Asylum von Pudel (Die Wahrheit über den Wahnsinn) ================================================================================ Kapitel 31: II.XXII ------------------- Akt II: Enjoy the Aslyum Szene XXII Das Frühlingsfest ist noch nicht einmal eine halbe Stunde alt, doch Farin ist schon geflüchtet. Aber wer hat eigentlich anderes erwartet? Diese ganze fröhliche Ausgelassenheit, die versucht ein Leben zu feiern, welches man als solches im Grunde kaum bezeichnen sollte, sie passt ihm nicht. Am Kragen nicht und auch nicht an dem Saum seiner viel zu kurzen Hose. Und das hat nur sehr wenig damit zu tun, dass diese Feierlichkeit zum Teil doch sehr aufgesetzt wirkt. Ist doch nicht nur für ihn die Anwesenheit vielmehr Pflicht als Kür. Jubel, Trubel, Heiterkeit. Der Unterschied zwischen „drin“ und „draußen“ ist verschwindend gering. Und so hat sich auch nicht viel an seiner Abneigung gegenüber solchen Festen getan. Es war und ist einfach nichts für ihn. Punkt. Egal, wie sehr sein Therapeut meint, dass ihm Ablenkung gut täte, egal wie hartnäckig Bela in seinen Überredungskünsten ist. Deswegen würde er sein Versteck, eine kleine abgelegene, durch eine Weide verborgene Bank im hintersten Winkel des Gartens, auch um nichts in der Welt verlassen. Außerdem hat er von hier aus einen sehr guten Blick auf das Geschehen und ist dennoch ein Teil des Ganzen. Sozusagen. Nur halt aus sicherer Entfernung. Bela kreist wie ein kleiner Wirbel umher, scheint fast so etwas wie der heimliche Gastgeber zu sein. Wenn man denn auf einer Feier von Leuten, die sich zwangsweise jeden Tag sehen, überhaupt einen braucht. (Ein Fakt, der dieses ganze Fest ohnehin sonderbar macht, aber Farin hat schon lange aufgehört, den Sinn einzelner „Therapieansätze“ zu hinterfragen.) Doch macht der Kleinere seine Sache gut, versucht die Aufmerksamkeit gerecht aufzuteilen und jeden mit einzubeziehen. Sogar Rod. Der hat sich aufgrund seiner ganz eigenen Schranken im Gemeinschaftsraum verschanzt und die Bar übernommen. Oder besser gesagt, den Ausschank eines wirklich magenschädigend süßen Fruchtpunsches. Wobei er aber doch ganz glücklich aussieht. Mit jenem wunderbaren Blick auf das ganze Treiben, den er durch das Panoramafenster hat, diesem kleinem Stückchen Kontrolle, welches ihm überlassen wird. Dann ist da noch Kat, die sich, wie einige andere Damen der Station auch, richtig in Schale geworfen hat und mit der wärmenden Frühlingssonne um die Wette strahlt. Tanzende Kreise zu unsichtbarer Musik zieht und ihr viel zu weites Kleid (XXS war wahrscheinlich aus) flattern lässt. Für den Moment, den es braucht, zwischen einem Sonnenstrahl und dem strahlenden Weiß ihres Kleides zu unterscheiden, flammt in Farin das Bild von roten Haaren und grünen Augen auf. Ein Stich. Irgendwo zwischen Herz und Magen. Aber auch das geht vorbei und es ist wieder still. Um ihn und in ihm. Es dauert eine Weile, bis Farin bemerkt, dass Bela mit Kat den Diskofox tanzt. Zum Einen liegt das an Kats bauschigem Kleid, das nicht nur eventuelle Makel ihrer Figur, sondern auch ihre Tanzschritte verbirgt. Aber den größten Teil der Konfusion liefert die Tatsache, dass Bela sich kein Stück an Rhythmus und Geschwindigkeit der Musik hält, die Farin leise nach draußen dringen hört, sondern Kat nach Lust und Laune entweder langsam wiegt oder wild herumwirbelt. Das ist Bela: Wer ist er denn, sich den Takt von der Musik vorschreiben zu lassen und von der Gesamtsituation die Laune? Kats Kleid entfaltet sich und bauscht sich auf unter Belas dirigierender Hand, in der ihre kleine fragile beinahe verschwindet, Farin sieht ihr strahlendes Lächeln aufblitzen und in einer Wolke fliegenden Haars verschwinden, als sie sich dreht. Farin als anerkannter Bewegungslegastheniker