Stille Wasser (sind tödlich) von Idris (Sam, Dean) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Who am I now? And when will I be found? What if I drown? I’m going under now... Saliva: “Going Under“ Er schwebt im Nichts. Stilles, schwarzes, kaltes Nichts. Über ihm befindet sich kilometerweise nichts als Nacht. Alles um ihn herum ist kalt und dunkel und er ist völlig regungslos. Schwerelos. Wassertropfen perlen unablässig in seine Augen und verwischen seinen Blick, verwandeln die Sterne über ihm in unscharfe, verschmierte Glitzerstreifen. Blut rauscht in seinen Ohren und sein Herzschlag ist ein fernes, dumpfes Dröhnen in seiner Brust. Jedes leise Plätschern hallt laut und metallisch in seinen Ohren. Plitsch. Plitsch. Er hält seinen Atem flach. Sie hören dich nicht, wenn du nicht atmest. Kleine Wellen schwappen über sein Gesicht und er hat die Lippen hartnäckig zusammengepresst. Nicht verschlucken. Nicht husten. Seine Kleider sind nass und schwer, vollgesaugt mit Seewasser, und ziehen ihn millimeterweise weiter und weiter nach unten. Er hat die Arme und Beine so weit wie möglich an der Wasseroberfläche ausgebreitet, genauso wie Dean es ihm irgendwann einmal gezeigt hat. Er ist ganz still. Etwas Breites, Schleimiges streift seine Hand und Sam schaudert und schließt die Augen. Nicht zusammenzucken. Nicht bewegen. Algen. Das sind nur Algen. Oder ein toter Fisch. Verwester Abfall. Stell dich nicht so an, Sammy. Das ist nichts, was dich töten kann. Nichts, was seine rasiermesserscharfen Zähne in deiner Haut versenken und dich auf den Grund des Sees ziehen kann. Zuck nur nicht zusammen. Sie sehen dich nicht, wenn du dich nicht bewegst. Wie tief ist das Wasser unter ihm? Zwei Meter? Zehn? Zwanzig? Fünfzig? Kann ein See so tief sein, dass man für immer darin verschwindet? Er ist sicher, dass seine Zähne klappern würden, wenn er seinen Kiefer nicht so fest zusammenpressen würde, dass es schmerzt. Seit zehn Minuten möchte er nichts anderes tun als nach seinem großen Bruder schreien. Aber er schweigt und rührt sich nicht, atmet ganz leise und flach und lässt sich durch das Wasser treiben wie eine Leiche. Sie jagen nur lebende Beute. *** „Sie jagen nur lebende Beute, Sammy.“ Deans faszinierter Tonfall machte klar, dass er viel zu viel Spaß an dieser Tatsache hatte. „Warum?“ „Warum? Keine Ahnung warum. Vielleicht saftigeres Fleisch oder so …“ Dean schnippte ihm mit einem Finger gegen die Stirn. „Die wollen halt, dass es noch zappelt. Du jammerst doch auch immer, wenn dein Steak zu zäh ist.“ Sam wedelte seine Hand beiseite und verzog das Gesicht. „Lass das.“ „Vielleicht mögen sie es auch nur, wenn sie eine Weile mit ihrem Essen herumspielen können.“ Sam warf seinem Bruder einen vielsagenden Blick zu. „So wie du?“ Dean sah beinah gekränkt aus. „Hey! Ich spiele nicht mit meinem Essen.“ „Du baust Ferienparks aus Gemüse, Dean. Mit Nacktbadestrand.“ Es war Sams Hobby, einfach alles an peinlichen Dingen über seinen großen Bruder zu wissen. Es war traurigerweise auch das einzige Hobby, was ihm sein Vater noch nicht weggenommen hatte. „Und wenn schon. Manche Menschen würden das als Kunst bezeichnen und jede Menge Geld damit verdienen.“ „Brüste“, sagte Sam gedehnt, „aus Kartoffelbrei.“ Dean grinste selbstgefällig. „Was im übrigen die einzigen Brüste sein werden, die du jemals zu Gesicht bekommen wirst, Samantha.“ Sam verdrehte die Augen. Irgendwann um seinen sechzehnten Geburtstag herum war eine mysteriöse Wandlung mit Dean geschehen. Von einem Tag auf den anderen hatten Frauen angefangen sich in der Gegenwart seines Bruders seltsam aufzuführen. Und Dean hatte angefangen sich in ihrer Gegenwart in einen völligen Idioten zu verwandeln. Er nannte sie nicht mehr „Beth“ und „Lisa“, sondern „Babe“ und „Schätzchen“, und er machte Dinge mit seinen Augen und seinen Lippen, die aus unerfindlichen Gründen sämtliche Mädchen in schiere Verzückung ausbrechen ließen. Sam hatte keine Ahnung, wieso. Er hatte das vor dem Badezimmerspiegel ausprobiert und er sah aus wie ein vollkommener Idiot, wenn er seine Lippen vorschob oder schräg von unten hochguckte. Seitdem war „Brüste“ ein Thema, das in Deans Gesprächen andauernd auftauchte und deren Faszination Sam noch nicht ganz für sich erschlossen hatte. Sie waren groß und wackelten. Na und? Wackelpudding wackelte auch und den gab es wenigstens in verschiedenen Farben. „Idiot“, erwiderte er in Ermangelung etwas Besserem. „Zicke.“ „Jungs.“ Dads Stimme war ganz ruhig und trotzdem bewirkte sie, dass er und Dean sich sofort grade hinsetzten und die Lippen zusammenpressten. „Konzentriert euch.“ „Ja, Sir.“ Dean nickte gehorsam und warf einen Seitenblick auf Sam, der rebellisch den Unterkiefer vorschob und erst nach einigen Sekunden ein kaum hörbares „Ja, Sir“ murmelte. „In den letzten drei Monaten sind hier sechs Menschen gestorben. Ich möchte, dass ihr das ernst nehmt.“ „Natürlich, Sir.“ Dean sah betreten aus und vergrub den Kopf erneut in dem Buch, das Bobby ihnen besorgt hatte. Das schummerige Lampenlicht glänzte auf seinen Haaren. Und Sam hatte das dumpfe Gefühl, dass das schon wieder kein guter Augenblick war, um auf seine anstehende Klausurenwoche zu sprechen zu kommen. Es war nie ein guter Augenblick. Nie war irgendetwas wichtiger als Leben zu retten, und manchmal konnte er es einfach nicht mehr hören. Er senkte den Kopf, um dem forschenden Blick seines Vaters auszuweichen. *** Ich bin ein Stück Holz, meditiert Sam. Ich bin nur ein Stück Holz. Leblos, tot, völlig belanglos. Ich treibe völlig harmlos an der Oberfläche. Ich bin keine Beute. Ich bin nur ein Stück Holz. Wie weit ist es bis zum Ufer? Sicher nur ein paar Meter. Vielleicht zwanzig. Vielleicht mehr. Es ist so schwer Entfernung über das Wasser abzuschätzen. Er kann das Ufer beinah sehen aus den Augenwinkeln. Wenn er den Kopf nur drehen könnte, nur ein winziges bisschen. Aber wozu? Sogar wenn er es sehen würde und es weniger als zehn Meter entfernt wäre … Du darfst dich nicht bewegen, Sammy. Versuch nicht zu schwimmen, egal wie nah es ist. Denk nicht, dass du es jemals ans Ufer schaffst. Sei ganz still. Egal, was passiert, beweg dich nicht oder du bist tot. „…am! SAM?