Bora, Stein der Winde von Scarla ================================================================================ Kapitel 5: Der Traum vom Engel ------------------------------ „Seid gegrüßt, Weltenretter”, ertönte eine Stimme hinter Justin. Noch bevor er sich ganz herumgedreht hatte, wusste er, wen er sehen würde. Der schwarzhaarige Engel stand hinter ihm. Sie war so wunderschön, wie auch damals, als er sie das erste Mal gesehen hatte und genauso unendlich traurig, doch der kleine Funke Hoffnung in ihren Augen war größer geworden. Ihre Stimme war wundervoll und sie sprach in einer Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte und doch verstand er sie, als hätte er sie von klein auf gelernt. Es hörte sich an, wie ein wunderschönes, unendliches Lied. „Warum kann ich dich verstehen?”, fragte er und war verblüfft, das er unbewusst dieselbe Sprache gewählt hatte. „Weil jedes Wesen einst diese Sprache konnte, doch die meisten haben vergessen, das es sie gibt. Es ist die Sprache der Unsterblichen. Ich könnte nicht in deiner Sprache mit dir Sprechen und du würdest meine nicht verstehen, darum lasst uns dieser Sprache bedienen”, bat der Engel. „Sprache der Unsterblichen? Also Wesen, wie du eines bist?”, wollte er wissen. „Nein. Meine Art lebt lange, ungleich länger als die meisten Völker meiner und eurer Welt, aber nicht unendlich lange. Die wenigsten Wesen sind wahrhaft unsterblich. Viele Wesen, der ihr diese Fähigkeit bezichtigt sind es nicht. Nur sehr langlebig. Es hat nun einmal alles ein Ende“, erklärte der Engel. „Welche Wesen sind denn dann wirklich unsterblich?”, wollte Justin wissen. „Wesen, die schon dann lebten, lange bevor unsere Muttersmütter lebten und auch dann noch leben werden, wenn unsere Kindeskinder lange von dieser Welt entschwunden sind. Wesen, für die selbst mein Leben nur ein Augenblick in der Unendlichkeit ist. Wesen wie die Herrin selbst, oder eine ihrer Schwestern”, antwortete sie. „Die Herrin? So etwas wie Gott?” „Ja. Ihr nennt es Gott, bei uns ist es die Herrin.“ „Also ein weiblicher Gott. Bei euch scheint es ja nicht so zu sein, das nur die Männer die Macht hatten, für eine lange, lange Zeit”, stellte Justin fest. „Doch, das ist bei nahezu jedem Volk so gewesen, und wird auch in Zukunft noch so sein. Aber der Unterschied ist, das mein Volk die Frauen nie als minderwertige Wesen angesehen hat, sondern als... das, was sie sind. Denn was würden ihre männlichen Artgenossen tun, wenn die Frauen ihnen nicht das Essen bereiten, die Kleider nähen, den Nachwuchs gebären und aufziehen würden? Mein Volk wusste schon immer, das sie voneinander abhängig sind, und darum haben sie uns nie so schlecht behandelt, wie es bei euch einst üblich war”, antwortete der Engel. Justin schwieg dazu. Eine kleine Weile sagte niemand etwas. „Warum hast du mich hergeholt?”, fragte er dann. „Ich möchte euch um etwas bitten. Das Böse hat zwei der Schwerter in seinem Besitz, aber noch keinen der Steine. Korona ist in Sicherheit, weil sie nicht wissen, wo er ist, aber sie wissen, dass ich Bora habe und sie wollen ihn haben, zumal sich ja auch schon Drachenwind in ihrem Besitz befindet. Und um Bora zu schützen möchte ich euch bitten, ihn an euch zu nehmen und mit eurem Leben zu schützen”, bat sie. „Wie, was? Das geht mir jetzt ein bisschen zu schnell! Was ist Korona und was ist Bora? Welche Schwerter?”, wollte er wissen. „Ich erkläre es euch. Alles auf der Welt wird von den vier Elementen beeinflusst. Alles besteht aus diesen vier Elementen und jedes der Elemente wird von einem Stein und einem Schwert symbolisiert. Bora zum Beispiel, der Stein der Winde besteht aus Wind, aus Luft, aus dem, was wir atmen, was immer um uns ist. Genauso wie die Klinge Drachenwinds. Es gibt vier Steine und die dazugehörigen Schwerter. Da wären Bora und