versteht nicht viel vom Tanzen, aber in seinen Augen ist Bela ein exzellenter Tänzer: Er hat den nötigen Pathos für die Show und das nötige Selbstbewusstsein, um über seine Unkenntnis hinwegzutäuschen. Er ist ein Blender, aber geht es nicht ohnehin nur darum? Zu blenden, Farin erlaubt sich einen Moment des Neids. Dann widmet er sich wieder seinem eigenen kleinen Glück, das sich für heute auf das Muster beschränkt, das die Sonne zwischen Ästen hindurch auf seine Haut malt, und auf die Ruhe und den Abstand, die er sich erschleichen konnte. Man wird bescheiden. Langsam lehnt er sich zurück, bis er das morsche Holz der Bank an seinem Rücken spürt, blinzelt in den Himmel. Dieses unendliche Blau wird nur von einzelnen blassen Schleiern durchbrochen, bei denen man noch nicht einmal auf den Gedanken an das Wort Wolke kommt. Er schließt die Augen. Es ist wirklich Frühling. Man kann es an den leuchtenden Farben sehen, an der wärmenden Sonne spüren, ja, der Blonde meint es sogar fast schmecken zu können. Gleich einem winzigen Tropfen Tau auf der Zunge. Alles ist neu. Lebend. Bewegt. Der Winter ist ein einziger Stillstand. Kalter Abschied und Grab der Welt zugleich. Sein Gift frisst sich langsam durch die Venen, lässt einen zu Eis erstarren, in einem Augenblick, in einem Gefühl. Der Frühling jedoch. Der Frühling ist schon immer Farins Lieblingsjahreszeit gewesen. So oft ist er mit seinem Motorrad dem ersten warmen Wind hinterhergejagt. Hat kühle Nächte an Lagerfeuern verbracht. Eine Welt erkundet, die noch nicht ist, sondern erst entsteht. Diese Bilder, sie ziehen an ihm vorbei, manchmal flackernd, manchmal messerscharf. Eine Diashow aus Erinnerungen. Krokusse in Südfrankreich, und ein Meer, das selbst für einen Wahnsinnigen zu kalt wäre. Aber Farin auf Reisen ist über Wahnsinn hinaus, über Kälte erhaben, glücklich und in Bewegung. Zwei Zustände, die sich gegenseitig zu bedingen scheinen. Schweden, in dem Schnee zu Graupel zu Regen zu den ersten herrlichen Sonnenstrahlen wird; die kleinen Geräusche, die die jungen Birkenblätter im Wind machen. Farin entdeckt ein junges Reh (ein junges Reh entdeckt Farin und verschwindet). Farin läuft barfuß durch den Wald, dessen Boden so schwarz ist, dass er gemalt scheint. Abends holt er vier Grad kaltes Wasser aus dem Brunnen und schrubbt seine Füße, bis sie rosa sind. Die japanische Luft, die nur im Frühling rein genug erscheint, um den so lang verwahrten Notatemzug ausstoßen und seine Lungen bis zum Rand damit füllen zu können. Farin könnte von der süßen frischen Luft leben, nie wieder etwas anderes zu sich nehmen. Kirschblüten. Farin wundert sich, und Wunder finden ihn. Farin fragt nicht, und er denkt es nicht laut, aber heimlich vermutet er, dass er der glücklichste Mensch der Welt ist. Leise schleicht sich die Melancholie ein, vielleicht ist es auch Fernweh. Farin mag es nicht bestimmen. Doch sind diese Gefühle willkommen, machen ihm keine Angst. Sie sind so vertraut wie ein alter Freund - deshalb umarmt er sie auch wie einen alten Freund. Seit er denken kann, ist er von diesem Fernweh getrieben, von der Sehnsucht nach der Weite, dem Unendlichen im Endlichen. Dem Drang, nicht still stehen zu müssen, sondern immer weiter und weiter und weiter zu gehen. Gleich einem Motor, der ihn immer wieder antreibt. Früher ging es dabei um Kilometer. Heute um Schritte. Das Prinzip ist dasselbe. Es sind diese Gedanken, die Farin den dunklen Schatten nicht merken lassen, der sich über ihn legt. Erst als eine kühle Hand in seinen Nacken greift, seinen Kopf weiter nach hinten zieht, wird er sich dessen bewusst. Und erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange. Lediglich die Augen öffnen sich schreckensweit und finden sich in einem anderen, grünen Paar wieder, in dem der Schalk blitzt. „Hierhin hast du dich also verzogen. Tz. Hat dir nie jemand den Sinn einer Party beigebracht? Wobei… warte. Du als alte Jungfer wurdest wahrscheinlich noch nicht mal eingeladen. Sei‘s drum. Trotzdem bist du ein Kameradenschwein. Mich mit der ganzen Arbeit allein zu lassen.