“ „Sammy!“ Hin und wieder hört er ihre Stimmen. Sie sind weit weg und verschwommen durch das Wasser in seinen Ohren, blenden ein und aus wie eine schlecht eingestellte Radiofrequenz. Er muss sich auf die Unterlippe beißen, um nicht zu antworten; und er beißt so fest, dass es blutet. Ab und zu sieht er Lichtkegel, die in seine Richtung wandern, aber jedes Mal gleiten sie an ihm vorbei. Das sind Dean und Dad. Sie sind nah und fern und so unendlich weit weg. Und er ist ein Stück Holz, er ist nur ein Stück Holz, ein winziges Stück Treibholz in einem riesigen, schwarzen See und sie werden ihn niemals finden … Das gewalttätige Zittern, das durch seinen Körper läuft, lässt das Wasser um ihn herum erbeben. Atmen, Sam, tief durchatmen. Aber nicht zu tief. September in Wisconsin bedeutet, dass die Nächte so kalt sind wie November. Das Wasser ist eisig. Er kann seine Beine nicht mehr spüren und sekundenlang hat er die irrationale Angst, dass sie längst ihre Zähne in seinen Knöcheln versenkt haben, ohne dass er es mitgekriegt hat, und ihn jeden Moment nach unten zerren. Er macht die Augen zu und schaudert. Atmen, ganz ruhig atmen. Behalt die Nerven, Sammy. Nicht zucken, nicht bewegen. Nicht hyperventilieren. Halt durch. Du kannst das. Es ist komisch, dass die beruhigende Stimme in seinem Kopf immer den Tonfall seines Bruders hat. Nicht, dass er das jemals zugeben würde. Langsam zwingt er seine Augen wieder auf. Er darf jetzt nicht vor sich hindösen. Panisches Adrenalin, das durch seine Adern pumpt, ist vielleicht das einzige, was ihn bei Bewusstsein hält. Wenn er einschläft, ist es aus und vorbei. Als es diesmal feucht über sein Gesicht tropft und sein Blick verschwimmt, ist er nicht sicher, ob es Seewasser ist. Nachträglich wünscht er sich, er hätte Dad besser zugehört. Nachträglich wünscht er sich, er wäre nicht so sauer gewesen. Nachträglich wünscht er sich eine Menge Dinge. *** „Aber das ist wie Arielle! Killer!Arielle mit einer Bazooka! Das ist besser als Kino! Das willst du nicht verpassen. Ich meine, komm schon … menschenfressende Psycho-Meerjungfrauen. Wahnsinn.“ Deans Augen waren groß und bettelten, aber sein Tonfall klang nicht aufgesetzt, sondern aufrichtig begeistert. Manchmal machte Sam sich wirklich Sorgen um seinen Bruder. „Da~ad“, wiederholte er und vermied den Blick auf Deans Gesicht, weil er genau wusste, wie sein Lächeln auseinanderfiel, wenn Sam ihn ignorierte. Aber es ging hier nicht um Dean. Und er würde anfangen, das zu glauben, wenn er es nur oft genug wiederholte. „Die Antwort lautet nein, Sam.“ Die Messer klirrten leise, während Dad sie auf ihre Schärfe überprüfte, und hin und wieder Deans eins zum Nachschleifen reichte. Er sah nicht einmal auf. „Aber das ist nicht FAIR.“ „Die Diskussion ist beendet, Sam.“ Diskussion? Was für eine Diskussion? Als ob es jemals irgendetwas zu diskutieren gab! Als ob sein Vater jemals zuließ, dass irgendetwas diskutiert wurde! Sam spürte Wut in sich hochsprudeln wie heiße Lava und sekundenlang wollte er seinem Vater das verdammte Poliermittel aus der Hand reißen und gegen die Wand schleudern. Manchmal machte Dad ihn so wütend … „Sammy, komm her. Lass uns …“ Er spürte Deans Hand auf seinem Arm und riss sich ruckartig los. Er wollte sich jetzt nicht ablenken und beruhigen lassen wie ein kleines Kind. „Wieso kann ich nicht hier bleiben und für Mathe lernen?! Wieso sind die Dinge, die ich will, immer so unwichtig, dass du nicht einmal darüber nachdenken kannst?!“ Seine Stimme brach und überschlug sich, und er hasste, hasste, hasste seinen Stimmbruch in diesem Moment so sehr; er spürte es beinah körperlich. Das Geräusch, als sein Vater das Messer auf den Tisch fallen ließ, war lauter als erwartet, und Sam zuckte unwillkürlich zusammen. „Es geht hier um Menschenleben, Sam. Nicht um die Note in einer Mathearbeit.“ Dads Stimme war tief und grollend und nachhallender als jedes Brüllen. Und natürlich – natürlich – kam er wieder mit seinem Todschlagargument, mit dem immer alle Diskussionen im Hause Winchester im Keim erstickt wurden. Tu was ich sage oder Menschen sterben. Es ist egal, was du möchtest. Menschen sterben. Die Wünsche für dein eigenes Leben sind nicht so wichtig. Menschen sterben. „Ich weiß das, Dad! Aber wieso können du und Dean das nicht alleine machen?! Wieso müssen wir zu dritt sein …für Meerjungfrauen?!“ Er hatte nie darum gebeten, das zu machen. Er hatte nie darum gebeten, dabei zu sein. Und wie soll er jemals, jemals aus diesem beschissenen Leben aussteigen, wenn er nicht einmal die achte Klasse bestehen würde. Wie sollte er jemals eine Wahl haben, wenn er keinen Schulabschluss hatte? „Dad, er hat Recht.“ Dean war aufgestanden und neben seinen Vater getreten. „Wir schaffen das auch alleine. Wir könnten …“ „Das ist keine Diskussionsfrage, Sam. Das ist ein Befehl.“ Dads Augen bohrten sich in sein Gesicht und er ignorierte Dean genauso wie Sam zuvor. Seine Stimme war schneidend. Aus den Augenwinkeln sah Sam Deans unglückliches Gesicht. „Und jetzt geh und pack deine Sachen.“ Sam war so wütend, dass er beinah vibrierte, und seine Kehle war so zugeschnürt, dass er reflexartig schluckte. Selbst wenn er Worte gehabt hätte, hätte er keins davon hinausgebracht. „Aber könnte er nicht …?