal wie oft Nick versuchte, mir zu sagen, dass es das sicher nicht sei. Ich wusste es besser. Ich hatte es in Ralphs Augen gesehen, als er die anderen entdeckt hatte. Ich kannte ihn gut, und auch, wenn ich diesen Blick noch nie gesehen hatte, so verstand ich ihn zweifelsfrei. Er würde nie wieder mit mir auf dieser Lichtung sein. Jenem Tag folgte das Wochenende, worüber ich sehr froh war. Ich konnte mich nicht vorstellen, in die Schule zu gehen, wollte noch nicht mal den Weg nach Hause antreten. Also verbrachte ich die Tage zum größten Teil auf der Lichtung. Manchmal war Nick bei mir, doch ich bat ihn dann und wann, mich alleine zu lassen, weshalb er erst Stunden später wieder kam. In der Zeit, in der ich allein war, gingen mir all die Tage durch den Kopf, welche wir hier verbracht hatten, unsere Küsse und auch unser erstes Erlebnis im Raum K-551. An unser erstes Mal dachte ich am häufigsten zurück, wie zärtlich er damals gewesen war, wie leid es ihm getan hatte, dass er mir weh tat. Seit jenem Tag hatte ich das Haus in der Edinburgh Street nicht ein einziges Mal mehr besucht. Hätte ich mir sein Zimmer doch etwas genauer angesehen. Ich bereute vieles an diesen Stunden alleine. Ich bereute, dass es immer noch Fragen gab, die ich nicht gestellt hatte; bereute, dass ich ihn nicht noch viel öfter geküsst hatte; bereute die viele an Streit verschwendete Zeit. Und dazwischen fragte ich mich, ob ich noch mehr bereuen sollte. Hätte ich vielleicht damals, in der Nacht, als er mir sagte, dass wir keine Freunde sein dürften… hätte ich schon damals alles beenden sollen, was noch nicht mal begonnen hatte? Wäre es mir dann besser gegangen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder, doch beantworten wollte ich sie mir nicht, auch nicht, als ich am Montag wieder in die Schule ging. Ralph wich meinen Blicken aus, ich erkannte die dunklen Ringe unter seinen Augen. Ich machte mir Sorgen, wäre gerne zu ihm gegangen, und wusste doch, dass es nichts bringen würde, wenn ich es täte. Es würde ihn nur noch weiter von mir treiben, wenn dies überhaupt möglich war. Also ertrug ich die quälenden Minuten, konzentrierte mich auf nichts und fühlte mich schrecklich. Am schlimmsten jedoch war die Ungewissheit, wie es ihm im tiefsten Inneren ging, denn er ließ mich nicht ein Mal in seine Augen blicken. Ich fragte mich, ob er auch Dinge bereute… und ob er für die Frage, welche ich nicht beantworten konnte, eine Antwort hätte. Der Gedanke quälte mich, dass es so sein könnte. Nach einer Woche startete ich den ersten und einzigen Versuch, mit ihm zu sprechen, da ich es nicht aushielt, auf ein Zeichen seinerseits zu hoffen, welches ich eigentlich nicht mal wirklich erwartete. Ich legte ihm morgens einen Zettel in den Spind. Darauf stand nur K-551, mehr nicht. Er würde mit Sicherheit wissen, dass er von mir war, und wenn es noch einen Funken Hoffnung für uns gab, würde er kommen. Ich verbrachte letztendlich den gesamten Tag zwischen den staubigen Möbeln, deren Schreie der Erinnerungen ich kaum ertrug, und merkte, wie sich meine unmögliche Hoffnung nicht erfüllt. Ich sah zu, wie sie sich in Luft auflöste, denn er kam nicht und bestätigte die Tatsache nur erneut; Wir waren nicht für die Ewigkeit gewesen. Es dauerte zwei weitere Wochen, bis Ralph mich das erste Mal