Rattenprinzessin von -Broeckchen- (Von der Suche nach schwarzen Beeren) ================================================================================ Kapitel 1: Sommernacht atmen ---------------------------- Marc wachte auf. Es war nicht das grausame Aufschrecken, das dem Schlafenden so gern während eines Alptraumes auflauerte und ihn so heftig und plötzlich packte, dass es noch lange in den Gliedern verblieb. Sein Erwachen war langsam gewesen, so, wie wenn man eine alte Narbe wieder spürt, die zurückhaltend aber nachdrücklich schmerzt, bis sie einen geweckt hat. Seinen Blick hielt Marc unverwandt auf die Schlafzimmerdecke gerichtet, um diese Narbe zu ignorieren, die keine Narbe war, sondern ein Gefühl, das ihn aus den Schatten anzustarren schien. Zurückhaltend, aber nachdrücklich. Um seinem vorwurfsvollen Blick auszuweichen hob Marc eine seiner Hände und schaute sie prüfend an – ein Teil von ihm fürchtete noch immer, er sei plötzlich wieder sieben Jahre alt. Doch die Finger vor seinen Augen waren die kräftigen Greifwerkzeuge eines jungen Erwachsenen, nicht eines Kindes. Ein Seufzen erklang neben ihm und er zuckte zusammen, den Kopf danach umwendend. Doch als er in Regines Gesicht schaute, die neben ihm schlief und sich wohl gerade umgedreht hatte, spürte er kühle Enttäuschung in sich aufsteigen. Obwohl er sie noch vor einigen Stunden gebeten hatte, über Nacht bei ihm zu bleiben, wurde ihm jetzt fast schon schlecht, weil sie neben ihm lag, und er stand auf und ging zum Fenster, um ihrer Nähe zu entkommen. Das Fenster von Marcs Schlafzimmer war türgroß und gab eine Brüstung an der Außenseite des Hauses frei, die es ihm erlaubte wie bei einem Balkon richtig draußen zu stehen und die sommerwarme Nachtluft am ganzen Körper zu spüren. Der Platz reichte gerade für ihn allein, hinter ihm verbargen die Vorhänge, dass es ein Drinnen gab, und vor und unter ihm streckte sich ganz Lyon funkelnd aus, mit seinen Straßenlaternlichtern und den tanzenden Autoscheinwerfern prahlend. Es fühlte sich für Marc gut an, hier zu stehen, auch wenn sofort einige Mücken beschlossen, auf ihm zu dinieren. Das Gefühl allerdings stand wohl immer noch hinter dem Vorhang, und starrte ihn durch den halbtransparenten Stoff zurückhaltend, aber nachdrücklich an. Er wagte nicht, den Blick zu erwidern, aber in Gedanken ließ er sich endlich auf ein Zwiegespräch damit ein. „Ich hatte doch damit abgeschlossen.“, sagte er innerlich. „Selbst wenn sie existiert... selbst wenn es sie wirklich gibt... dann ist sie jetzt viel älter als damals. Ich will das nicht sehen. Ich will abschließen.“ Du weißt, dass du lügst. Du willst sie wieder sehen. Nichts mehr als das. „Was sie getan hat war falsch.“ Es hat sich richtig angefühlt. „Es war falsch!“ Das wäre es gewesen, wenn du es nicht gewollt hättest. Du hast es gewollt und ihr nie übel genommen. Du willst sie wieder sehen. Marc musste Tränen unterdrücken, er wusste nicht ganz, ob vor Wut oder Trauer. „Das wäre Betrug an Regine.“ Du betrügst Regine seit dem ersten Augenblick. Mit dem Herzen. Diese Wahrheit fühlte sich an wie ein entsetzlich tiefes, schwarzes Loch. Du hast jede andere betrogen, die du zu lieben behauptetest., bohrte das Gefühl weiter seine Krallen in Marcs Herz. „Ja.“ Was hält dich noch zurück? Marc musste die Augen schließen, um zu antworten. Seinen ganzen Verstand aufbieten. Sich ins Gedächtnis zurückrufen, was ihm so viele Psychologen, was ihm seine Eltern und Freundinnen immer wieder gesagt hatten. „Weil sie nicht existiert.“, dachte er. Und sprach es dann noch einmal halblaut aus. „Sie existiert nicht.