Bora, Stein der Winde von Scarla ================================================================================ Kapitel 46: Jerry ----------------- Es war kein Problem, Ginny davon zu überzeugen, das die beiden Feuervögel dableiben sollten. Schon kurze Zeit danach hat Moritz sie mit einem gequält anmutenden Blick in einen ruhigen Raum gedrängt und die beiden waren seither nicht mehr herausgekommen. Melody, Blizzard und Justin hatten es sich auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht, als der jungen Elbe auch schon fast die Augen zu vielen. „Wenn du müde bist, dann geh schlafen“, fand Justin, nachdem er sie einen Augenblick lang beobachtete hatte. „Ach, nein, nein, ich bin nicht müde“, meinte Melody, jedoch gähnte sie dabei so herzhaft, das Justin lachen musste. „Nein, ist klar, wie kann man denn nur so munter sein, wie du?“, fragte er mit ironischem Augenzwinkern, schaute dann hinüber zu Blizzard, der sich auf den Boden zusammengerollt hatte. „Der Kleine schläft schon, oder?“, fragte er mit einem Lächeln. „Ja, schon seid einer ganzen Weile“, nickte Melody. Lächelnd stand Justin auf und nahm Blizzard auf den Arm. Wie ein kleines Kind trug er den Jungen nach oben, wohin Melody ihn folgte. Die Elbe machte es sich auf dem Bett bequem, während Justin Blizzard im Raum nebenan ins Gästezimmer legte und sorgfältig zudeckte. Dann ging er in sein Zimmer zurück, blieb jedoch im Türrahmen stehen und betrachtete Melody mit glänzenden Augen, während die sich ins Bett kuschelte. „Worauf wartest du noch“, fragte sie und schaute ihn seltsam auffordernd an. „Vielleicht auf deine Aufforderung…“, erwiderte Justin leise und zärtlich und ging langsam zu dem Mädchen. In dem Moment hörte er, wie im unteren Stockwerk eine Tür aufging. „Justin! Komm runter, ich will mit dir reden!“, rief Moritz nach oben. Einen Augenblick lang blickte Justin in Richtung Tür, dann wieder zu Melody und wieder zur Tür. „Geh runter, vielleicht erzählt er dir ja jetzt endlich etwas“, forderte sie ihn auf und nach kurzem Zögern nickte Justin und ging die Stufen wieder hinab. Moritz saß in der Küche und machte ein Gesicht, das zwischen unglaublicher Erleichterung und Angst, ja fast schon Panik schwankte. Wortlos setze er sich Moritz gegenüber und schaute ihn forschend an. Keiner sagte etwas, und das eine ganze Weile lang. Sie schauten einander nur in die Augen. „Ich dachte, du würdest anfangen“, meinte dann Moritz mit einem Seufzen. „Und ich wollte auf keinen Fall anfangen, immerhin hast du mich hergeholt“, erklärte Justin. „Ja, schon, aber du bist doch derjenige, der mich genervt hat, zu erfahren, wer er ist, was sich hinter dem Namen Jerry für ein Geheimnis verbirgt und nun tust du so, als würde dich das alles nichts mehr interessieren“, bemerkte sein Vater. „Das siehst du falsch, mich interessiert schon, wer er ist, aber ich habe beschlossen, dich nicht mehr zu nerven, sondern zu warten, bis du von selbst kommst“, erklärte Justin. „Jetzt kannst du mich aber gerne nerven, das würde die Sache für mich nämlich leichter machen“, fand Moritz, doch sein Sohn antwortete nicht. „Okay. Nun, seinen Namen kennst du ja schon, aber na ja, Jerry ist nicht irgendwer, er ist jemand ganz besonderes, er ist ein ganz besonderer Mensch, besonders für dich, auch wenn du ihn nicht kennst, zumindest nicht so richtig“, Moritz schien sich um eine klare Aussage drücken zu wollen. „Moritz, raus mit der Sprache, bitte. Du kannst dich eh nicht drücken, vor dem, was du mir sagen willst, also sag es einfach. schnell und gerade heraus, dann hast du es hinter dir“, fand Justin