wieder direkt ansah. Es war der Tag, an dem ich auch das erste Mal Lexa seine Hand halten sah. Sie lachte neben ihm in der Raucherecke, welche er nach unserer ersten Nacht nie mehr besucht hatte. Wenigstens hatte er nicht wieder angefangen, stellte ich fest, während ich mich dazu zwang, nicht auf ihre Hände zu starren. Stattdessen beobachtete ich sein Gesicht, welches so unglücklich wirkte, als habe er alles verloren, was ihm je wichtig gewesen war. Ich wollte genau daran glauben, dass er vielleicht irgendwann aufwachen würde, begreifen, dass er einen riesigen Fehler beging, doch dann traf sich unser Blick und in seinem erkannte ich alles, was bei ihm noch übrig war. Er hatte aufgegeben. Sein Blick zeigte Abschied. Und das war er, der erste wirkliche Abschied meines Lebens, und es fühlte sich an, als habe man mir ein Stück von mir abgeschnitten. Er hatte dieses Stück aufgegeben, mich, unsere Liebe, die wir zweifelsohne geteilt hatten; er hatte den wirklichen Teil seiner selbst aufgegeben. Ich konnte nicht mehr tun, als ihm dabei zuzusehen, wie er immer weiter davon wegdriftete. Genau das tat ich, drei Wochen lang. In den Pausen beobachtete ich ihn heimlich und still; wann immer es ging, versuchte ich, einen Blick in seine Augen zu erhaschen, die leer waren, ohne Leben. Es tat weh, sie so zu sehen, denn eigentlich hatte er wunderbare, lebendige Augen. Ich hatte mich stundenlang darin verlieren können, nun wirkten sie, als würde man durch sie hindurch fallen. Zudem war sein Gesicht blass, seine Wangen wirkten farblos, egal wie sehr sie die Bräune der Sonne trugen. Wann immer ich ihn sah, schien er wie ein leeres, zerknülltes Blatt Papier, von dem alles entfernt worden war. Merkte das denn niemand sonst? Waren sie wirklich alle so blind? Ich ertrug diese Tage kaum, denn sein Schmerz fraß sich in mein Herz, doch als der letzte Schultag anbrach, der Tag, auf den wir uns beide gefreut hatten, hätte ich alles dafür gegeben, wenn sich die Situation noch Monate hingezogen hätte. Es bedeutete, ich würde Ralph nie wieder in der Schule sehen. Ich würde bald aufs College gehen und nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, ihn aus der Ferne zu beobachten, zu bewachen, aufzupassen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging. Kaum etwas anderes hatte ich getan, während die anderen von ihm und Lexa als dem Traumpaar sprachen, während ich immer wieder zu unserer Lichtung zurückging und mir erhoffte, ihn doch eines Tages dort anzutreffen. Am letzten Schultag trat ich ebenfalls jenen Weg an und als ich an diesem wunderschönen Augustabend auf die Lichtung trat, wusste ich, dass auch er hier gewesen war. Ich sank vor dem Zettel hinab, der dort lag, zusammen mit unserem Buch, der Geschichte von Alicée und Dorian. Nur drei Worte hatte er mir hinterlassen, und als ich sie sah, zerriss es mich innerlich in Stücke, viel mehr noch als alles zuvor. Sie waren so einfach, und nun, da ich sie vor mir sah, in seiner zittrigen Handschrift, verstand ich nicht, weshalb sie für mich immer zu schwer gewesen waren. In dem Augenblick, als nicht seine Stimme es war, die mir die zärtliche Botschaft überbrachte, wusste ich, dass es noch etwas ganz anderes gab, das ich mein Leben lang bereuen würde, und zwar, sie niemals gesprochen zu haben. Nie