Drachenwind, die seinem Besitzern die Macht der Winde verleihen, Korona und Phönixfeuer, die der Schlüssel zur Herrschaft des Feuers sind, Zoran und Nixenwasser, die euch alle Wasser gehorchen lässt und Ferrum und Golemerde, die euch die Erde selbst zu eurem Verbündeten macht. Aber Bora ohne Drachenwind hat nur die Hälfte der Macht der Winde, genauso wie Drachenwind ohne Bora. Sie ergänzen einander, nur mit einem der beiden Stücke hat man auch nur die halbe Macht. Und so hat das Böse Phönixfeuer und Drachenwind, aber nicht Korona und Bora. Wo Korona ist, wissen sie nicht, aber wo Bora ist, das wissen sie. Bora darf ihnen aber nicht in die Hände fallen, denn sonst beherrscht das Böse den Wind, und der Wind ist ein mächtiger Verbündeter! Deswegen möchte ich euch bitten, Bora an euch zu nehmen. Hier ist es nicht sicher, bei euch schon”, erklärt sie. „Aber warum soll dieser Stein bei mir sicherer sein, als bei dir? Immerhin bist du der Götterbote, nicht ich. Wenn der Stein nicht einmal bei einem Engel sicher ist, wie soll er das dann bei mir sein?”, ereiferte sich Justin. Das Mädchen lachte leise. „Ich? Eine Dienerin der Herrin? Ihr habt schon merkwürdige Vorstellungen, Mylord! Nein, ich bin kein Engel. Ich bin eine Elbe, die das Pech hatte, der Magie mächtig zu sein. Meine Schwingen sind nur ein Zeichen, um andere meine Macht erkennen zu lassen. Aber verglichen mit euch bin ich nur ein Glühwurm im vergleich zur Sonne, ein Tropfen im vergleich zum Meer, ein Nichts”, erklärte sie. „Wie um alles in der Welt kommst du darauf, dass du weniger Wert seiest, als ich?”, wollte er wissen. „Weil ihr der Weltenretter seid und ich nur die Herrin des nördlichen Elbenreichs”, antwortete sie. „Warum Weltenretter? Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.” „Der Weltenretter ist jemand, der das Böse abwenden wird. Er wurde meinem Volk vor Jahrhunderten prophezeit und der seid ihr, da sind wir uns sicher. Ihr seid es, ihr müsst es sein, nur ihr habt die Macht, das Böse zu zerschlagen, bevor es das Gute zerschlägt.” „Nein! Ich verstehe das nicht, wie kommst du auf mich? Ich bin nicht mal in der Lage, einen Toaster zu bedienen, warum soll ich dann dieser Weltenrettertyp sein?”, ereiferte sich Justin. Das Mädchen kam hatte bisher ein paar Meter Abstand gehalten, jetzt trat sie vor Justin und schaute lange in seine Augen. „Ihr seid ein Traumseher. Alle Tiere sind euch wohl gesonnen. Und... nein... egal. Ich bin mir auf jeden Fall sicher, auch wenn ihr der Meinung seid, das ihr es nicht sei könnt, warum auch immer”, sagte sie. Eine Weile schauten die Beiden einander nur in die Augen. Justin schossen tausend Gedanken durch den Kopf. „Wie ist dein Name?”, fragte er dann. „Man ruft mich Melody. Ich bin, wie vorhin schon erwähnt, die Herrin über das nördliche Elbenreich”, antwortete sie. „Du bist doch kaum älter als ich, warum herrscht du schon über ein Land?”, fragte er. „Ich bin nicht älter als ihr, ich bin jünger. Ich bin vierzehn. Leider habe ich keine Zeit, euch noch mehr zu erklären. Ich muss gehen. Bitte, nimm Bora an dich... äh, an euch meinte ich... ich vergas mich für einen Augenblick”, entschuldigte sie sich. „Das macht nichts, ich habe nichts dagegen, wenn du mich duzt. Das tu ich ja auch schon die ganze Zeit über. Natürlich werde ich deinen Wunsch erfüllen”, Justin lachte leise und vollkommen humorlos, „wenn nicht dir, wem dann? Ja, ich nehme den Stein an mich und werde ihn mit meinem Leben verteidigen. Aber... werden wir uns irgendwann Wiedersehen?”, fragte er. „Vielleicht...”, antwortete Melody und nahm Justins Hand. Ihre Haut fühlte sich warm und weich an und ließ Justins Herz rasen. Melody legte etwas in ihr hinein und schloss sie. „Pass gut auf den Stein auf, denn von ihm hängt das Leben aller Wesen ab”, erklärte sie eindringlich. Justin