Der Malar von TilyaDraug (Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen) ================================================================================ Kapitel 7: Moskitos - Tag 3 --------------------------- Gepeinigt von elenden Rückenschmerzen wälzte ich mich aus dem kuscheligen Gästebett, nachdem das laute Kreischen irgendeines Küstenvogels mich unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Ausgiebig streckte ich meine verkaterten Glieder und riskierte dabei einen Blick durch die runde Fensterluke neben dem Nachttisch. Die überwältigende Aussicht, die sich mir nun bot, entschädigte mich für alle vorangegangenen Strapazen. „Hier würde ich auch gerne wohnen.“ flüsterte ich bei mir, als ich die Schönheit des friedlichen, tiefblauen Meeres bewunderte, welches seine sanften Wellen mit einer unerschütterlichen Gleichgültigkeit an das kieselbedeckte Ufer schlug. „Du siehst gut aus, richtig entspannt und glücklich!“ bemerkte Vilthon später, als wir gemeinsam draußen vor dem Gemeindehaus zu Tisch saßen und uns mit Honigfruchtnektar gesüßten Nolmengrieß schmecken ließen. Ich lächelte. „Ich hätte nie gedacht, irgendwann einmal in fremde Dörfer zu kommen, und so offen und herzlich empfangen zu werden, so ganz unbeachtet meines merkwürdigen Äußeren. Das ist jetzt nämlich unerheblich für die Leute, denn für sie zählt im Augenblick nur unsere vermeintliche Absicht. Leider kann ich diesen Umstand nicht guten Gewissens genießen, denn unsere wohlwollenden Gastgeber kennen ja nicht die vollständige Wahrheit, wie beispielsweise den Ursprung des ganzen Übels. Gut, dass meine Eltern mit ihrer Aktion eine Vorarbeit geleistet haben, die es uns erspart, an jedem Ort unsere suspekte Geschichte durch die Blume zu erzählen.“ Vilthon schüttelte leicht entnervt den Kopf und sah mich streng unter zusammengezogenen Brauen an. „Über diese relativ bedeutungslose Problematik solltest du dir nun langsam wirklich nicht mehr so viele Gedanken machen, Kleine. Wie oft muss ich dir das eigentlich noch sagen? Konzentriere dich lieber mal auf die Dinge, die jetzt wichtig sind!“ „Und die wären?“ fragte ich neckisch. „Nicht so viel zu plappern, sondern schneller zu kauen, damit wir noch vor Sonnenaufgang aufbrechen können!“ gab Vilthon gespielt gereizt zurück und blinzelte mir schalkhaft über seine Teetasse hinweg zu. Ich fletschte die Zähne und streckte dem Alwen die Zunge heraus. Kurze Zeit später sahen die ersten Fischer des Dorfes uns fröhlich zum Abschied winkend die Hauptstraße entlang marschieren. „Wird dir eigentlich nicht unheimlich warm in diesen Klamotten?“ fragte Vilthon mich mit einem skeptischen Blick auf die lange Hose und das langärmelige Hemd, die im lauen Wind um meinen Körper flatterten. „Es geht, ist ja alles aus luftigem Leinenstoff. Außerdem kriege ich schnell einen Sonnenbrand.“ versuchte ich zu argumentieren, aber Vilthon konnte sich schon denken, dass ich mich vor Allem wegen meiner Echsenhautflecken genierte und sie deshalb mit möglichst viel Stoff zu verhüllen suchte. Wir kamen an einer Nolmenterrasse vorbei und erreichten gerade eine kleine Didigiplantage, als Vilthon beobachtete, wie ich mir fortwährend durch die Haare strich und zwischendurch mit launischer Miene die eine oder andere Feder auszupfte, die dann von der warmen Brise in Richtung der kultivierten Sumpfrohrpflanzen davon getragen wurde. „Tilya, was macht du denn da schon wieder? Manche Frauen flechten sich absichtlich bunte Federn von schönen Vögeln ins Haar und tragen sie als Schmuckstücke.“ „Du hast leicht reden.