hatte er sie von mir gehört. Ob es vielleicht einen Unterschied gemacht hätte? Ich liebe dich, las ich immer wieder, nahm auch den zusammengezogene Fleck trockenen Papiers direkt daneben wahr, der sicher eine Träne gewesen war. Ich konnte Ralph vor mir sehen und ich wusste, wie zärtlich seine Augen gewesen wären, hätte er mir diese Worte zu irgendeinem anderen Zeitpunkt selbst entgegen geflüstert. In diesem Augenblick wollte ich dieses Trugbild nicht sehen. Er liebte mich. Das wusste ich schon lange. Und dennoch hatte er es nicht geschafft, sich zu mir in die Tiefe zu stürzen. Er hatte es nicht gekonnt und ich konnte nichts anderes tun, als zu akzeptieren, dass diese Worte seine letzte Botschaft an mich sein würden. An jenem Abend hoffte ich, Ralph nie wiederzusehen. Part 4 ~ Ende Epilog: Arlington High ---------------------- Ich stehe auf, nun, da er so nahe neben mir sitzt. Ich gehe ein Stück von der Bank weg, drehe mich etwas, starre wieder zu der Raucherecke hinüber. Ob sie es noch immer ist? Und ist Raum K-551 noch immer der Friedhof der alten Möbel und unserer Geschichte? „Ich habe dich auch vermisst“, sage ich, als ich mich wieder zu ihm drehe. „Ich glaube, es vergeht kaum kein Tag, an dem ich mich nicht frage, was gewesen wäre, wenn ich damals einfach vor allen auf dich zugegangen wäre und dich geküsst hätte…“ Ralph steht auf. Sein Blick zeigt Schmerz, als er zu mir tritt. Ich habe das Bedürfnis, nach seinen Händen zu greifen. Stattdessen vergrabe ich meine in meinen Hosentaschen. „Wenn du es getan hättest, ich-“ „Hättest du meine Hand genommen?“ Still liegt in der Luft, nachdem ich ihm mit meiner Unterbrechung jegliches Wort genommen habe. Seine Lippen sind einen Spalt geöffnet, seine Augen sehen unruhig in meine. Am liebsten würde er wegsehen, mit Sicherheit. Ich rechne es ihm hoch an, dass er es nicht tut. „Ich weiß es nicht“, kommt es schließlich. „Gut.“ Ich bringe ein Lächeln zustande. „Ich nämlich auch nicht.“ Ich will mich umdrehen, aber dann streckt er doch die Hand nach mir aus. Seine Finger berühren meinen Arm. „Warte noch“, bittet er leise, während meine Haut von einer Gänsehaut überzogen wird. „Weshalb?“ „Nur ein paar Minuten.“ Ich nicke und drehe mich zurück. Seine Hand verweilt am selben Ort. Sie ist so unglaublich warm. „Zehn Jahre“, spricht er dann und seine Stimme klingt rau. „Ja. Es ist eine lange Zeit.“ „Wie geht es dir heute?“ In seinen Augen ist deutlich zu sehen, wie schwer ihm diese Frage fällt. Ob er Angst davor hatte, mich heute zu treffen? Ich hatte sie nicht; eigentlich hatte ich nach all den Jahren gehofft, ihn wiederzusehen. Ich wollte sehen, dass es ihm gut geht, so wie mir. „Gut“, sage ich deshalb nun. Ich lächle ihn an, blinzle kurz zu den Fenstern unseres alten Klassenzimmers, hinüber zu dem Lachen meines Freundes, der sich dort mit den anderen austauscht. „Bist du glücklich mit ihm?“ Ich nicke aufrichtig. „Er ist ein guter Freund.“ „Das hätte heute auch ich sein können, nicht wahr?“ „Ja.“ Nun hebe ich die Hand. Im Schatten seines Körpers, von drinnen unsichtbar, berühre ich seine Fingerspitzen. „Du warst ein guter Freund. Doch anders als du zeigt er seine Liebe zu mir.