deswegen. Moritz nickte, denn sein Sohn hatte definitiv recht. Einen Moment lang starrte er still vor sich hin, dann nickte er noch einmal, diesmal schier zu allem entschlossen, stand auf und nahm eine Anzahl Karten von der Ablage. Einen Moment lang schaute er sie noch an, dann reichte er sie wortlos seinem Sohn. Justin betrachtete sie neugierig, klappte dann die erste auf und las, was innen stand. Dasselbe mit der nächsten und mit der darauf folgenden, bis er alle Karten durch hatte. Es waren alles Glückwunschkarten, von Freunden und Bekannten sowohl für Moritz als auch für Ginny, in der zur Kindesgeburt gratuliert wurde. Justin legte sie auf den Tisch und schaute Moritz erwartungsvoll an, denn eine Karte hatte er bei sich gehalten. Auch die reichte er nun Justin. Es war eine Geburtsurkunde. Der Name des Kindes war Jerry Malek. „Er ist also mein Bruder“, meinte Justin in einem Ton, als wäre es ihm egal, als würde ihn das alles nichts angehen. „Schau auf das Geburtsdatum“, forderte Moritz und Justin suchte nach dem eingetragenen Datum. Eine kleine Weile starrte er die acht Zahlen an, dann klappte er die Karte zu und warf sie auf den Tisch. „Warum?“, mehr fragte er nicht. „Warum was?“, ob Moritz seine Frage wirklich nicht verstand oder sich einfach nur dumm stellen wollte, das wusste Justin nicht. „Warum habt ihr mir nicht gesagt, das ich einen Bruder habe, mehr noch, einen Zwillingsbruder“, wollte er wissen. „Nun, es ist so, das… nun, Jerry war als Baby plötzlich verschwunden, er war einfach nicht mehr da. Wir haben natürlich die Polizei eingeschaltet und auch überall gesucht, obwohl es natürlich mehr als nur unwahrscheinlich ist, das ein Säugling von gerade mal drei Monaten einfach so die Biege macht. Er war eben einfach nicht mehr da, und wir haben uns irgendwann einfach damit abgefunden, so grausam das auch klingen mag. Nur haben wir nie einen Grund gesehen, es dir zu sagen, wir hielten Jerry für Tod. Theo hat das eine oder andere mal eine Bemerkung gemacht, ebenso wie Susi, doch ich wollte mir keine Hoffnungen machen, also habe ich den Gedanken, das der Junge noch leben könnte immer und immer wieder beiseite geschoben und es für unwichtig abgetan. Wenn er wirklich nicht mehr gelebt hätte, wäre es auch höchst unwahrscheinlich gewesen, das du je erfahren hast, dass Jerry irgendwann einmal existiert hat“, erzählte Moritz. Justin schwieg, beobachtete seinen Vater dabei jedoch ganz genau. „Okay, das verstehe ich und ich hätte wohl auch nicht anders reagiert. Das erklärt auch deine merkwürdigen Reaktionen, wenn ich von ihm erzählt habe, aber warum bin ich so sehr mit ihm verbunden? Ich meine, er ist zwar mein Zwillingsbruder und dennoch… ich verstehe es nicht“, sagte er dann. „Ich schon. Es gibt immer und immer wieder Märchen, Geschichten, Legenden, wie man es auch nennen mag, von Zwillingen, die die Schmerzen des anderen spürten, auch wenn der Kilometer weit weg war und auch immer wieder davon, das sie wussten, was der andere denkt, sie konnten miteinander kommunizieren, obwohl die halbe Welt sie trennte. Ich dachte immer, das sein ein Märchen, besonderen Dingen und Wesen haben die Menschen immer schon besondere Fähigkeiten angedacht, aber es scheint nicht der Fall zu sein“, erklärte Moritz, dann schaute er Justin nachdenklich an. „Du scheinst dich aber gar nicht zu wundern, darüber, dass du einen Zwillingsbruder hast“, überlegte er dann. „Tue ich auch nicht, nicht wirklich. Ich weiß nicht, wieso, aber irgendwie habe ich es geahnt. Nein, nicht geahnt, ich habe es irgendwie gewusst, schon die ganze Zeit über, nur habe