“ giftete ich ihn missmutig an. „Dich beglotzen die Leute ja auch nicht so dämlich.“ Erschrocken musterte der Alwe mich von der Seite. „Was ist denn auf einmal los mit dir? Hast du dich nicht eben noch darüber gefreut, dass dich bisher alle Leute so bedingungslos akzeptiert haben? Es hat bisher doch noch niemand eine dumme Bemerkung gemacht, von diesem jungen Verlieken mit den Querkenkneifern einmal abgesehen, oder?“ fragte er vollkommen verständnislos. „Keine Ahnung.“ knurrte ich unwillig. „Ich bin einfach nur genervt. Frauenprobleme. Verstehst du nicht. Im nächsten Dorf muss ich mal in ein Haus der Gesundheit, Spinnenwollband holen. Klar?“ Eingeschüchtert betrachtete Vilthon mich vorsichtig aus den Augenwinkeln. „Klar.“ bestätigte er schnell, ohne sich zu hundert Prozent sicher zu sein, was meine plötzliche Stimmungsschwankung nun tatsächlich veranlasst hatte. Mich plagten währenddessen unangenehme Unterleibsschmerzen. Ich zog meine Schuhe aus und ging nun ein kleines Stück abseits der Hauptstraße, die parallel zur Küste verlief, neben Vilthon her, so dass die sanften Wellen des rauschenden Meeres meine nackten Füße von Zeit zu Zeit umspülten und mir mein hitziges Gemüt kühlten. Ich versuchte mich von meinen weiblichen Unpässlichkeiten abzulenken, indem ich das Treiben der Fischerleute auf ihren kleinen Booten beobachtete, welche mit ihren Netzen, Angeln und Reusen Jagd auf diverse Meeresbewohner machten. „Sieh mal, Vilthon!“ schrie ich gegen den Wind an, der inzwischen ziemlich heftig um meine Alwenohren brauste, und deutete auf den großen Schwarm langhalsiger, abgerichteter Seevögel, die mit den Fischern gemeinsame Arbeit zu machen schienen. Vilthon schmunzelte und winkte mich zu sich heran, damit ich mich wieder neben ihm auf die befestigte Straße gesellte. Ich schritt schlurfend über das trockene, spröde Gras, das zwischen dem Kieselstrand und dem gepflasterten Pfad wuchs und schlüpfte dann mit halbwegs trockenen Füßen wieder in mein Schuhwerk hinein. Sichtlich erleichtert durfte Vilthon nun feststellen, dass sich meine Laune offenbar etwas aufgeheitert hatte und gemeinsam beobachteten wir nun fasziniert die bunten Libellen, die wie schillernde schwebende Edelsteine zwischen den Rohren der Didigi umherschwirrten und dort nach kleineren Insekten suchten. „Was wird denn hier wohl angebaut?“ fragte ich Vilthon und wies auf ein von engmaschigen Netzen und hauchdünnen Planen abgegrenztes Gebiet, das sich über einen kleinen Teil der Küste erstreckte und sich noch einige Mannslängen in die See hinein zog. Dunkelgrüne, glitschige Pflanzen, die wie eine Kreuzung aus Schachtelhalmalgen und gewöhnlichem Waldfarn anmuteten, wiegten sich im Rhythmus von Wind und Wellen auf und ab und verströmten den herrlich intensiven, salzigen Geruch von Tang und Seegras. „Sieht aus, wie das Zeug, das gestern Abend in diesem salzigen Joghurtsalat war.“ überlegte ich laut. Vilthon zuckte mit den Schultern. „Wenn du es genau wissen willst, dann frag doch einfach mal die Leute auf dem Floß dort drüben, die scheinen dieses Gewächs gerade zu ernten.