“ „Dean.“ Dads Stimme war eisig. „Halt dich da raus.“ Dean schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch in einer unbewussten, unbehaglichen Geste. Seine Augen flackerten zwischen Sam und Dad hin und her. „Ja, Sir.“ „Pack deine Sachen, Sam. Und bring mich nicht dazu, es zum dritten Mal zu sagen.“ Und einmal, ein einziges Mal nur wollte Sam sich durchsetzen und gewinnen und mit seinem Leben etwas anstellen, das Dad nicht für ihn geplant hatte. Aber er senkte den Kopf und atmete tief ein. „Jawohl, Sir“, spuckte er aus, und es war volle Absicht, dass das ‚Sir’ klingt wie eine Beleidigung. *** Etwas streift seinen Arm und Sam erstarrt. Er spürt, wie sein Puls in die Höhe schnellt, und wie sein Herz inne hält und in seiner Brust strauchelt. Nein. Nein. Nein. Nicht bewegen. Nicht atmen. Er zählt innerlich bis zwanzig und stolpert über die Zahlen. Ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz … Es ist zuckend und schnell, zu schnell, um etwas Totes zu sein. Es streift erneut seinen Arm, pulsierend und schuppig, wie etwas Lebendiges, Atmendes, Tödliches. Er kann die Bewegung des aufgewühlten Wassers spüren, als sie unter ihm hindurch gleiten. Der Schrei steckt in seiner Kehle fest, rau und schmerzhaft wie Metallsplitter. Als er auf seine Lippen beißt, schmeckt er Blut. Halt die Klappe, sei still, Sam, sei still. Es sind nicht die nadelspitzen Zähne, vor denen er am meisten Angst hat. Sie töten sie nicht sofort. Sie ziehen ihre Opfer nach unten, immer tiefer … bis auf den Grund des Sees. Er spürt es überall im Wasser, unter sich und um sich herum. Aufgeladen wie Elektrizität. Wie ein Fischschwarm, glitzernd und pulsierend. Er fragt sich, wie viele es sind. Vielleicht drei oder vier … oder zehn … Auf Beutejagd. Seine Finger zittern. Er möchte die Hände zu Fäusten ballen und kann nicht, darf nicht. Und er hat solche Angst vor der Dunkelheit unter der Oberfläche. ^Fortsetzung folgt^ Anmerkung: Wie man merkt, versuche ich mich nicht allzu oft an "spannenden" Sachen. Mein Gebiet ist eher Kitsch und Drama (keine Angst, das kommt auch noch massenweise ;P). Deswegen bin ich noch viel am Üben und ausprobieren und sehr auf eure Meinung angewiesen - seid so liebt und lasst mich wissen, wie ihr es findet. =) Kapitel 2: ----------- „Dad ist gleich zurück“, sagte Dean. Er wippte auf seinen Fußballen hin und her. „Wir fahren raus auf den See, ködern die kleinen Pestbeulen hervor und wham-bam, thank you Ma’am, fertig, aus, erledigt. Fischstäbchen.“ Sam schwieg. „Es wird ganz schnell gehen, okay? Kein Ding. Sam?“ Dean seufzte. „Hör zu, ich verstehe ja, dass du sauer bist …“ „Was verstehst du schon?“, fauchte Sam, leise und wütend. „Du hast doch Spaß an der ganzen Sache!“ Manchmal fragte er sich, ob er nur versehentlich in dieser Familie gelandet war. Ob das ganze vielleicht nur ein riesiges, gigantisches Missverständnis war. Vielleicht gehörte er gar nicht hierher. Vielleicht war seine wirkliche Familie irgendwo da draußen … in einem richtigen Haus … mit einem Gartenzaun und einem Hund namens Rover … und vielleicht waren sie auch mal stolz auf ihn, wenn er eine gute Note nach Hause brachte und nicht nur, wenn er es schaffte, ein Grab in weniger als einer halben Stunde zuzuschaufeln. Manchmal fragte er sich, ob es zu spät war, sein Leben gegen ein neues umzutauschen. Vielleicht hatte er längst eine Frist verpasst. Sam Winchester, 13 Jahre, sucht neues Leben. Tausche gegen ALLES, ohne Monsterjagen. Ihm war kalt und er zerrte die Jacke enger um sich. Sie war zu klein, wie alles, was er besaß. Er wuchs aus all seinen Sachen schneller heraus als Dad sie nachkaufen konnte. Nie war Geld da für Jeans, die lang genug waren, und Schuhe, die nicht vorne und hinten drückten. Nie war Geld für irgendetwas anderes da als neue, tolle Waffen und antike Bücher und Benzin. „Ist dir kalt?“, fragte Dean leise, als er erneut zitterte. „Willst du meine Jacke?“ Sam schüttelte störrisch den Kopf und wandte sich ab. Irgendwo tief drin wusste er, dass er unfair war. Dean hatte nichts gemacht. Aber vielleicht war es genau das, was ihn so wütend machte. Dean hatte NICHTS gemacht. Dean machte nie etwas. Dean war nie auf seiner Seite. Er behauptete, er war auch nicht auf Dads, aber das war Blödsinn. Manchmal fühlte Sam sich, als ob er schon sein ganzes Leben lang immer gegen eine Wand redete. Von der Erhöhung aus hatte man einen Blick über den ganzen See. Unter ihm ging es wenige Meter steil nach unten. Das Wasser zu seinen Füßen sah aus wie ein riesiges, totes, schwarzes Loch, düster und bedrohlich, und es hatte nichts Beschauliches an sich. Das Gras unter seinen Füßen war nass und glitschig von dem konstanten Nieselregen und Sam schauderte unwillkürlich. Ganz ehrlich … wen auch immer es hierher verschlug, der war doch irgendwie selber schuld, wenn ihn Bazooka!Arielle zum Frühstück verspeiste. „Ich weiß echt nicht, wieso du so versessen darauf bist, eine Mathlet zu werden“, sagte Dean beiläufig, als ob Sam ihn nicht grade angezickt hätte. „Aber wenn du willst, stehe ich morgen einfach mit dir auf und wir können uns zusammen an die Aufgaben setzen. Zu zweit kriegen wir es sicher …“ „Was hast DU schon für eine Ahnung von Mathe? Du bist doch schon seit der dritten Klasse nicht mehr mitgekommen!“ In derselben Sekunde, in der es ihm herausrutschte, wünschte Sam sich schon, er könnte es wieder zurücknehmen. Sogar in der Dunkelheit konnte Sam sehen, wie Deans Lippen weiß wurden, als er sie zusammenpresste. „Dean, ich …“ Schuldbewusst wich er einen Schritt zurück. „Sam …“ „Ich wollte nicht …“ „Sam, bleib stehen!