nickte feierlich. Dann zog er plötzlich Melody so eng an sich, wie es ging und umarmte sie fest. „Junge, was ist los?”, fragte seine Mutter und schüttelte ihn kräftig. Verschlafen schaute er sie an. „Was ist los?”, nuschelte er. „Das frag ich dich. Du hast geschrieen, Justin”, antwortete Ginny. „Geschrieen? Ich habe geschrieen? Ich weiß nicht mehr, was ich träumte, ich hatte wohl einen Albtraum”, murmelte er. Das stimmte nicht, denn er erinnerte sich an seinen Traum, oder was auch immer es war, aber warum er im Schlaf geschrieen hatte, das konnte er sich nicht erklären und bevor ihn seine Mutter mit irgendwelchen Fragen löcherte, die er doch nicht beantworten konnte, blieb er lieber bei einer kleinen Notlüge. „Aber jetzt ist wieder alles in Ordnung?”, fragte seine Mutter. „Ja, aber sag mal, haben wir eigentlich noch irgendwo Fotos von Papa?”, fragte er einer plötzlichen Eingebung folgend. „Ja, natürlich, aber warum fragst du?”, wollte Ginny verwundert wissen. „Ich weiß nicht, ich habe irgendwie das Gefühl, das es... wichtig sein könnte, ein Bild von ihm vor Augen zu habe, keine Ahnung, warum, aber... ich kann mich nicht mehr an sein Aussehen erinnern...”, flüsterte er. Es stimmte ihn traurig, das sagen zu müssen, den Justin hatte seinen Vater sehr geliebt. Es schmerzte ihn, das er sich an das Aussehen einer solch wichtigen Person in seinem Leben nicht mehr erinnerte. Überhaupt war es wohl Justin gewesen, der am meisten unter dem Tod seines Vaters gelitten hatte. Mit ihm hatte sich der Junge immer viel besser verstanden, als mit seiner Mutter. „Holst du mir eines?”, bat er. Ginny nickte und ging. Justin schaute noch einen Augenblick durch die offene Tür auf den Flur hinaus, dann öffnete er seine Hand. Ein silbergrauer, leicht transparenter Stein in der Form eines Drachen lag in seine Hand. Er betrachtete es solange, bis er die Schritte seiner Mutter hörte, dann ließ er ihn unter seiner Bettdecke verschwinden. Wortlos, mit traurigem Blick reichte Ginny ihrem Sohn das Foto. Auf ihm war Justins Vater abgebildet, in seiner Pilotenuniform. Vor ihm stand Helen und lächelte und auf dem Arm trug er Justin. Sie alle lachten. Dass dieser Mann nur weniger Stunden später abstürzen und sterben sollte, das ahnte noch niemand. Justin schluckte schwer und gab seiner Mutter das Foto wieder, nachdem er es sich genau eingeprägt hatte. Die Tränen konnte er nur noch mühsam zurückhalten. Ginny lächelte traurig, als auch sie das Bild betrachtete. „Es trifft immer die Falschen...“, murmelte sie. Sie sah ihren Sohn an und dachte an jenen Tag zurück. Stunden, bevor sie diesen grausigen Anruf erhalten hatte, da hatte Justin schon geweint. Er hatte es gewusst, lange vor allen anderen. Das Flugzeug hatte kaum vom Boden abgehoben, da hatte er schon geweint und als man ihn gefragt hatte, weswegen, da hatte er geantwortet, weil er Papa nicht mehr sehen würde. Niemand hatte verstanden, was er damit sagen wollte und niemand hatte ihm wirklich zugehört. Justin war eben nur ein kleiner, fünfjähriger Junge gewesen, dem hört man doch nicht zu, vor allem nicht, wenn er solchen Unsinn erzählte. Aber selbst wenn sie ihrem Sohn zugehört hätte, hätte das nicht viel gebracht. Er war noch zu jung gewesen, um zu erklären, warum das Flugzeug abstürzen würde. Ginny stand auf. „Wir sollten schlafen, auch wenn morgen Sonntag ist”, fand sie und ging ohne ein weiteres Wort. Justin wartete, bis er hörte, wie sie ihre Zimmertür schloss, dann stand er auf, machte Licht an und betrachtete den Stein genauer. Zu guter letzt holte er ein Stück Schnur hervor, mit dem er sonst immer seine Haare zusammenband, und befestigte den Stein daran. „Das sollte vorerst halten”, murmelte er und band sich die Schnur um den Hals. So ging er schlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)