“ schlug er vor. Doch ich bekam nur einen hochroten Kopf und winkte plötzliches Desinteresse vortäuschend ab, als ich die braungebrannten, sehnigen jungen Männer auf den Holzplanken erblickte, die geschäftig die triefenden Pflanzen aus dem Wasser zogen, vorsichtig auswrangen und in einen schwimmenden Behälter legten. Vilthon grinste belustigt. _____________________________________________________________________________ Als die Sonne ihre Mittagshöhe am Zenit erreicht hatte, gelangten wir endlich zum Brückendorf, welches man zunächst auf einer Landzunge gelegen vermuten konnte, denn seine Bewohner hatten einen großen Teil der Gebäude auf entsprechend erhöhten Fundamenten errichtet, deren Basen auf dem seichten Meeresgrund ruhten. Zahlreiche Brücken und Plattformen verbanden die einzelnen Bauten, oberhalb des Meeresspiegels miteinander. Spielende Kinder tobten, mit den Möwen um die Wette kreischend, umher und es duftete köstlich nach gebratenem Fisch. Plötzlich sichtete Vilthon Schwarzfuß, dessen heiseres Krächzen beinahe im allgemeinen Lärm unterging. Der Rabe glitt, in einem eleganten, kreisenden Gleitflug langsam an Höhe verlierend, hinab und landete gekonnt auf meinem weich gefiedertem Kopf um sich friedlich von Vilthon gleich zwei Briefe von der Kralle binden zu lassen. Der Alwe las stumm erst den Brief, der Auriannahs Handschrift trug, überflog dann den anderen Zettel, und legte dann die Stirn in Falten. „Was ist?“ fragte ich mit Besorgnis in der Stimme. „Anscheinend nicht Schlimmes, ruhig Blut!“ sprach Vilthon besänftigend. „Deine Eltern haben heute Morgen zufälligerweise diesen Brief hier von einem entfernten Verwandten aus dem Pfahldorf erhalten, welches wir übrigens noch heute Abend erreichen werden. Der Verfasser dieses Schreibens berichtet von einem seltsamen Vorfall, der sich kürzlich in seinem engsten Bekanntenkreis ereignet hat. Angeblich wurde dabei ein älterer Alwe von einem ähnlichen Traum heimgesucht, wie er auch vor einigen Tagen unserer Ioxannah widerfahren ist. Auch dieses Mal soll ein fremder Malar mit dem eigenen gerungen haben, bis er letztendlich vom Totem vertrieben werden konnte. Dem Großvater geht es wieder gut, aber seine Familie hat sich schreckliche Sorgen um sein altes Herz gemacht.“ Das Blut wich spürbar aus meinem Gesicht. „Spinnendreck. Das hätte schief gehen können.“ flüsterte ich betroffen. „Ist es aber nicht.“ tröstete mich mein Freund. „Schreib deinen Eltern doch gleich ein paar nette Worte zurück. Ihrem Brief nach zu urteilen machen sie sich schon wieder Sorgen um uns.“ Ich nickte stumm und betrat mit dem Alwen auf wackeligen Knien das Brückendorf. Wir wurden gleich von den Dorfbewohnern erkannt und ich, die ich mich sofort nach der Lage des hiesigen Hauses der Gesundheit erkundigte, wurde unverzüglich von einem kleinen Alwenmädchen bei der Hand genommen und unter schwachem Protest über einige Brücken hinweg in ein orange geziegeltes Haus gezogen. Einige Zeit später kam ich mit einigen Rollen Spinnwollband, einem glühend roten Gesicht und dem kleinen, grinsenden Kind im Schlepptau wieder heraus und wurde von ihm zur nächstgelegenen Anlegestelle einer kleinen Gondel geführt. Der wurmstichige Kahn schaukelte sanft auf dem Wasser, als wir zwei zierlichen Personen einstiegen. Gekonnt löste die kleine Alwin die Taue und steuerte das schwimmende Gefährt allein durch die Kraft ihres Talentes geschickt durch die schmalen Wasserstraßen zwischen den grauen, steinernen Gebäuden entlang. „Ist das Tier, das ihr jagt, böse?“ fragte mich das naseweiße Mädchen plötzlich unvermittelt. Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ist es nicht. Es hat sich nur verirrt und hat Hunger. Wahrscheinlich hat es mehr Angst vor unserer Welt, als wir vor ihm.“ Im Schatten der Brücken, unter denen die Gondel hindurch glitt, tummelten sich Schwärme glitzernder, rubinroter Fischchen. Ich erwiderte linkisch den Gruß einiger alwischen Damen, die uns in einem anderen Boot entgegenkamen, bevor das kleine Mädchen endlich den Kahn zu einem Holzsteg lenkte um ihn dort fest zu leinen. Erleichtert sprang ich aus der schwankenden Gondel und reichte der Kleinen die Hand, um auch ihr den Ausstieg zu erleichtern. Das Kind ergriff sie, wobei es mit einem breiten Lächeln eine große Lücke zwischen seinen Milchzähnen präsentierte. „Danke, Drachenmädchen!