“ Deans Stimme hatte einen scharfen Unterton angenommen und Sam zuckte unwillkürlich zusammen. „Was …?“ Und dann rutschten seine Füße unter ihm weg. „Pass auf! SAM!“ Es war zu spät. Sam verlor den Halt auf dem schlüpfrigen Gras und ruderte hilflos mit den Armen. Dean machte einen Satz nach vorne, aber seine Hand griff ins Leere. Das letzte, was Sam sah, bevor er fiel, war sein entsetztes Gesicht und seine weit aufgerissenen Augen. Schwindelerregend schnell purzelte er den kleinen Abhang hinunter. Erde und Himmel und Bäume drehten sich über ihm. Es war kein langer Weg; vermutlich passierte ihm nichts, außer ein paar Kratzern und blauen Flecken … Das Wasser war so kalt, dass es ihm den Atem raubte. Die Strömung am Ufer riss ihn rücksichtlos mit sich, zerrte ihn weiter in die Mitte des Sees. Er stieß mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche, schnappte hektisch nach Luft und wollte reflexartig anfangen zu strampeln. „Sam! SAMMY!“ Deans Stimme klang ewig weit entfernt. Er japste nach Luft. Wassertropfen spritzten rechts und links, als er den Kopf hochriss. „D-…!“ „Sei still! Nicht bewegen!“ Er klang so panisch, dass Sam erstarrte und reflexartig die Lippen zusammenpresste. Dads ‚autoritäre‘ Stimme erzielte immer nur die Wirkung, dass Sam ihm umgehend widersprechen wollte. Aber nicht Dean. Sich Deans autoritärer Stimme zu entziehen war unmöglich. „Nicht strampeln, hörst du? Ich hole dich da raus, Sam! Beweg dich nicht!“ Dann war Dean verschwunden und Sam war allein. Der See war schwarz und kalt … und das Wasser bewegte sich unter ihm … *** Sam atmet nicht. Sam rührt sich nicht. Sein ganzer Körper ist starr vor Schreck und vielleicht vor Kälte; und alles, was er spürt, sind die zuckenden Leiber, die an ihm vorbeigleiten. Zu groß, zu schnell für Fische. Viel zu aggressiv, zu systematisch. Sie sind nicht wie Arielle, echot die tiefe, grollende Stimme seines Vaters in seinem Kopf, ernst und missbilligend. Das ist kein Scherz, Dean. Das sind Jäger. Wie haben sie ihn gefunden? Hat er sich irgendwie verraten? Der See ist so groß … Hat er sich bewegt? Sein Herz hämmert wie ein Schlagbohrer gegen seine Rippen, so laut, dass er sicher ist, dass sie es hören können unter Wasser. Sie gleiten an ihm vorbei und unter ihm hindurch, schuppig und rau, stupsen ihn probeweise an. Schauer laufen über seine Haut. Seine Finger zucken und er muss sich mit Gewalt davon abhalten, sich zusammenzurollen wie ein verängstigtes Tier. Er weiß, was sie machen. Sie versuchen herauszufinden, ob er Beute ist. Er schließt die Augen und denkt verzweifelt: Ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bineinStückHolzichbineinStückHolzeinStückHolzeinStückDeanDeanDeanDeanDeanDeanDean… „SAM! SA~MMY!“ Nur Dean hat die Fähigkeit (und die Lungenkapazität), seinen Namen so zu brüllen. Laut und lang gezogen und raumgreifend, als besteht er aus fünf Silben. Dad hat längst aufgegeben zu rufen, vermutlich weil ihm klar ist, dass Sam nicht antworten kann, nicht antworten darf, so sehr er das auch möchte. Aber nicht Dean. Niemals Dean. Seine Stimme klingt rau und verzweifelt, so als würde er platzen, wenn er nicht irgendetwas tun kann. Und wenn es nur so etwas Sinnloses ist, wie Sams Namen zu rufen, ohne eine Antwort zu bekommen. „Sammy!“ Nur, dass es nicht sinnlos ist, weil Deans Stimme das einzige ist, was Sam dazu bringt, durchzuhalten. Sei ganz still, beweg dich nicht, atme weiter. Sie kommen. Dean kommt. Sie kommen und finden ihn. Bestimmt. Ein Lichtkegel streift wenige Zentimeter an ihm vorbei, und Sam möchte schreien vor lauter Frust. Er will ihre Namen brüllen, er will strampeln und er will Wellen machen, so hoch, dass sie ihn endlich sehen können. Er ist hier, er ist doch hier und sie sind unter ihm und er ist kein Stück Holz; er ist verrückt vor Angst und bitte, Dean, bitte, es tut mir leid, komm zurück, ich hab es nicht so gemeint, bitte … „DA! ZURÜCK! Dad! Geh zurück!“ Der Lichtkegel gleitet zurück, langsamer diesmal. Sam hält die Luft an und spürt, wie die Meerjungfrauen unter ihm ebenfalls still halten. Sie lauschen, warten und hoffen darauf, dass er Beute ist. Atemlos starrt er in den schwarzen Nachthimmel. Finde mich, Dean, stammelt er innerlich. Bitte, bitte finde mich. „DAD! Da drüben! Er ist da drüben! SAMMY!“ Zwei Sekunden später wird er in grelles, weißes Licht getaucht. Es schmerzt und macht ihn beinah blind. Er presst die Augen zu. Weiße Lichtblitze brennen auf seiner Retina und seine Gliedmaßen zucken reflexartig zusammen. Shit, denkt er atemlos. Oh Shit. Unter ihm startet hektische Bewegung. Nein. Er ist starr vor Entsetzen. Nein, nein, nein … „Geht weg von ihm! Kommt hierher, ihr widerlichen, schleimigen Mistbiester!“, brüllt Dean. „HIER ist die Beute! Los, versucht doch, mich zu holen, ihr Schlappschwänze! Ich verarbeite euch zu Fischstäbchen!“ Sam hört wildes Platschen und spürt die Wellen, die ihn überspülen, als das Boot näherkommt und Dean mehr Lärm, mehr Wellen, mehr Bewegung macht. Sie jagen alles, was sich bewegt. Wasser schwappt über sein Gesicht und er hält die Luft an, presst die Lippen fest zusammen. Nicht husten, nicht verschlucken, bitte nicht … Zuckende, schuppige Leiber streifen seine Arme und Hände und seinen Nacken, und er wagt nicht einmal zu atmen. Er ist nur Holz, Holz, Holz … „Gib mir die Fackeln!“ Dads Stimme. Eine weitere Welle überschwemmt ihn und sekundenlang ist er taub und blind. Er hält die Luft an und wagt es nicht zu strampeln, auch als ihm die Luft ausgeht unter Wasser. Keuchend kommt er an die Oberfläche. „… ab! Du holst deinen Bruder!“ „…-am! Sam!