“ Ralphs Finger schlingen sich um meine. Sie halten sie fest. Ich hatte ihre Hitze vergessen, ihre Beschaffenheit und Größe, selbst wenn sie heute sicherlich etwas rauer sind. Ich übertrage diese neue Erkenntnis in meine Erinnerungen. Einen winzigen Schritt mache ich auf ihn zu. „Lexa erwartet ein Baby.“ Jegliche Bewegung von mir hält sofort wieder inne. Kälte durchzieht meinen Körper, plötzlich spüre ich auch den Ring an seinem Finger, der meine Haut berührt. Plötzlich wird mir wieder bewusst, welches Leben er wählte. Keines wie ich. Ich lasse seine Hand los, nur widerwillig gibt er sie frei. „Das freut mich für dich“, sage ich, während ich zu den Fenstern hinüberblicke. Dann setze ich mich in Bewegung. „Lass uns rein gehen.“ „Aaron“, hält er mich jedoch erneut auf. Ich atme tief. Ich hätte nicht gedacht, dass es schmerzen würde, ihn meinen Namen sprechen zu hören. „Ja?“ Wieder drehe ich mich zu ihm. Plötzlich sieht er aus, als würde er jede Sekunde in Tränen ausbrechen. „Du bist stärker als ich“, stößt er aus und kommt mir näher, streckt die Hand aus, zieht sie zurück. „Ich habe dich immer bewundert. Dir ist es egal, was die anderen sagen. Wäre ich mehr wie du gewesen… hätte ich mehr... Mut gehabt… vielleicht hätten wir heute... vielleicht…“ „Ja.“ Ich unterbreche ihn, gehe auf ihn zu und schlinge meine Arme um den bebenden Körper. „Vielleicht hätten wir das. Vielleicht hätten wir glücklich sein können. Aber man weiß es nicht.“ Seine Arme legen sich nun auch um mich. Kurz erschreckt es mich, doch man kann von hier nicht mehr hinter die Fenster blicken, also können auch sie uns nicht mehr sehen. Zögernd schließe ich die Augen, fahre leise fort. „Wir wissen nicht, wie es gekommen wäre. Vielleicht hätte uns die Öffentlichkeit nicht gut getan, vielleicht hätten wir sie nicht ertragen.“ Ich lächle sanft, er kann dies nicht sehen. „Und ich bin nicht so stark, wie du denkst, Ralph. Das alles tat mehr weh, als du es dir vorstellen kannst… und die Erinnerungen quälen mich heute noch dann und wann. Aber...“ Ich seufze, drücke mich etwas von ihm weg. „Aber?“ „Aber sie quälen nicht nur. Weißt du, dein Buch steht in meinem Schrank. Es lässt mich immer daran denken, wie schön all die Tage mit dir waren, dass sie vielleicht deshalb so schön waren, weil wir sie für uns allein hatten. Manchmal denke ich an unsere Träume und Erinnerungen, und an unser Wunder… und dann frage ich mich, ob wir es zur Realität hätten machen können. Es lässt mich darüber nachdenken, dass ich vielleicht alles geändert hätte, wenn ich nur dieses eine Mal wirklich stark gewesen wäre, wenn ich zu dir gegangen wäre, und dir gesagt hätte, was ich immer sagen wollte, und heute bereue ich, dass ich es nie getan habe. Aber dennoch, heute weiß ich auch, dass es vielleicht nichts gebracht hätte. Vielleicht musste alles genau so kommen.“ In meiner Rückwärtsbewegung nehme ich die Wärme seiner Wange mit mir. Unsere letzte Berührung. Sie ist bitter süß, schöner als der kalte Abschied in diesem Laden, der sich immer in mein Gedächtnis brannte. „Glaubst du daran?“ „Ich versuche es. Ich sage mir, dass alles seinen Grund hat, und dass wir uns damals gefunden haben, um daraus zu lernen. Wir können es heute nur besser machen. Ich mit ihm und du mit deinem kleinen Baby.