“ krähte es laut und deutete auf die Treppen, die links neben dem Steg hinauf in ein grün verklinkertes Gebäude führten. „Hier musst du hin, das ist unser Gästehaus! Dein Mann wartet dort schon! Gute Besserung!“ Ich schnappte empört nach Luft, verkniff es mir aber rechtzeitig, der Göre eine ordentliche Standpauke über gutes Benehmen zu halten und zog es vor, mich möglichst schnell von ihr zu verabschieden, bevor es noch richtig peinlich für mich wurde. Im geräumigen Gästehaus angekommen, wurde ich sogleich von einer rundlichen, knopfäugigen Verliekin begrüßt, die mich mit stolz geschwellter Brust an einen gedeckten Tisch im Speisesaal geleitete. Vilthon hatte schon auf einer langen Bank an der Tafel Platz genommen und schien ziemlich verloren zwischen all den kleinen Holzbrettchen, die beladen waren mit kleinen, teilweise undefinierbaren Delikatessen aus dem Ozean, die wahrscheinlich nur die wenigsten Hügeldorfbewohner jemals zuvor gesehen, geschweige denn gegessen hatten. Ich setzte mich Vilthon gegenüber und tauschte mit ihm über den Tisch hinweg verunsicherte Blicke, während sich die gute Dame neben uns auf einem Schemel nieder ließ, und ihre beiden Gäste erwartungsvoll beobachtete. Ich schluckte schwer, dann spießte ich mit einem Holzstäbchen zögerlich ein orangerotes Häppchen auf, welches mit einem hauchdünnen, dunkelgrün glänzenden Blatt umwickelt war. Dem intensiven Geruch nach zu urteilen, vermutete ich, dass es sich bei diesem Gemüse um die unbekannte Seepflanze handeln musste, die vor dem Dorf gezüchtet wurde. Fast hätte ich die Verliekin gefragt, was genau ich da nun eigentlich verspeisen sollte, doch die Höflichkeit verbot es mir. So hoffte ich einfach, dass dieser Bissen als Ganzes genießbar war, und das Grünzeug nicht nur dekorativen Zwecken dienen sollte, und stopfte mir mutig das Röllchen in den Mund. Vilthon hielt den Atem an, während er meine Reaktion abwartete. Der exotische, leicht fischige Geschmack, der sich jedoch nun auf meiner Zunge entfaltete, ließ mich mit vor Verzückung geschlossenen Augen in meinem Stuhl zusammensinken. „Wahnsinn, ist das lecker!“ seufzte ich genüsslich. „Ich beneide Ihre Nachbarn, Ihre Freunde und Ihre Familie, gute Frau!“ lobte ich die stämmige Verliekin ehrlich begeistert. Der erleichterte Vilthon ließ zischend die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen und probierte jetzt seinerseits zaghaft einige von den appetitlichen kleinen Happen, wobei er aber mich stets als Vorkosterin fungieren ließ, bevor er sich selbst an eine der unbekannten Speisen heranwagte. Während wir uns an der fremdartigen Hausmannskost des Brückendorfes gütlich taten, ließ es sich die hoch zufriedene Verliekin nicht nehmen, mich in die Geheimnisse ihrer Kochkünste einzuweihen, wobei ich auch nun endlich erfuhr, dass es sich bei den seltsamen, aromatischen Pflanzen um Strandfarn handelte, der als sehr nahrhaft und gesund galt und hier in fast jeder Mahlzeit Verwendung fand. Als Vilthon und ich uns an den exquisiten Spezialitäten der Brückendorfküche satt gegessen hatten, wurde der Verliekin noch einmal überschwänglich für diesen außergewöhnlichen Gaumenschmaus gedankt, bevor die nette Dame sich mit den besten Wünschen für die Weiterreise von uns verabschieden musste. Ich schrieb noch schnell einige belanglose Zeilen an meine Eltern, dann verschwand ich schnurstracks für einige Zeit im Bad, aus dem ich dann mit griesgrämigem Gesicht wieder herauskam. „Alles in Ordnung mit dir? Hast du das Essen doch nicht vertragen?