“ Der Nachtwind frischte auf, als er das sagte, und zerrte die Vorhänge für eine oder zwei Sekunden unsanft ins Zimmer. Marc hörte etwas zu Boden fallen, und er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was es war. Heb es auf. Er ballte die Hände zu Fäusten und blieb stehen. Heb es auf. Auf seinen Wangen schien die Nachtluft mit eisigen Fingern die Spuren der Tränen nachzuziehen. HEB ES AUF! Er gehorchte. Langsamen Schrittes trat er ins Schlafzimmer zurück und kniete sich zu seiner Brieftasche hinab, ehe er sie ergriff und zu sich nahm. Obwohl niemand es ihm in Worten befahl, öffnete er sie und griff in ein Seitenfach, dessen Größe gerade für eine Visitenkarte reichte. Das Gefühl hatte gewonnen, als er zitternd eine schmale, elegante Karte aus dem Fach zog und sie ansah. Sie war eng mit einer eleganten, schwarzen Schrift in kleinen Buchstaben beschrieben. Marc versank sofort in den Text, obwohl er ihn inzwischen so gut auswendig kannte. „Mein liebster Marc,“, stand dort in feinstem Französisch. „Es tut mir leid. Sanssoucis Untergang hat mich geschwächt, regelrecht getötet, und noch warst du zu schwach, um mich zu beschützen. Aber was wäre ich für eine Rattenprinzessin, wenn ein sinkendes Schiff mich in den Tod risse? Ich kehre zurück, Marc, wenn du bereit bist, mich zu bewahren. Such mich dann im dem Land, in dem mein Name geboren wurde. Halte Ausschau nach schwarzen Beeren. Du wirst wissen, wenn es so weit ist. Deine Mad Hatter“ Er drehte die Karte um, um einen Blick auf die in schwarzer Tinte gezeichnete Beerenstaude und einige weitere Sätze auf der Rückseite der Karte zu erhaschen. „P.S.: Zeige diese Karte niemandem, und erzähle keinem von unserem Treffen. Sie werden es nicht verstehen und ihr Geist ist zu klein, um es sich zu merken. Es reicht doch, wenn wir beide wissen, dass ich existiere – nicht wahr?“ „Ja, das reicht.“, antwortete er ihr, und wischte sich die Tränenspuren ab, die ihm plötzlich entsetzlich kindisch erschienen. Dann legte er die Karte kurz beiseite, zog sich an und setzte sich auf das Bett, neben Regine. Sie wachte von der doch etwas heftigen Bewegung sofort auf und blinzelte ihn unwillig und verschlafen an. „Marc? Was-“ „Es tut mir leid, aber es ist vorbei. Ich liebe eine andere.“, fuhr er ihr etwas schroff ins Wort, nach so vielen Trennungen noch immer unbeholfen. Das brachte sie für einen Moment zum Schweigen. Ein ihm wohl vertrauter Gesichtsausdruck zerfurchte ihre Stirn, er hatte ihn von allen Frauen und Mädchen geerntet, denen er von ihr erzählt und von denen er sich dann getrennt hatte. „Sie ist nicht real.“, erinnerte Regine ihn sanft. „Du hast sie dir eingebildet, als du klein warst. Jetzt bist du erwachsen – mit zwanzig jagt man keine Phantome mehr.“, in ihrer Stimme lag weder Vorwurf noch Spott. Nur Liebe und der Wunsch, ihm zu helfen. Es tat ihm leid, aber gerade weil sie so gut zu ihm war, verdiente sie diese Farce nicht. „Ist schon gut.“, sagte er und klang dabei etwas sanfter. „Ich mag dich sehr, Regine, aber selbst wenn sie ein Trugbild, eine imaginäre Freundin ist – ich kann einfach nicht so tun, als würde ich mich mit etwas anderem zufrieden geben.“ Er stand auf und sammelte einige Dinge ein, die er nachlässig in einem Rucksack verstaute. Regine hatte sich nun aufgerichtet, durch sein Packen vollends alarmiert. „Und was hast du jetzt vor?“, fragte sie ängstlich. „Wo willst du hin? Das hier ist deine Wohnung – wenn du so unbedingt von mir weg willst, kann ich doch einfach gehen?“ „Ich gehe nach England, schwarze Beeren suchen.“, antwortete Marc und lächelte sie an, während er seine Zahnbürste in den Rucksack gleiten ließ. Ihr Blick offenbarte die typische Verwirrung eines Gesunden, der einem Irren gegenüber steht. „Und dein Studium?“ „In England gibt es auch Universitäten. Wer weiß, vielleicht nimmt mich Oxford.“ Sie schüttelte den Kopf, ihr Mund stand offen. Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass sie durchaus auch wieder redete, auf ihn einredete, aber es interessierte ihn nicht länger, und so perlten die Worte irgendwie ungehört an ihm ab, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Das Gefühl hatte jegliche Zurückhaltung verloren. Es hatte sich von Vorwurf in Zufriedenheit verwandelt, als er, von seiner eigenen Sehnsucht wie von einem Marionettenfaden gezogen, hinaus in die Sommernacht Lyons trat. Seine Finger strichen gedankenverloren über die schmale Karte, und sein Tastsinn genoss die halbglatte Struktur des Kartons. Irgendwie fühlte er sich freier. „Du hast Recht.“, sagte er sanft zum Nachtwind. „Es reicht, wenn wir beide wissen, dass es dich gibt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)