“ Ein Nicken, während ich in die traurigen Augen des Mannes sehe, der noch immer so viel Ähnlichkeit mit dem Jungen hat, den ich einst liebte. Auch erkenne ich wieder den winzigen braunen Punkt, von dessen Entdeckung ich ihm nie erzählt habe. Ob ihn mittlerweile noch jemand bemerkt hat? Lexa vielleicht? Ob er sie je so nah an sich heran gelassen hat, dass sie auch seine anderen Makel kennenlernen konnte? Er hätte einen solchen Menschen verdient… jemanden, der ihn festhält, ihm Kraft gibt, so nimmt wie er ist… Er sollte nicht auf ewig im Herzen alleine sein. „Werden wir uns wiedersehen?“, dringt es über seine Lippen hervor, in meine Gedanken hinein. „Vielleicht...“ Ich zucke leicht die Schultern und drehe mich um, damit er den Schmerz in meinem Blick nicht sehen kann. Für einen Moment lang kann ich ihn nicht verbergen. Ob meine Stimme es ebenfalls verrät? Auch er kannte mich einst so gut… „Das weiß man nie“, setze ich leise hinterher. Eine Sekunde warte ich, ob er etwas sagen wird, doch das tut er nicht. Stattdessen höre ich seine Schritte, als er sich zusammen mit mir in Bewegung setzt, vorbei an den Bäumen. Ich blicke zu den aufleuchtenden Fenstern hinüber, zu Lexa und zu Nick, der mir vor fünf Jahren seine Liebe gestanden hat. Nach dem College, mit den Worten, dass er zerbrechen würde, wenn er es mir nicht endlich sagte. Ich habe ihn angenommen, denn auch ich liebte ihn; anders als er mich, anders als ich Ralph; das wusste er und doch war es ihm genug. Er nahm mich so, wie ich war, vom ersten Augenblick an, und er versteckte sich nie, vor niemandem. Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden wäre, wenn damals Ralph etwas mehr Mut gehabt hätte. Wo würden wir dann stehen? In welcher Konstellation wären wir zu diesem Klassentreffen gekommen? Hätte ich vielleicht in diesem Moment Ralphs Hand gehalten? Wäre Nick noch immer mein bester Freund? Hätte ich überhaupt eine Ahnung von seinen Gefühlen? Ich weiß es nicht, und es tut manchmal weh, es nicht zu wissen, dann und wann, wenn ich mich frage, was ich mir eigentlich gewünscht habe. Ein Haus in Kalifornien? Auf Hawaii? Oder doch das Leben, wie ich es heute führe, mit allen Erinnerungen und geweinten Tränen? Keiner kann mir diese Frage beantworten. Vielleicht ist es auch gut so, denn wer weiß, ob mir die Antwort gefallen würde. So allerdings weiß ich, dass ich dies Leben leben kann. Ich kann die Erinnerungen ertragen, die Liebe, und ich genieße jeden Augenblick, so wie damals auf unserer Lichtung, als nur sie für uns wichtig war. Ich habe sie nie wieder besucht, ein paar unserer Dinge liegen wohlmöglich noch immer dort. Ralph reißt mich aus meinen Gedanken zurück, als er nun vor unserer alten Klassenzimmertür stehen bleibt, seinen Blick den Gang entlang, als könne er über die Verzweigungen hinweg den Ort sehen, an dem wir uns zum ersten Mal küssten. Ich kann mich nur noch dunkel an das Gefühl erinnern; an unseren letzten Kuss jedoch schon so gut wie gar nicht mehr. Er dreht den Kopf wieder zu mir, als er die Hand an die Klinke legt; seine Augen verschwinden in meinen und es ist, als würde wieder der Junge mich ansehen, für den ich einst alles getan hätte. Dieselben Gefühle stehen in den zärtlichen Augen; dieselben Worte, deren Handschrift sich in mein Herz gebrannt hat. Er seufzt traurig; drückt die Klinke hinab und während die ersten Töne nach draußen dringen und er seinen Blick, sein Herz wieder verschließen will, flüstere ich es ganz leise und doch so laut, dass er es hören kann; aus meinem tiefsten, verborgenen Innersten her; das, was ich nie zu ihm sagte: „Ich liebe dich auch.