“ fragte Vilthon mich fürsorglich, als er bemerkte, dass ich mir unwohlig mit der Hand über den Bauch fuhr. Dafür erntete er einen scharfen Blick aus meinen funkelnden Augen. „Du kapierst auch gar nichts, was? Ist auch besser so“ zischte ich verärgert, und stapfte dem ahnungslosen Alwen unwirsch voraus. Als wir aus dem Gästehaus kamen, rief ich mit barscher Stimme nach Kwantsch, warf ihm einen Brocken von dem Essen zu, das ich vorsorglich für ihn hatte mitgehen lassen, und beobachtete, wie er ihn gierig in der Luft verschlang. Dann wartete ich ab, bis sich der bestechliche Vogel auf dem Brückengeländer neben mir niederzulassen bequemt hatte, und band ihm schnell die Nachricht für meine Eltern an die Klaue, während Kwantsch auch noch den Rest seiner Mahlzeit in seinem großen Schnabel verschwinden ließ um darauf unverzüglich zurück ins Hügeldorf zu flattern. Vilthon und ich sahen dem schwarz gefiederten Briefboten noch eine Weile hinterher, dann machten auch wir uns auf, um gefolgt vom treuen Schwarzfuß unseren Weg fortzusetzen. „Wir sollten heute Abend vielleicht mit dem altem Alwen sprechen, der im Brief deiner Eltern erwähnt wurde.“ empfahl Vilthon nach einiger Zeit behutsam, als er glaubte, dass ich mich wieder etwas gefangen hätte. Ich nickte verlegen. Mittlerweile tat es mir schon wieder leid, meinen besten Freund vorhin in so einem ruppigen Tonfall angefahren zu haben. Aber wenn er von Frauen tatsächlich so wenig verstand, wie er es heute erfolgreich unter Beweis gestellt hatte, wunderte es mich leider wirklich nicht mehr länger, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Natürlich konnte ich ihm diese traurige Erkenntnis nicht so ohne weiteres an den Kopf werfen, denn ich ahnte, dass der Alwe noch lange nicht über Calissas Verlust hinweg war und sich allein die Schuld an ihrer Trennung gab. Freundschaftlich klopfte ich Vilthon auf die Schulter, worauf mein Freund mich mit argwöhnischer Skepsis musterte. Gerührt schlang ich meine Arme um seinen Hals und drückte ihm aus einem Impuls heraus einen dicken Kuss auf die Wange. Er war doch neben meinen Eltern das Liebste, was ich auf dieser Welt hatte! Vilthon zog nur die Mundwinkel kraus und schwieg vorsichtshalber. Heute wurde er wohl einfach nicht schlau aus mir. Wir kamen an einer kleinen Fischfarm vorbei und Vilthon zeigte sich tief beeindruckt von der enormen Größe der flachmäuligen Perlenwelse, die sich in dem relativ flachen, warmen Wasser tummelten. Ich musste meinen Freund förmlich von dem langen, dürren Alverlieken wegreißen, der Vilthon in ein längeres Gespräch über Fischzucht zu verwickeln drohte. ____________________________________________________________________________ Am frühen Abend endlich gelangten wir in eine deutlich belaubtere Gegend, deren fruchtbarer Boden von zahlreichen schmalen, von schlanken Schilfpflanzen gesäumten Bächen durchzogen wurde, an welchen wir unsere Feldflaschen auffüllen konnten. Die Hauptstraße, die nun immer häufiger über kleine Brücken führte, lenkte ihren einst parallelen Verlauf zur Küste zusehends in Richtung des Landesinneren hin ab und lotste uns mitten durch ein dicht verzweigtes, von vielen Wasserschildkröten bewohntes Flusssystem. Bald wucherten die Sumpf- und Wasserpflanzen in einem solchen Umfang, dass sie den Blick auf das Meer vollkommen versperrten, was ich mit einem Seufzer der Enttäuschung zur Kenntnis nahm. „Wir müssten bald da sein.