“ Wie beiläufig lässt Bela seinen Nacken los, ist mit einem Sprung über der Bank und neben ihm. Seine vielen Ketten klirren dabei leise vor sich hin und übertönen Farins lautes Aufatmen. Wobei der Ältere es in seiner Ignoranz wohl ohnehin nicht wahrgenommen hätte. „Es gibt ein Unterschied zwischen „Nicht eingeladen werden“ und „Nicht hingehen“, aber es wäre wohl vergebene Mühe dir das zu erklären, weil du wahrscheinlich selbst dann hingegangen bist, wenn du NICHT eingeladen warst.“ Farin klingt immer noch ein wenig atemlos, aber entweder merkt Bela das auch nicht oder es stört ihn nicht. Zumindest räkelt der sich erst mal ausgiebig auf der Bank und scheint mit sich und der Welt ganz zufrieden. „Kumpel, wo ich bin da IST Party. Ich muss dafür nicht zu einer eingeladen werden. Und lenk nicht vom Thema ab.“ „Wieso? Du scheinst doch ganz gut allein zu Recht zu kommen. Du kreist um dich selbst und alle kreisen um dich. Was fehlt denn noch?“ Endlich hat der Blonde seine Contenance wiedergefunden, zusammen mit seinem Abstand zu Bela. Scheint dieser heute doch sehr körperkontaktfreudig. „Du kreist nicht um mich. Das ist der Punkt. Und es ist schwieriger, als es aussieht. Ich muss zum Beispiel aufpassen, dass Kat sich bei dem ganzen Rumhüpfen nicht die Knochen bricht. Oder Rodrigo sich vor lauter Frust im Punsch ertränkt. Wahlweise vielleicht auch aus Versehen Rum hinein kippt. Wobei das ein interessantes Experiment abgeben würde.“ Ein typisches Bela-Grinsen. Die Katze hat sehr viel Spaß im Mauseloch. Farin ist stets wieder erstaunt, dass der Ältere sich in seinem Narzissmus immer noch selbst überbieten kann. Und wird sich dabei langsam sicher, dass es rein gar nichts mit Belas Krankheit zu tun hat, sondern mit seinem eigenen gottgegebenen verdorbenen Charakter. „Das ist deine einzige Sorge? Dass ich nicht an deinem Rockzipfel hänge? Deine Probleme möchte ich haben, wirklich. “ „Hey, sei bitte etwas netter zu mir, ja? Immerhin habe ich für dich gelogen. GELOGEN, okay? Und das nur mehr als einmal. Echt… der Kleine wollte mir gar nicht mehr von der Pelle rücken. Wollte immer wissen wo du bist. Ich musste meine ganze Phantasie anstrengen, um mir jedes Mal was Neues einfallen zu lassen und dein kleines Versteck nicht zu verraten.“ Farin ist, gelinde gesagt, verwirrt. Eigentlich gehört es nicht zu Belas Eigenschaften, Dinge für sich zu behalten. Eher schreit er sie mit einem riesigen Megaphon in die ganze Welt hinaus. Aber bekanntlich macht ja alles Neue der Mai. Vielleicht auch bei Bela. „Danke.“ Ein Wort, das sein Gegenüber wohl nicht oft hört. Wahrscheinlich auch aus gutem Grund. Schon bald nämlich schüttelt der Kleinere seinen Kopf, so wild, dass die Haare fliegen. „Versteh mich nicht falsch, umsonst ist nur der Tod.“ Während er spricht, nestelt er an der Tasche seiner Hose rum, die eigentlich viel zu eng ist, um irgendetwas hinein zu tun. Aber wo ein Wille ist, ist ja auch immer ein Weg. Wobei Farin auf diesem Weg jetzt sehr gerne ein Stoppschild aufgebaut hätte, ahnt er doch nur das Schlimmste. „Du weißt schon, eine Hand wäscht die andere und so.“ Natürlich weiß er. Der berühmte Haken. „Ich kann mich nicht erinnern, darum gebeten zu haben. Aber ich denke mal, dass das vollkommen egal ist, richtig?