“ Und dann trete ich vor ihm durch die Tür, zu einem Lächeln, das mich offen empfängt, einer Hand, die sofort nach meiner greift, ohne jegliche Scheu. „Geht es dir gut?“, flüstert er mir ins Ohr und seine Wärme geht auf mich über. Ich drücke mich an seine Seite, schiele zu Lexa hinüber und zu Ralph, der sich neben sie setzt, eine Maske tragend, die er vielleicht nie ablegen wird. Ein letztes Mal erinnere ich mich an unseren ersten intensiven Blick, genau hier, in diesem Klassenzimmer. Dann küsse ich Nick zärtlich vor den Augen aller. „Ja“, lächle ich mit Ruhe in meinem Innersten. Ich habe endlich das sagen können, was mir seit zehn Jahren auf der Seele lag. „Mir geht es gut.“ Mir ging es nie besser. ENDE „Traces of the Love we left“ 13. April 2009, Rohfassung: 9:30 Uhr bis 18:40 Uhr ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Erläuterungen: 1. Da ich es gefragt wurde, Fading Snow gibt es nicht wirklich; es ist lediglich ein Buch, welches ich für diese Geschichte erschaffen habe, auch wenn die Geschichte von Dorian und Alicée bestimmt schön wäre… 2. Diese Geschichte spielte in Arlington, Texas. Die erwähnten Straßen und Orte (abgesehen von dem Klassenzimmer) gibt es dort wirklich :-) Kommentar: Vielen Dank, dass ihr diese Geschichte gelesen und so zahlreich kommentiert habt! Es freut mich wirklich immer, zu lesen, was meine Leser über meine Werke denken. Es hilft mir, mich weiterzuentwickeln, besonders Kritik, die ich ab und an bekomme. Ich möchte mich wirklich für euer Interesse bedanken und hoffe sehr, dass ihr mit dem Ausgang der Geschichte zufrieden seid. Meistens schreibe ich Happy Ends, das gebe ich zu, aber ab und an passt dies einfach nicht. Aaron und Ralph waren nicht füreinander geschaffen, es hätte nicht gepasst, wenn sie am Ende wieder zueinander gefunden hätten. Schade finde ich ein wenig, dass viele Ralph nicht wirklich mögen oder verstehen können. Ich denke, man sollte immer beide Seiten sehen. Ralph hat Fehler gemacht und er hat Aaron sehr verletzt; doch mehr als das hat er sich selbst verletzt. Ich glaube, dass es tatsächlich Menschen auf der Welt gibt, die sich wie Ralph einfach nicht trauen, zu sich selbst zu stehen… und ich finde, dass man auch diese Seite verstehen sollte, sei sie einem auch noch so fremd. Man kennt ihre Geschichten nicht, man weiß nicht, was sie erlebt haben… aber genug davon, jeder darf über Ralph denken, was er will; ich hoffe nur, dass ich gut gezeigt habe, was Aaron über ihn denkt; Aaron, meine bisher vielleicht stärkste Ich-Persönlichkeit. Ich hoffe ihr fühlt, was er für ein Mensch er ist…. Nun aber wirklich genug. Vielen Dank nochmals fürs Lesen, Kommentieren und Favorisieren. Ich freue mich riesig darüber! Das Wesen der Welt: Hierbei handelt es sich wieder um eine neue Geschichte von mir, mit etwa der Länge dieser hier. Ich hoffe sehr, dass ich in euch das Interesse wecken konnte, mehr von mir zu lesen, denn schon bald werde ich das erste Kapitel dieser Geschichte online stellen und ich würde mich wirklich riesig über euch als Leser freuen :) Ganz liebe Grüße Stiffy ^__^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)