“ bemühte sich Vilthon, der meine Lautäußerung falsch deutete, mich zu trösten. Am blassblauen Abendhimmel über uns begann Schwarzfuß mit einem Mal laut zu zetern, stieß in einem halsbrecherischen Sturzflug, der Kwantsch alle Ehre gemacht hätte, dicht bei uns hinab und fing an, ungewohnt wilde Flugmanöver hinter unseren Rücken zu vollführen. Vilthon stutzte, wandte sich ruckartig um und starrte konzentriert in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Da war doch was faul! Schwarzfuß verstummte plötzlich und flüchtete schnurstracks in die dichte Krone eines Querkenbaumes. Irgendetwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Das nackte Entsetzen ließ mich erstarren, als ich in die Geräuschkulisse der idyllischen Umgebung hinein horchte und nun auch das bedrohliche, immer lauter werdende Brummen gewaltiger, durch die Luft schwirrender Insektenflügel in ihr vernahm. „Riesenmoskitos!“ flüsterte Vilthon. „Auch das noch!“ hauchte ich. „Weg hier!“ So schnell uns unsere Beine trugen rannten wir die unebene Hauptstraße hinunter, wobei der Inhalt von Vilthons Rucksack, der bei jedem hastigen Schritt auf seinem Rücken auf und ab hüpfte, unsere panische Flucht mit einem monotonen Scheppern untermalte. Mir kam der unpassende Gedanke, dass wir augenblicklich wohl einen äußerst amüsanten Anblick für einen unbeteiligten Betrachter abgegeben hätten, doch diese heikle Situation erlaubte es momentan wahrhaft nicht, darüber zu scherzen. Der Stich der Riesenmoskitos, die gewöhnlich von dem Blut der größeren Lebewesen auf dieser Insel lebten, konnte für Alwen und Verlieken zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden. Der flexible, scharf endende Saugrüssel dieses Insektes war dazu in der Lage, äußerst schmerzhafte und tiefe Wunden bei den bedauernswerten Opfern zu verursachen, die im schlimmsten Fall heftige entzündliche Reaktionen nach sich zogen oder gar zu unstillbaren Blutungen mit Todesfolge führen konnten. Vilthon und ich hetzten im Sprint auf das Pfahldorf zu; die spitzen Giebel der ersten kegelförmigen Hausdächer waren bereits über dem Meer der hochwüchsigen Pflanzen zu erkennen. Vilthon wagte einen Blick über die Schulter und keuchte erschrocken auf. Mindestens sieben Riesenmoskitos rasten im Tiefflug hinter uns her und holten erschreckend schnell auf. „Spinnendreck!“ brüllte ich. „Spar dir den Atem!“ brüllte Vilthon zurück. „Schaffen wir es bis zum Dorf?“ „Nein!“ lautete die ernüchternde Antwort des Alwen. Aus schreckgeweiteten Augen warf ich ihm einen schockierten Blick zu. „Was!?“ „Lauf weiter, Tilya! Ich habe eine Idee!“ rief Vilthon. „Was für eine Idee denn? Ich lasse dich doch nicht allein mit diesen Viechern!“ schrie ich entrüstet zurück. „Sollst du ja auch gar nicht! Lauf einfach den Weg entlang, über die nächste Brücke hinüber, immer weiter geradeaus, Richtung Dorf, und sieh dich ja nicht um!“ „Was hast du denn vor, Vilthon?“ Mein Herz klopfte wie wild vor Angst. „Wirst du merken, Kleine! Jetzt lauf, so schnell du kannst und kümmere dich nicht um das, was hinter dir geschieht!