ich es nicht bewusst sagen können. So wie in einem Puzzle, alle Teile waren zwar da, nur habe sie noch nicht so zusammensetzen können, dass sie am Ende ein schlüssiges Bild ergeben“, erklärte Justin. „Ja, ich glaube, ich verstehe, was du meinst“, nickte Moritz. „Nun, ich denke, ich werde gehen nach oben“, meinte Justin und stand auf. Moritz nickte und stand ebenfalls auf, um ins Schlafzimmer zu gehen. Als Justin vor seiner Zimmertür stand, da zögerte er jedoch einen Augenblick lang, hinein zu gehen. Viel lieber wäre er jetzt allein gewesen, mit sich und seinen Gedanken, aber er konnte ja Melody schlecht einfach rausschmeißen, vor allem, da er sich in gewisser Weise auch nach ihrer Nähe sehnte. Er wollte zwar alleine sein, brauchte dennoch jemanden, zum Reden, denn obwohl er äußerlich gefasst, ja sogar regelrecht unbeteiligt wirkte, tobte in seinem inneren dennoch ein regelrechter Sturm. Und so trat er ein, in sein Zimmer, doch niemand richtete sich in seinem Bett auf und keine Stimme begrüßte ihn. Melody schien schon zu schlafen und so trat er ans Bett und setzte sich neben sie. Die Elbe schief wirklich schon und so begann Justin, ihre Wange zu streicheln. Das tat er eine ganze Weile lang während er nachdachte, dann stand er wieder auf, einer stillen Eingebung folgend, und trat ans Fenster heran. Ein goldener Mond schien durch sein Fenster und tauchte die Welt in geisterhaftes Licht. Wie er es früher schon so oft und so gerne getan hat, öffnete er das Fenster und kletterte auf das Dach und wie er sah, war er nicht der erste, der diese Idee hatte. „Schön, dich auch einmal persönlich kennen zu lernen“, bemerkte Justin und krabbelte das schräge Dach ein Stück hinauf, denn weiter oben hatte er besseren halt. „Ich habe auf dich gewartet“, begrüßte Jerry ihn, schaute dabei jedoch nicht am Dach hinab, sondern betrachtete weiter den goldenen Mond, der sich wunderbar klar in seinen Augen spiegelte. Justin krabbelte zu ihm und setzte sich neben ihn. So saßen die beiden Brüder still da und schauten in den Himmel. „Wusstest du, das ich kommen würde oder hast du es gehofft?“, fragte Justin dann. „Ich… denke, beides“, antwortete Jerry geheimnisvoll. „Hilfst du uns eigentlich oder arbeitest du gegen uns?“, wollte Justin weiter wissen und Jerry schaute ihn an. Justin schauderte unter dem Blick seines Bruders, denn dessen Augen waren eiskalt. „Früher wart ihr meine Feinde, aber nun habe ich die Wahl dazwischen, ihm zu gehorchen und deswegen sterben zu müssen, sobald du stirbst oder ich kann mich ihm widersetzen und ihm so noch eins auswischen, bevor er mich umbringt. Oder dich, aber das ist letzten Endes kein Unterschied mehr. Der Tod erwartet mich in jedem Fall“, fand Jerry. „Wie meinst du das?“, wollte Justin wissen. „Nun, unsere Leben sind miteinander verbunden. Wir spüren das gleiche, wenn wir es wollen, können wir auch die Gedanken des anderen lesen, wie in einem offenem Buch und wir werden in der gleichen Sekunde sterben, einfach nur, weil der eine nicht existieren kann, ohne den anderen. Wir sind ein wenig so, wie zwei Seiten einer Medallie. Wir sind ein Wesen, geteilt, auf zwei Körper“, erklärte Jerry und Justin verstand, was er sagen wollte. „Wenn du meinst, dass er dich umbringen wird, dann gehe doch einfach nicht wieder zu ihm zurück“, schlug Justin nach einer kurzen Zeit der Stille in einem Anflug kindlicher Naivität vor. „Würdest du Melody selbst ein Schwert ins Herz stoßen?“, fragte Jerry darauf. „Nein, natürlich nicht!“, ereiferte sich Justin. „Dann mach nicht so dumme Vorschläge“, brummte Jerry. „Wie... meinst du das?