“ Er taucht auf und ab, und der heftige Wellengang macht es schwierig zu atmen. Wasser dringt in seine Augen, seinen Mund und seine Nase. Er verschluckt sich, und der Hustenkrampf ist so stark, dass es in seiner Lunge brennt. Etwas ringelt sich um seinen Knöchel, fest und glitschig wie ein Krakenarm, und sekundenlang sieht er es bildlich vor sich. Wie sie ihn packen und ihre rasiermesserscharfen Zähne in ihm verbeißen und ihn nach unten ziehen, immer tiefer und tiefer. Dahin, wo es nur noch schwarz und still ist und kein Licht mehr hinkommt, und wie ihm langsam die Luft ausgeht und seine Lungenbläschen beginnen zu platzen und … „Sie ziehen ihn nach unten! Beeil dich, Dad!“ Er blinzelt heftig gegen den Schleier über seinen Augen. Das Licht ist näher und greller als zuvor, Schatten bewegen sich über ihn, und endlich, endlich verkrallen sich große, starke Hände in seinem T-Shirt und reißen ihn ruckartig nach oben. Halbblind krallt Sam taube Finger in Stoff, Haut und Haare, in alles, was er von seinem Bruder zu fassen bekommt. „Dean …“ „Ich hab dich, Sam, ich hab dich.“ Dean zerrt ihn an sich und schlingt die Arme um ihn. Er zittert am ganzen Körper und seine Stimme überschlägt sich. „Es ist okay. Ich habe dich.“ Sam gibt ein leises, gutturales Geräusch von sich und klammert sich an ihn. Dean versucht ihn über den Rand des Bootes zu hieven, aber Sams Kleider sind randvoll gesogen mit Wasser und schwer wie Beton, so dass sie ihn nach unten ziehen. Sam möchte helfen und er weiß, er sollte strampeln und sich hochwuchten, aber seine ganze Kraft geht dabei drauf, sich an Dean festzuklammern. Das Boot schwankt bedrohlich. Etwas zerrt ruckartig an seinem Knöchel und er gibt ein helles, panisches Geräusch von sich, krallt die Hände in Deans Jacke fest. „DAD!“, brüllt Dean und verstärkt seinen Griff um Sam. „Ich hab dich!“, murmelt er atemlos und entschlossen. „Es ist alles gut, ich hab dich. Ich lass dich nicht los.“ „Halt ihn fest.“ Dads Stimme ist tief und grollend. Das Boot schwankt. Irgendetwas zischt neben Sam und weißglühendes Licht blendet ihn. Er vergräbt sein Gesicht in Deans Pullover und spürt, wie Dean eine Hand auf seinen Hinterkopf legt und ihn beschützend an sich zieht. Er hört das Zischen, als Dad die Magnesiumfackeln ins Wasser steckt, und direkt danach ein schrilles, gedämpftes Geräusch unter Wasser, das in den Ohren schmerzt. Der Griff um seinen Knöchel wird fester und er kann beinah spüren, wie sich lange, fiese Nägel durch sein Hosenbein und seine Socken in seine Haut bohren. Es gibt einen Ruck und er verliert den Halt. Seine tauben Finger rutschen aus Deans Jacke und er prallt mit den Rippen so heftig auf den Bootsrumpf, dass seine Zähne schmerzhaft zusammenklappen. „Nein! Nein!“ Deans Hände umklammern ihn so fest, dass es wehtut. „Das könnt ihr vergessen! Lasst ihn los! Ich trete euch in euren schuppigen, kleinen Arsch!“ „Dean …“ „Hab keine Angst. Dir passiert nichts, Sam, ich verspreche es. Ich passe auf dich auf, ich lasse nicht los.“ Deans Atem ist erhitzt und stoßweise an seinem Ohr, aber seine Stimme ist fest und entschlossen. „Dad!“ Dad flucht. „Ich komme nicht dicht genug an sie heran, ohne Sam zu treffen.“ „Die Fackel, gib sie mir!“ „Dean, pass auf!“ Danach passiert alles so schnell, als hätte jemand auf Zeitraffer gedrückt. Es gibt einen erneuten Ruck. Sam fällt. Dads Mund bewegt sich, aber Sam hört die Worte nicht mehr. Er fällt unaufhaltsam, aber Dean hat versprochen, dass er ihn nicht los lässt. Ich hab dich, Sam, ich passe auf dich auf. Und Dean bricht niemals seine Versprechen. Sein Bruder stürzt hinter ihm her. In letzter Sekunde reißt er eine Hand von Sams Rücken und zerrt die Magnesiumfackel aus Dads ausgestreckter Hand. Eisiges Wasser schlägt über Sams Kopf zusammen, bevor er nach Luft schnappen kann. Unter Wasser ist es dunkel und kalt. Sein Knöchel schmerzt. Blut pulsiert in seinen Ohren und er streckt die Hand aus, greift blindlings nach seinem Bruder. Dean zieht ihn zu sich. Zuckende, flirrende Schatten umkreisen sie, zu schnell und zu unscharf, um sie genau zu erkennen. Beute. Sie umkreisen ihre Beute. Etwas schnappt nach seinem Gesicht und Sam sieht rasiermesserscharfe Zähne vor seinen Augen. Er zuckt heftig zurück. Die Magnesiumfackel zischt an ihm vorbei, als Dean damit zustößt. Der Schrei, als er etwas erwischt, klingt schrill und metallisch. Er ist laut und schmerzt in den Ohren. Dean schreit nicht. Dean gibt keinen Laut von sich, als sie nach ihm schnappen. Sam sieht, wie er sich zusammenkrümmt. Das Wasser vor ihm färbt sich rot. Sam schreit auf und Deans bleiches Gesicht verschwindet hinter einem Schwung Luftblasen. Seine Hände klammern sich kurz und heftig in Sams Pullover, bevor er ihn nach oben schiebt. Andere Hände packen seine Arme und zerren ihn nach oben. Er durchbricht die Wasseroberfläche und schnappt nach Luft. Panisch wirbelt sein Kopf herum. Dean ist nicht da. Dean ist NICHT DA. „Dad, du musst ihm helfen! Dean ist …“ „Sam.“ Dads Hände sind groß und starr, wie Schraubstöcke um seine Oberarme, und halten ihn fest. „DAD! Lass mich los! Lass mich los! Dean! Nein!“ Er strampelt und tritt ins Wasser und schlägt um sich. Er ist kein Stück Holz. Er ist kein Stück Holz, verdammt. Er ist Deans kleiner Bruder und Dean ist verletzt und er ist da unten! „Ich bin hier! Lasst ihn in Ruhe! DEAN!“ „Sam, hör auf.“ Unsanft zerrt Dad ihn über die Reling. Sam landet auf den nassen Planken und sämtliche seiner Knochen klacken schmerzhaft aufeinander. Seine Hand landet Zentimeter entfernt von scharfen Klingen und anderen Waffen. Rasselnder Hustenreiz sitzt in seiner Kehle. Dad kniet neben ihm, eine Hand immer noch auf Sams Schulter. Er atmet schwer. „Bist du verletzt?