“ befahl der Alwe unnachgiebig. „Vilthon…“ wollte ich beginnen, um meinen besten Freund von seinem indifferenten Vorhaben abzubringen, doch dieser bedachte mich darauf hin mit einem derart strengen Blick aus seinen grauen Augen, dass ich nur noch folgsam nicken konnte. Wir näherten uns mit jagenden Herzen der Brücke, doch als wir sie endlich erreicht hatten, hörte ich daraufhin nur noch das dumpfe Geräusch meiner eigenen Schuhe über die morschen Holzbretter poltern. Tränen der Verzweiflung rannen mir über die Wangen, als ich plötzlich das rauschende Tosen aufpeitschender Wassermassen hinter mir vernahm. Während ich noch rannte, bemerkte ich, dass das Surren der Moskitos beinahe unmerklich von einem unheimlichen, hohlen, raschelnden Säuseln übertönt wurde. Trotz Vilthons eindringlicher Warnung blickte ich zurück und sah meinen Freund mit gebieterisch erhobenen Armen neben der Brücke am Fluss stehen. Direkt vor ihm schoss das Wasser in einer Fontäne in die Höhe und wurde wie von Zauberhand in hohem Bogen auf die Blutsauger gelenkt. Die pergamentartigen Flügel der Tiere sogen sich mit dem Flusswasser voll, und sie purzelten, sich kreuz und quer überschlagend, auf die steinige, von der Mittagssonne noch aufgewärmte Straße. Ich jauchzte auf und vollführte einen übermütigen Luftsprung. Schwarzfuß verließ sein Versteck und flog unter Triumphgeschrei über mich hinweg. Ich wartete, bis Vilthon mich eingeholt hatte, dann spurteten wir gemeinsam hinter dem Raben her, auf direktem Wege zum Pfahldorf. „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht umsehen, sondern weiter rennen?“ keuchte Vilthon vorwurfsvoll. „Du kennst mich doch!“ erwiderte ich lachend, und wischte mir flugs die letzten Spuren meiner Tränen aus den Augen. „Ja, allerdings…“ knurrte Vilthon. „Und jetzt guck nach vorne und lauf weiter; wir sollten nämlich besser im Dorf ankommen, bevor die Flügel dieser kleinen Monster getrocknet sind.“ „Zu Befehl, der Herr!“ ulkte ich schelmisch und verfiel in einen albernen Hopserlauf, bis ich dem Alwen damit doch noch ein kleines Schmunzeln entlocken konnte. Endlich erreichten wir das umzäunte Pfahldorf, in welchem die Überzahl der Wohnhäuser in Form von schmucken Holzlauben auf schlanken Pfosten thronten, welche aus dem von vielen kleinen Bächen und Rinnsalen durchfeuchteten Sumpfgebiet ragten. Als wir die Treppe hinter den hölzernen Tor hinaufstiegen, fiel uns beiden ein Stein vom Herzen. Über eine breite, stabile Hängebrücke gelangten wir auf die untere Ebene des zweistöckig strukturierten Wohn- und Arbeitsbereiches der Gemeinschaft. Unter uns wälzte sich ein fettes Kaktuswaranmännchen genüsslich grunzend im Sumpf. Hier waren wir in Sicherheit. „Ich wusste gar nicht, dass du dein Talent so effektiv nutzen kannst, Vilthon.“ bemerkte ich nachhaltig überrascht, als ich im Geiste das jüngst überstandene Abenteuer für mich reflektierte. „Du hast doch immer behauptet, du könntest nur schwache Wind- und Wasserströme umlenken, aber was ich eben mit ansehen durfte, glich eher einem handfesten Wirbelsturm als einer sanften Brise! Das war einfach fantastisch!“ Vilthon lächelte verlegen. „Ich wundere mich selbst, Kleines. Angeblich verleiht einem das Totem in Gefahrensituationen besonders wirkungsvolle Fähigkeiten. Bisher durfte ich das oft beschriebene Phänomen noch nie am eigenen Leib erfahren. Doch wie wir gesehen haben, ist an dieser Theorie tatsächlich etwas Wahres dran. Glück, für uns beide.“ Mein begeistertes Grinsen gefror. „Glück? Wie? Du bist dir also gar nicht sicher gewesen, ob deine spontane Aktion überhaupt funktionieren würde? Und mich hast du trotzdem dazu gezwungen, einfach weiter zu rennen? Du hättest dabei drauf gehen können!