“, wollte Justin wissen. „Na ja, er hat Felicitas als Druckmittel und wenn ich nicht zu ihm zurückgehe, dann wird er sie umbringen und das wäre in etwa so, als würde ich ihr selbst ein Messer ins Herz stoßen“, erklärte sein Zwilling. „Ich verstehe“, meinte Justin. „Nein, das tust du nicht“, widersprach Jerry mit einem nachsichtigen Lächeln. „Doch! Klar, natürlich verstehe ich es!“, meinte Justin. „Vergiss nicht, wer ich bin, Justin“, Jerry gab dem Namen seines Bruders eine ganz besondere Betonung, die gleichzeitig größte Verachtung, fast schon Hass ausdrückte, zugleich aber auch unendliche, bedingungslose Liebe. „Ich weiß, was du weist und ich weiß auch, wenn du etwas nicht verstehst, wir sind miteinander verbunden, enger als du es dir im Moment noch vorstellen kannst“, erklärte Jerry. Justin widersprach nicht. Er sagte gar nichts dazu, stattdessen stellte er eine weitere Frage. „Wusstest du, dass ich dich in meinem Visionen sah? Immer und immer wieder?“ „Natürlich. Ich habe dafür gesorgt, dass du sie siehst, um dir damit meine Botschaften zu übermitteln, um mit dir Kontakt aufzunehmen, um bei dir zu sein, in gewisser Weise. Es hat mehr oder weniger ja auch geklappt.“ „Hast du eigentlich auch solche Fähigkeiten, wie das sprechen mit Tieren oder so?“ Jerry verneinte: „Nein, ich kann nicht mit Tieren sprechen, ich habe an sich keinerlei besondere Fähigkeiten, außer denen, die der Todesgott selbst mir gab. Die Flügel eines Falken und seine Sinne, doch das war es auch schon. Doch will ich eigentlich auch nicht mehr. Ich habe gelernt, mit dem, was ich habe, zufrieden zu sein und mich nicht zu grämen über etwas, was mir sowieso nicht gehören wird. Außerdem wirst du ihr Lehrer sein, nicht ich, deswegen musst du diese Fähigkeiten haben, um eine Ahnung von dem zu haben, was sie einst können wird. Ich nicht.“ „Sollte ich vielleicht auch mal versuchen, so zu denken, auch wenn das für mich schwer sein wird. Ich glaube kaum, das ich auch nur im Ansatz verstehe, wie du denkst, was du in deinem Leben bisher ertragen musstest und inwiefern dich das in deinen Entscheidungen beeinflusst, weswegen du in jedem fall genügsamer bist, als ich, doch versuchen kann man es“, überlegte Justin. „Da wäre ich mir nicht so sicher“, meinte Jerry. „Wie, womit? Das ich es nicht versuchen kann, mal genügsam zu sein? Doch, klar kann ich das!“, ereiferte sich Justin ein weiteres mal. „Nein, nein, das meinte ich nicht. Du weißt ganz genau, wie ich mich fühle, und warum ich auf gewisse weise Handel und alles. Du kennst mich besser als jedes andere Wesen, das je gelebt hat und je leben wird. Das, was ich erlebte ist genau das, was auch du erleben musstest, denn wir sind gleich. Nur kannst du es noch nicht richtig fassen, deswegen verstehst du auch nicht, was ich vorhin sagte. Das ich Felicitas selbst ein Messer ins Herz stoßen würde, wenn ich einfach weg bleibe“, fand Jerry. „Ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen“, murrte Justin unwillig. „Ich weiß. Vergiss niemals, dass du kein Geheimnis vor mir haben kannst, denn du bist ich. Ich weiß, wie du dich fühlst, ich weiß, was du denkst, ich weiß, was du willst, ich weiß alles über dich, wie du alles über mich. Du wirst dich daran gewöhnen, wie ich selbst es auch tat“, erklärte Jerry und Justin nickte. Er war verwirrt und dennoch hatte er das Gefühl, alles zu verstehen, was Jerry ihm sagte und in diesem Augenblick fühlte er sich mit seinem Bruder verbundener, als jemals zuvor. Das war kein Wunder, hatten sich die beiden doch nur als Babys kennen lernen können und doch wusste er, das er Jerrys Leben genauso gelebt hat, wie sein eigenes, denn, wie hatte sich Jerry ausgedrückt? Sie waren ein und dieselbe Person, gespalten auf zwei Körper. „Ich habe noch eine Frage an dich und sie ist wichtig“, sagte Justin in die wieder herrschende Stille. „Dann frag“, brummte Jerry. „Nun, der Todesgott. Ich weiß, dass er einst ein Mensch war, aber wer war er? Hast du ihn kennen gelernt, als er einer war oder war er für dich immer schon der Todesgott?