“ Statt einer Antwort kommt Bela ihm, wieder einmal, gefährlich nah. Es ist erstaunlich, ja fast schon erschreckend, wie paralysierend der andere auf ihn wirkt. Farin möchte nicht wissen, was passieren würde, wenn Bela diese seltsame Macht, die er über ihn besitzt, eines Tages missbraucht. In diesem Punkt ist er auf Belas Vernunft angewiesen. Was in etwa genauso viel Sicherheit birgt wie ein Seiltanz an einer scharfkantigen Klippe. „Richtig.“ Das Grinsen des anderen wird noch breiter, wenn das überhaupt im Bereich des Möglichen liegt. Die Hand, die sich zu seinem Ohr bewegt, kann Farin nur erahnen und dann geht alles auch recht schnell. Ein viel zu lautes Rascheln, ein leises „Plopp“ und dann ist der einzelne Kopfhörer schon an seinem Platz. „In-Ear“, schießt es am Rand von Farins Verstand vorbei, doch dann ist das Detail auch schon wieder verschwunden. An dessen Stelle tritt eine leise Melodie, ruhig, unaufgeregt und eigentlich viel zu langsam für Bela. Irgendwo meint der Blonde auch einen Text zu verstehen, aber um diesen wirklich zu fassen, ist das Lied zu leise. So beobachtet er nur, wie Bela sich seinerseits den anderen In-Ear anzieht und vorsichtig aufsteht. Das Kabel zwischen ihnen ist angespannt, doch noch hält die fragile Konstruktion. Eine ausgestreckte Hand. Eine Einladung. „Tanz mit mir.“ In jedem anderen Moment hätte Farin Bela ausgelacht, ihm einen Vogel gezeigt oder zumindest eine abfällige Bemerkung gemacht. Doch in dieser Sekunde, in diesem Augenblick… Die Sonne scheint gebrochen durch die herabhängenden Äste der Weide, spiegelt sich in Belas schwarzem Haar, das im Licht einen leichten Braunstich verrät. Von irgendwoher hört er ein fröhliches Lachen, das sich mit der Musik vermischt, und im Wind liegt ein leiser Duft von Flieder und etwas anderem, das Farin nicht beschreiben kann. In dieser Sekunde, in diesem Augenblick… …ist es das Natürlichste auf der Welt, Belas Offerte anzunehmen und sich auf die Beine ziehen zu lassen. Keine Angst vor den Händen in seinen Nacken zu haben, die ihn näher an den Kleineren dirigieren. Diesen fremden Körper, der sich katzenhaft an ihn schmiegt, anzunehmen, statt ihn abzustoßen. Vorsichtig beginnt Farin sich in dem Takt, den Bela und das Lied vorgeben, mit zu wiegen. Er ist steif, mehr ein Brett als ein Mensch. Sein Oberkörper liegt so starr und jede Bewegung scheint zu schmerzen, unsichtbare Nadeln durch seine Nerven zu jagen. Doch es wird besser. Sekunde für Sekunde. Irgendwas schlägt da in seiner Brust, lässt seinen Puls höher schlagen. Es ist als würde sich Schorf von einer Wunde lösen, helle Haut enthüllen, empfindsam zwar noch, aber heil. Gesund. Es verwirrt Farin und doch ist es ihm gleich, und diese Gleichgültigkeit verunsichert ihn noch mehr. Ein fragender Blick zu Bela. Fast schon verzweifelt. Dessen Grinsen hat sich in ein Lächeln verwandelt und als wolle er ihm sagen: Alles ist richtig. Alles ist gut. Allein, Farin fehlt der Glauben. Unbehagen will in ihm aufsteigen, und doch, da ist kein Platz. Stattdessen scheint irgendetwas in ihm aufzutauen und in diesen Fluten alles mit sich zu reißen. Alle Angst. Alle Zweifel. Alle Unsicherheit. Alles fort. Ungelenk folgen Farins Beine Belas ersten Schritten. Ein einfacher Kreis. Mehr nicht. Von Beine, die Jahre tiefsten Winterschlaf gehalten haben, darf man nicht mehr erwarten. Doch es scheint zu reichen. "Schüttel deine seekranken Beine im Takt, so gut wie du kannst…"* Es braucht einen Moment bis der Größere begreift, dass es der Text des Liedes ist. Dann befindet er, dass es passt und lässt sich für die Zeitspanne eines kleinen Glücks einfach fallen. Direkt in Belas Armen. --------------------------------------------------------------------------------- * Die Zeile stammt aus dem Lied: "Frau Himmelblau bittet zum Tanz" vom wunderbaren Gisbert zu Knyphausen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)