“ „Nein!“ Sam schüttelt betäubt den Kopf. „Dad, Dean … wir müssen …“ „Ich mache das“, grollt Dad. „Bleib sitzen.“ Nein. Nein! Sam strauchelt und rutscht auf den nassen Planken. Mit spaghettiweichen Beinen stürzt er zurück neben Dad an den Rand des Bootes. Dad ist so tief nach vorne gebeugt, dass Sam sekundenlang den Impuls unterdrücken muss, ihn festzuhalten, damit er nicht auch noch fällt. „Dad …“ Seine Stimme stolpert. Es ist alles gut, ich hab dich. Dir passiert nichts, Sam. Ich passe auf dich auf. Und wer passt auf Dean auf …? Was ist, wenn er nicht wieder hochkommt? Und gleich darauf die Antwort. Er würde zurückspringen für Dean ... ^Fortsetzung folgt^ Kapitel 3: ----------- Vorwort. Vielen Dank an , , , , , und für die Kommentare! ^___^ Und viel Spaß mit dem letzten Teil. Fühlt euch gewarnt - es ist so kitschig, dass es trieft. (Aber ich fand, nach der ganzen Angst, hatten sie das verdient.) ~*~ Grauenhafte Sekunden lang passiert nichts. Nur das Wasser flirrt und leuchtet unter ihnen. Sam hat Star Wars-Visionen von Lichtschwertkämpfen und Darth Vader. Ich bin dein Vater, [strike]Luke[/strike] Sam. Er fragt sich, ob das der Schock ist, der langsam einsetzt. „DAD! Da!“ Endlich. Deans dunkler Schopf durchbricht die Wasseroberfläche wie ein Delphin. Wassertropfen spritzen links und rechts und er japst nach Luft. Er hat die Fackel verloren und seine Hände klammern sich an Dads Armen fest. „Verdammte … Mistbiester …“, hustet er. Und dann: „Sam?“ „Ich bin hier. Dad, er ist verletzt!“, stößt Sam hervor. „Sie haben ihn erwischt. Er blutet!“ Er packt Deans Jacke, um Dad zu helfen ihn nach oben zu ziehen. Seine Finger sind vollkommen taub und durchgefroren und seine Hilfe ist vermutlich gleich Null, aber es ist egal. „Dean?“ Dads Gesicht ist fahl in der Dämmerung. Die Linien in seinem Gesicht tiefer als sonst. Dean schüttelt halbherzig den Kopf, während er sich hochzieht. Er keucht: „Kratzer …“. Etwas schlängelt sich über seinen Rücken. Es ist grau und glänzend wie ein schuppiger Arm. Dean schaudert und presst die Augen zusammen, und über dem ganzen Lärm und dem Rauschen in seinen Ohren hört Sam ihn aufstöhnen. Sie beißen sich an ihm fest, realisiert er. Sie ziehen ihn nach unten. „Zieh mich hoch …! Dad!“ Sams Herz hämmert. Dad braucht beide Hände, um Dean oben zu halten. Er balanciert gefährlich dicht an der Reling und sein Gesicht ist rot und verzerrt vor Anstrengung. Deans Hände klammern sich an ihm fest und Sam … Sam ist der einzige, der etwas tun kann. Es ist alles gut, ich hab dich. Dir passiert nichts, Sam. Ich passe auf dich auf. Er hat das Messer so oft gehalten, dass seine Hand sich beinah automatisch um den Griff schließt. Er hat so oft mit diesem Messer geübt, Stunden und Stunden, sowohl mit Dean als auch mit Dad. Er hat jede einzelne Übungsstunde gehasst, aber die Bewegung ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Dean gibt ein leises schmerzhaftes Geräusch von sich und Sam stürzt nach vorne. „Nein …!“ Es ist kein Kampfschrei, sondern nur ein Flüstern, das untergeht in dem Lärm und dem tosenden Wasser. „SAM!“ „Sammy …“ Das Messer versinkt in schuppiger Haut. Er stößt wieder und wieder zu. Ihr Blut sieht schwarz aus in der Dunkelheit, aber es könnte auch grün sein oder blau. Es ist egal. Es ist ihm egal. Sie sollen nur Dean loslassen. Ihr metallisches Schreien hallt in seinen Ohren. Und die schillernden Arme verschwinden, sacken wie totes Fleisch zurück unter die Oberfläche. Deans Augen sind riesig und dunkel in seinem weißen Gesicht. Wasser tropft über Sams Gesicht und er starrt zurück. Er lässt das Messer fallen und es landet mit einem Scheppern auf dem Boden. Hat er es getötet? Ist es tot? Das schlimmste Gefühl von allen ist, wie egal ihm das ist … Dean greift nach Sams Hand. Mit Dads Hilfe stürzt er über die Reling und sein Schwung reißt Sam mit sich zu Boden. Sam landet unter ihm, schlapp und kraftlos wie ein nasser Sack. Dean Hände sind in Sams nasser Jacke vergraben und er drückt ihn so fest an sich, dass Sams Rippen schmerzen. „Dean …“ Sam weiß, dass er klingt, als würde er heulen, aber das ist nur der verdammte Stimmbruch, der ihn immer kratzig und quietschend zugleich macht. Hat er grade eine Meerjungfrau getötet? Dean murmelt atemlos „Ich hab dich“ und „Es ist okay, es ist alles gut“ über und über, immer wieder, vielleicht genauso sehr um seinetwillen wie um Sams Willen. Seine Hände fahren fahrig über Sams Rücken und seine Haare. Er zittert so heftig, dass seine Zähne klappern. Sam drückt genauso fest zurück. „Es tut mir leid“, flüstert er, weil es das ist, was er schon die ganze Zeit sagen wollte. „Dean!“ Das ist Dads Kommando-Tonfall, militärisch und knapp. „Wo bist du verletzt?“ Dean schüttelt ungeduldig den Kopf. „Ich bin okay. Nur ein Kratzer …“ Sam gibt ein leises, protestierendes Geräusch von sich, als Dean vorsichtig beginnt, seine Finger aus dem Stoff zu lösen. „Sam, Sam …“ Deans Hände sind warm und groß und sicher, als er Sams Gesicht umrahmt. Nur seine Stimme ist scharf und stolpert atemlos über die Silben. „Sammy, sieh mich an. Bist du verletzt? Haben sie dich irgendwo erwischt? Hast du Wasser geschluckt?“ Sam schüttelt den Kopf, auch wenn er nicht einmal sicher ist, dass er es im Augenblick überhaupt spüren würde, wenn sein Fuß halb abgenagt wäre. „Bist du sicher?“ Er nickt so heftig, dass seine Zähne aufeinanderschlagen. Dean ist da, alles ist gut. Knochenlos und durchgefroren fällt er in Deans Arme, als dieser die Hände sinken lässt. Dean zieht ihn zurück an sich. „Sam.“ Dads Stimme ist scharf und abgehackt, seltsam atemlos. Er klingt erleichtert und gepresst und wie ein Befehl, alles auf einmal. Sam spürt seine Hand, groß und ausgebreitet auf dem Rücken. Und dann: „Sammy.“ Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass sein Dad ihn so genannt hat, und zu seiner eigenen Überraschung spürt Sam, wie seine Augen beginnen zu brennen. „Dad …“ Er verschluckt sich und vergräbt das Gesicht an Deans Schulter. Es ist alles und nichts, aber mehr bekommt er nicht heraus. Es ist so leicht, Dad zu hassen und ihm alles übelzunehmen, was er je gesagt oder getan hat. Und es ist so viel schwieriger, ihm auch nur einmal für etwas zu verzeihen. Dads Hand verweilt sekundenlang auf seinem Rücken, bevor sie kurz und heftig über seinen Hinterkopf und seine feuchten Haare fährt. „Hol ihn aus den nassen Sachen“, befiehlt er leise und seine Stimme ist tiefer und rauer als sonst. Er klingt erschöpft und wie ein Vater, und ausnahmsweise nicht wie ein Marinesoldat. Dean nickt und beginnt mit einer Hand ungeschickt Sams durchweichte Jacke über seine Schultern zu ziehen, während er die andere weiterhin benutzt, um ihn so dicht wie möglich bei sich zu halten. „Dean? Sam?“ Dean hält inne. „Sir?“ „Gute Arbeit, Jungs.“ Sam kann beinah spüren, wie das Zittern in Dean nachlässt. „Danke … Dad.“ *** Drei Stunden später (nach einer langen, heißen Dusche und nachdem Dad entschieden hat, dass er nicht ins Krankenhaus muss und Dean viermal dagegen protestiert hat), liegt Sam unter fünf Decken und mit zwei Wärmflaschen im Bett. Dean hat ihn in so viele seiner Pullover gehüllt, dass Sam sich kaum noch bewegen kann. Aber das ist okay. Es gibt nichts, wo er hin möchte. Sein Körper fühlt sich an wie aus Blei und jede Bewegung ist zuviel. Seine Augen fallen zu und er ist desorientiert. In einer Sekunde war er noch im Auto und in der nächsten ist er im Schlafzimmer. Er ist ziemlich sicher, dass Dad ihn ins Haus getragen hat. Möglicherweise hat er sich das auch nur eingebildet. Dean ist verschwunden. Sam hört ihre leisen Stimmen aus dem Badezimmer und er weiß, dass Dad ihn grade verarztet und ihm vermutlich eine Standpauke hält. Sam hat das Blut auf seinem Pullover gesehen. Es war zu viel und zu dunkel, und Dean war kreidebleich in der matten Autobeleuchtung. Er möchte dabei sein. Er ist halb bewusstlos vor Müdigkeit, aber für Dean könnte er sich zwingen noch einmal aufzustehen und zum Bad zu torkeln. Und für Dean muss er liegen bleiben und still halten und so tun, als ob er es nicht weiß. Dean ist Superman und Batman und alle Superhelden auf einmal. Er ist aus Stahl und er ist unkaputtbar und er macht alles wieder gut. „Hey. Nicht schlafen …“ „Dean?“ Sam reißt die Augen auf, lässt seinen Blick angstvoll über seinen Bruder gleiten, der an der Tür lehnt. Dean schafft es irgendwie, lässig und entspannt dabei auszusehen, aber er ist immer noch unnatürlich weiß im Gesicht, und er hält sich so fest an der Tür, dass seine Fingerknöchel hervortreten. Dad steht hinter ihm im Flur, hat die Arme verschränkt und sieht im Wesentlichen resigniert aus. „Ich habe dir Suppe gemacht“, sagt Dean und balanciert behutsam ein vollbeladenes Tablett zum Bett. „Aus der Dose“, fügt er entschuldigend hinzu, als ob Sam jetzt ernsthaft erwartet, dass Dean sich mitten in der Nacht an den Herd stellt und Gemüse klein schneidet. Spinnt er? Was stimmt nicht mit ihm? Meerjungfrauen haben an ihm rumgebissen und er macht Suppe?! Sam wirft einen fragenden Blick zu Dad. Dad hebt die Augenbrauen und zuckt frustriert mit den Schultern, eine Geste, die deutlicher als tausend Worte sagt: „Ja, ich weiß, dass er ein Idiot ist. Aber wie zum Teufel hätte ich ihn davon abhalten sollen?“ „Hast du Hunger? Sam?“ Sam nickt und schiebt sich vorsichtig am Kopfende nach oben, bis er sich in einer halbwegs aufrechten Position befindet. Seine Gliedmaßen sind steif und unkooperativ, als ob er sie Ewigkeiten nicht mehr benutzt hat, und in den vielen dicken Pullovern fühlt er sich wie in einem Kokon eingewickelt. „Hey, warte, ich …“ Eilig stellt Dean das Tablett auf dem Nachttisch ab und sieht aus, als ob es ihn in den Fingern juckt, Sam bei jedem Handgriff zu unterstützen. „Du willst mich nicht füttern, oder?“, fragt Sam mit hochgehobenen Augenbrauen und greift nach dem Becher. Unauffällig lässt er seinen Blick an Dean auf und abgleiten, versucht den dicken Pullover zu durchleuchten und verflucht sich dafür, dass er keinen Röntgenblick hat. „So siehst du aus.“ Dean schnaubt und schiebt die Hände eilig in die Hosentaschen, nimmt sie wieder heraus und öffnet und schließt sie ein paar Mal unentschieden. „Was ist mit …“ Sam pausiert. „Bist du okay?“ „Ich sagte doch, es war nur ein Kratzer.“ Dean winkt ab. „Kleinkram.“ Natürlich würde er das auch sagen, wenn seine Eingeweide aus seinem Bauch hängen und auf dem Boden schleifen würden. Dean ist immer okay. Sam tauscht einen stummen Blick mit Dad. Dad schüttelt den Kopf, was vermutlich bedeutet, dass es ein verdammt großer Kratzer ist. Aber er macht auch keine Anstalten, Dean ins Krankenhaus zu zwingen, was Sam halbwegs davon überzeugt, dass Deans Eingeweide doch noch nicht nach draußen hängen. „Die Suppe ist gut“, sagt Sam nach drei Löffeln, und es ist als ob Deans Anspannung mit einem Satz aus seinem Körper strömt. Er lässt sich behutsam auf die Bettkante sinken und rutscht vorsichtig neben Sam, bis er mit dem Rücken an das Kopfende stößt. Minutenlang sieht er ihm beim Essen zu. Dad lehnt an der Tür und schweigt. Es gibt eine Millionen Dinge, die Sam sagen möchte, aber er ist viel zu müde, um es zu versuchen. „Sam.“ „Dad?“ Automatisch blickte er auf. Sekundenlang sah Dad zwischen ihm und Dean hin und her, bis sein Blick wieder auf Sams Gesicht landet. „Kommst du klar?