“, Justin schaute seinen Bruder forschend und auch ein wenig scheu an, denn er hatte Angst vor der Antwort. Warum, das wusste er nicht. „Nein, ich habe ihn als Mensch nie kennen gelernt, als wir uns trafen, da war er schon ein Gott. Der Meister brachte ihn mit und befahl mir, ihm zu gehorchen, das war vor etwa drei Jahren. Was davor war, das weiß ich nicht“, antwortete Jerry. „Der Meister? Welcher Meister? Ich habe gedacht, der Todesgott sei schon immer dein Meister gewesen!“, rief Justin und starrte Jerry fast schon entsetzt an. Der lachte leise. „Oh nein, der Todesgott ist einfach nur einer der Schüler meines Meisters. Er holt sich die, die am vielversprechensten sind und formt sie nach seinem gedenken. Aber denke jetzt nicht, er sei Böse, denn das ist er nicht. Er formt seine Schützlinge sowohl zum guten als auch zu bösen, weil er weiß, das es nicht möglich ist, das es nur eine rein gute Welt gibt, oder nur eine rein böse. Er hält die Welt im Gleichgewicht, aber auf seine Weise. Anders als der Todesgott hat er mich auch immer gut behandelt, weder hat er mich jemals geschlagen, noch Hungern lassen, noch irgendetwas anderes“, erklärte Jerry. „Ach so. Ich denke, diesmal verstehe ich, was du meinst, aber ist dein Meister dann nicht auch so etwas wie ein Gott? Also ähnlich, wie der Todesgott?“, überlegte Justin. „Ja und nein. Er ist in gewisser Weise ein Gott, aber mehr so etwas wie ein Übergott, also praktisch der Gott der Götter. Und zugleich aber auch nicht. Götter haben die Aufgabe, über ihre Welt zu wachen, dafür zu sorgen, was es sowohl schlecht Jahre gibt, aber auch gute, in jeglicher Beziehung, aus verschiedenen Gründen, mein Meister aber sorgt nur dafür, das die Welt im Gleichgewicht bleibt, er bestimmt nicht, ob die Ernte gut wird oder nicht, ebenso ist es für ihn uninteressant, ob irgendeine Art ausstirbt oder so etwas, er sorgt einfach nur dafür, dass das Gute nicht überhand nimmt, genauso wenig wie das Böse, dann eine rein gute Welt würde sich unweigerlicht selbst zerstören, ebenso, wie eine rein schlechte Welt. Und um das zu erreichen, sucht er sich immer ganz bestimmte Leute aus, bei denen das Gute oder eben das Böse überwiegt und nimmt sie entweder zu sich, um sie zu lehren oder aber er lässt den Dingen seinen Lauf, solange, bis er einschreiten muss, weil plötzlich das Entgegengesetzte zu überwiegen droht“, erklärte Jerry und langsam, zögernd nickte Justin. „Ich denke, ich verstehe, was du meinst, irgendwie zumindest. Hat er dir das gesagt?“ „Ja und nein. Er hat es im Prinzip schon gesagt, nur eben über Rätsel, die ich selber lösen musste.“ „Aber noch einmal zum Todesgott. Ich verstehe nicht so ganz, einst sagte er mir, er wolle mit mir spielen und nun will er mich umbringen. Wieso auf einmal? Ich egal wie sehr ich nachdenke, ich verstehe es nicht“, murrte Justin. „Na ja, er lernt langsam, das du ihm gefährlich werden kannst, gefährlicher, als jedes andere Wesen, das es gibt und das, obwohl du eben nicht der Weltenretter bist. Einst sah er in der ganzen Sache nur ein Spiel und zwar eines, das er ganz sicher gewinnen würde, doch das ändert sich langsam. Er hatte nicht einmal damit gerechnet, das ihr die Minotauren überlebt, das ihr es geschafft habt, hat ihn mehr als alles andere vor Augen geführt, wie gefährlich zu wirklich bist und nun hat er einfach Angst. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Doch ein Gegner, der Angst hat, kann gefährlicher sein, als einer, der selbstsicher ist“, sagte Jerry und stand auf, „Ich muss jetzt gehen. Ich bin schon viel zu lange hier.“ „Willst du wirklich wieder zurück zu ihm? Vielleicht könnte es dir gelingen, Felicitas her zu bringen, dann müsstest du nicht wieder zu ihm“, überlegte Justin. „Justin, vergiss niemals, das du es mit einem Gott zu tun hast. Er würde Feli überall finden und kann sie so auch überall wieder einfangen“, verneinte Jerry. Justin seufzte tief, nickte dann aber: „Okay, dann bleibt wohl keine andere Möglichkeit als jene, die er uns gegeben hat.“ „Falls die überhaupt noch bleibt“, bemerkte sein Bruder. „Wie meinst du das?“ „Ich habe dir doch lang und breit erklärt, dass wir beide nicht ohne den anderen Leben können und er wird mich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umbringen, sobald ich ihm wieder unter die Augen komme. Du hast es doch mit angesehen, seine Drohung, du warst doch dabei“, antwortete Jerry. „Die Vision bei den Minotauren, ja. Die hatte ich vergessen. Dann hoffen wir das Beste und ich werde mich wohl seelisch darauf vorbereiten, eventuell gleich zu sterben“, seufzte Justin. „Und wenn schon nicht das, dann mach dich auf große Schmerzen gefasst, denn ich bin mir sicher, das er mich unter keinen umständen ungeschoren davon kommen lässt, ganz gleich, was ich sage oder tue. Ich glaube fast, der Tod wird die erstrebenswertere Strafe sein“, brummte Jerry unwillig, dann nickte er Justin dennoch aufmunternd zu und verzog seinen Mund zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte, jedoch wie alles andere aussah, denn wie ein solches. Jerry hob die Hand und teilte mit einem Ruck mit ihr die Luft. Anders als normalerweise, wenn man durch die Luft schlug, sah man hier nun die Verwirbelungen, die immer und immer festere Gestalt anzunehmen schien und letzten Endes eine art senkrechte, schwarze, wasserartige Fläche bildete. „Auf wieder sehen, Justin. Ob in diesem oder im nächsten Leben“, sagte Jerry und seine Stimme zitterte dabei. Justin nickte, spürte die Angst, die von Jerry ausging, wie seine eigene. Er lächelte aufmunternd, obwohl auch er Angst hatte und er wusste nur zu gut, das Jerry sie ebenso spürte, wie er seine. Noch einen kurzen Augenblick lang schauten die Brüder sich an, dann sprang Jerry durch das Tor und war verschwunden. Justin schluckte schwer, schaute noch einen Moment lang auf die Stelle in der Luft, dann begann er, wieder in sein Zimmer zu klettern, doch legte er sich nicht zu Bett, sondern setzte sich auf die Fensterbank und versuchte etwas, was er noch nie versucht hatte, auf die Idee er vor dieser Nacht noch nicht einmal gekommen war. Er versuchte, bewusst eine Vision auszulösen, um wenigstens so bei seinem Bruder zu sein, doch er schaffte es nicht. Mit seinen Gedanken noch immer bei Jerry, legte er sich letzten Endes doch hin, einschlafen jedoch konnte er nicht. Eine halbe Stunde etwa lag er wach, dann spürte er plötzlich einen Schmerz, als hätte man ihm einem Peitschenhieb versetzt. Eher vor Schreck, denn vor Schmerz, quiekte er laut auf, doch dies sollte nicht das einzige sein, das ihm Pein bereitete. Drei weitere Schläge musste er aushalten, dann schon senkte sich die barmherzige Bewusstlosigkeit über ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)