“ Vilthon zog die Nase kraus. „Du hältst jetzt wohl lieber mal deinen Schnabel, junge Dame. Ich habe dich schließlich ausdrücklich darum gebeten, dich nicht nach mir umzusehen und strikt weiter bis zum Dorf zu laufen. Und was musste ich sehen? Dass das Fräulein stehen geblieben ist! Was wäre, wenn ich vorhin versagt hätte? Was wäre, wenn dich dann die Moskitos nur deswegen erwischt hätten, weil du nicht auf mich hören wolltest? Du solltest mir einfach blind vertrauen und dich vollkommen auf mich verlassen, Tilya, so wie ich mich auch auf dich verlassen können will. Ich habe deinen Eltern versprochen, auf dich aufzupassen, und ich werde sie nicht enttäuschen.“ „Das ist doch kein Grund, dich Hals über Kopf in den Tod zu stürzen, Vilthon! Du hättest mich doch wenigstens wissen lassen können, was du vorhast!“ murrte ich. „Dramatisiere die Sache jetzt bitte nicht, Liebes!“ „Na, das sagt der Richtige!“ giftete ich ihn an. Ich war vollkommen aufgewühlt. „Versetze dich doch mal in meine Lage! Hättest du mich denn einfach den Moskitos überlassen? Wir sind Freunde, Vilthon. Wenn dir nun was passiert wäre!“ Der Alwe wandte sich mitten auf der schaukelnden Hängebrücke, die wir gerade überquerten, zu mir um und zog mich in seine Arme. „Es ist mir aber nichts passiert, Kleine. Nun hör doch endlich auf, mich auszuschimpfen. Was sollen denn die Leute von uns denken?“ Versöhnlich drückte er mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. Obwohl ich widerwillig knurrte, konnte Vilthon mir bestimmt an der Nasenspitze ansehen, dass ich ihm nicht mehr wirklich grollen konnte. Er kannte mich schließlich schon mein ganzes Leben lang und wusste, dass ich jetzt vielmehr die eben ausgestandene Sorge um das Leben meines besten Freundes hinter meiner mürrischen, abweisenden Fassade zu verbergen suchte. Kurze Zeit später trafen wir auf dem überfüllten Gemeindeplatz ein, wo sich die ganze fröhlich lärmende Dorfgemeinschaft zum Abendmahl versammelt hatte. Wir wurden sogleich zu Tisch gewunken, doch bevor wir beiden hungrigen Reisenden uns den köstlichen gedämpften Süßwasserfischen, Flusskrebsfilets und Muscheleintöpfen zuwandten, suchten wir in der unübersichtlichen Schar speisender Einwohner nach dem alten Alwen, von dem in der letzten Nachricht aus dem Hügeldorf die Rede gewesen war. Dies erwies sich in Anbetracht der wilden Geräuschkulisse als äußerst langwieriges Unterfangen, doch endlich wurden Vilthon und ich zu einem kleinen, weißbärtigen alwischen Greis geführt, der seinen letzten Alptraum allem Anschein nach recht gut verwunden hatte und einen recht unbefangenen, entspannten Eindruck auf uns machte . Leider bekamen wir von dem senilen Alten kaum etwas zu hören, was wir nicht schon längst aus dem Brief erfahren hatten, und so nahmen wir beide zu Seiten des schrulligen Großvaters Platz und ließen uns von ihm einige Kellen Muschelsuppe in die leeren Teller gießen. Ungezwungen unterhielt ich mich mit dem greisen Alwen und erkannte erfreut, dass der Besuch meines Malars keinen gewichtigen Eindruck bei dem gesprächigen, munteren Alten hinterlassen zu haben schien. Später, im Schlafraum des Gästehauses, und nach einer ausgiebigen kalten Dusche gelang es mir allerdings erst, die Aufregung, die dieser Tag mit sich gebracht hatte, hinter mir zu lassen. Ich kuschelte mich in die weichen Spinnenwolldecken und freute mich auf eine ordentliche Portion Schlaf, welcher seit dem Ausbruch meines Malars frei von jeglichem Inhalt war. Ich pochte noch zweimal mit den Fingerknöcheln an die dünne Holzwand, neben der mein Bett aus Didigirohr aufgestellt war, und empfing einige Augenblicke später zufrieden lächelnd die zurückgrüßenden Klopfgeräusche meines besten Freundes, den ich heute glücklicherweise nicht an die blutrünstigen Riesenmoskitos verloren hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)