“, fragt er. Es klingt wie ‚Bist du okay?‘ Das, was er eigentlich fragt, ist natürlich etwas anderes. ‚Kommst du klar mit Dean?‘ Oder: ‚Schaffst du es, deinen idiotischen Bruder im Auge zu behalten und ihn davon abzuhalten, aus den Latschen zu kippen?‘ Und vielleicht ist es das. Vielleicht ist das das Einzige, was er und Dad gemeinsam haben, immer gemeinsam haben werden. Vielleicht ist das der einzige Bereich, in dem sie sich jemals einig werden können. „Dad. Ich kümmere mich um Sam.“ Das ist Dean, der wie üblich einfach keinen Subtext schnallt und nicht verstehen kann, dass es Leute gibt, die sich um ihn Sorgen machen. Sam nickt. Seine Finger zittern, weil es so anstrengend ist, die verdammte Suppe zu halten, aber seine Stimme ist fest. „Ja, Sir. Alles okay.“ Dad lächelt und die Falten um seine Augen werden tief. Er sieht müde aus. „Schlaft jetzt.“ Es ist ein Befehl und Sam ertappt sich dabei, gehorsam zu nicken. Die Tür gibt ein leises Klicken von sich, als Dad sie schließt, und plötzlich ist Sam mit der Verantwortung allein. Sie drückt auf seinen Schultern und sekundenlang weiß er nicht, wie sein Vater das die ganze Zeit aushält. Oder ob er einfach nur viel stärker ist, als Sam jemals sein wird. Dean lehnt erschöpft am Kopfende. Seine Sommersprossen stechen deutlicher hervor als sonst und er hat dunkle Ringe unter den Augen. Aber sein Blick ist hundertprozentig auf Sam fixiert. „Du hast gewusst, dass ich dich finde, oder?“, fragt er plötzlich und vollkommen aus dem Nichts heraus. „Du hast gewusst, dass ich komme, oder?“ Sam hält inne und starrt in den Becher, sieht zu, wie der Löffel langsam zwischen Nudeln und Hühnchen versinkt. Woher kommt diese Frage jetzt? Hat er gewusst, dass Dean kommt? Ja. Vielleicht. Vielleicht nicht. Irgendwie. Hat er es verdient, dass Dean kommt …? „Sam?“ Er nickt unsicher. „Es tut mir Leid“, platzt es aus ihm heraus. Seine Hände zittern vor Anstrengung und Hühnerbrühe tropft warm und klebrig über seine Finger. Behutsam nimmt Dean ihm den Becher aus der Hand und stellt ihn auf den Nachttisch. Als er sich zu Sam umwendet, ist sein Gesicht fragend. „Das hast du vorhin schon mal gesagt“, stellt er fest. „Sam, dir muss nichts Leid tun.“ Natürlich nicht. Dean verzeiht immer, jedes Mal aufs Neue. Er erteilt Absolution ohne jemals zu fragen wofür, und das – mehr als alles andere – bewirkt, dass Sam die Tränen in die Augen schießen. „Was ich gesagt habe …“, presst er hervor und fährt mit dem Ärmel seines Pullovers über sein Gesicht. „Hey, nicht doch …“ Dean klingt aufrichtig schockiert. „Sam, sei nicht albern. Ich würde immer kommen, das weißt du doch. Nur weil wir uns gestritten haben …“ Dean versteht es nicht. Dean versteht es nie. Natürlich würde er immer kommen und ihn holen, ob Sam es verdient hat oder nicht, ob es Dad passt oder nicht, und ob er selbst dabei draufgeht oder nicht. Und das macht es trotzdem nicht okay, was Sam gesagt hat. „Was ist, wenn ich irgendwann etwas ganz Furchtbares mache …“, hört er sich selbst fragen. Er weiß nicht, woher es kommt, aber für Sekunden ist es da, die Gewissheit in seinem Kopf, dass er es irgendwann tun wird. Größer und dunkler und viel schlimmer, als Dean zu sagen, dass er ein Versager ist. So furchtbar, dass nicht mal Dean es wieder gut machen kann. So furchtbar, dass Dean es vielleicht nicht einmal mehr gut machen will. „Etwas Furchtbares?“ Dean klingt belustigt. „Was denn zum Beispiel? Eine Bank überfallen? Die Apokalypse auslösen?“ Er nickt wortlos. „Ach Sam, sei doch kein Schaf. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht so hoch, dass das passiert.“ Er stößt ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. „Und selbst wenn …“ Er grinst breit, zuckt mit den Schultern und lässt vielsagend die Finger knacksen. „Dann rette ich erst dich und dann die Welt. Kinderspiel.“ Dean ist Superman und Batman und alle Superhelden auf einmal. Er ist aus Stahl und er ist unkaputtbar und er macht alles wieder gut ... „Ich wusste, dass du kommst“, sagt er schließlich. Weil es die Wahrheit ist. Weil Dean eine Entschuldigung nicht verstehen würde. Und weil es das einzige ist, was Dean hören muss. Die Tatsache, dass Sam ihn für den besten großen Bruder aller Zeiten hält. Er spürt, wie Dean sich neben ihm entspannt. „Schlaf jetzt“, murmelt er. „Du siehst fertig aus.“ Sam nickt und lässt seine klebrigen Finger in Deans Pullover, damit er noch da ist, wenn Sam morgen aufwacht. „Hey, Sam …“, sagt Dean leise. „Hm?“ „Ich war auch nicht beunruhigt. Ich wusste, dass du mich nicht draufgehen lässt.“ Es ist wie eine Wärmedecke, die sich in seinem Magen auseinanderfaltet. Zum ersten Mal in dieser Nacht ist Sam nicht mehr kalt. „Ich wusste es nicht …“, gesteht er. „Alter …“ Dean klingt müde und seine Augenlider sind auf Halbmast. Er grinst schläfrig „Du hast Arielle für mich getötet. Du bist Rambo!“ Sam vergräbt das Gesicht an seiner Schulter und schließt die Augen. Sein Leben ist eine Katastrophe. Er wird morgen in Mathe durchfallen und er hasst das Jagen und alles, was damit zusammenhängt. Er möchte ein neues Leben … aber niemals einen neuen Bruder. ^Ende^ Nachwort: Puuuuuh - das war ne Menge Holz. ;P Aber es hat Spaß gemacht zu schreiben. Ich hoffe, es kommt in keinster Weise so rüber, als ob ich John hasse(?), denn das tue ich nicht. Ich liebe John und ich denke, er hat seine Söhne geliebt, aber er war einfach nie besonders gut darin es zu zeigen. Ich verstehe Sam und ich verstehe auch John - und ich denke, sie sind sich einfach viel zu ähnlich. (Dean tut mir bei der ganzen Kiste immer irgendwie am allermeisten leid. :-/) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)