Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Prolog: Nur ein Augenblick -------------------------- Wenn du aufhörst, es zu suchen, findest du das Glück. (Johann Wolfgang von Goethe) Ich glaubte förmlich zu spüren wie der Muskelkater sich auf den morgigen Tag freute, an dem er mich mit aller Macht überfallen könnte. Wenigstens sah also einer von uns dem nächsten Tag entgegen. Männer in edel aussehenden Geschäftsanzügen gingen an mir vorbei, warfen mir mitleidige und teilweise auch spöttische Blicke zu. Keiner kam auf die Idee, mir zu helfen, nein natürlich nicht, Gott bewahre, da könnten sie sich ja den Anzug schmutzig machen. Oder – oh nein – das Mädchen, also ich, transportierte vielleicht kiloweise Drogen durch die Stadt – morgens um halb acht, als ob ich nichts Besseres zu tun hätte. Eitle Lackaffen! Ich würde den Koffer auch ohne deren Hilfe den Berg hochkriegen und wenn es den ganzen Morgen dauern würde! Auch wenn ich rein theoretisch nicht mehr so viel Zeit hatte, mein Termin war immerhin um acht Uhr. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange und machten meine Arme noch mit, so dass ich schließlich mit meinem Koffer wieder auf ebenem Grund stand. Und da sage noch einmal jemand, dass man leichter reisen würde, wenn der Koffer Räder hat. Bei meinem sah ich davon nämlich nichts – er rollte immer nur fröhlich nach unten. Sehr unvorteilhaft, wenn ich doch nach oben wollte. Aber vielleicht sah mein Koffer das auch als Metapher für mein Leben; stetig geht es abwärts. Wenigstens passierte ich endlich das hässliche graue Gebäude, dessen Schild stolz Tagesklinik in geschwungener Schrift verkündete. Und mit den Besuchern eben dieser machte ich auch gleich Bekanntschaft, da sie neugierig aus dem Fenster sahen. Als ob sie das erste Mal einen Menschen mit einem Koffer sehen würden, echt mal. Ich verzichtete darauf, ihnen eine eindeutige Geste zuzuwerfen und lief weiter. Hektische Beschäftigkeit herrschte auf dem Gelände, das ich betrat. Autos fuhren umher und hupten wie verrückt, sobald ich der Straße auch nur annähernd zu nahe kam, in weiß gekleidete Angestellte huschten quer über die Straße und das Parkgelände, um schneller an ihr Ziel zu kommen. Ich hasste diese Hektik und war mir da bereits sicher, dass ich hier absolut fehl am Platz war. Aber ein Zurück gab es nun auch nicht mehr, das hier war meine letzte Chance, wenn ich nicht unter der Brücke schlafen wollte. Vor einem hässlichen eidottergelben Gebäude blieb ich erneut stehen, um eine Sportgruppe vorbeizulassen. Bäh, wie konnte man so früh am Morgen nur Sport treiben? Mir reichte schon das Koffer ziehen. Vor der gläsernen Tür, durch die ich auch gehen wollte, blieb die Gruppe wieder stehen. Genervt von der Unterbrechung, ließ ich meinen Blick über die Anwesenden schweifen, um etwas zu finden, worüber ich mich gedanklich mokieren konnte – als ich plötzlich das Gefühl hatte, mein Herz würde für einen Moment aussetzen. In der hinteren Reihe stand ein Junge, ungefähr in meinem Alter, die Hände in die lange Sporthose vergraben, ein leicht spöttisches Lächeln auf dem Gesicht. Die blauen Augen schienen von innen heraus zu leuchten. Aber das wirklich Auffallendste an ihm waren seine Haare. Noch nie zuvor hatte ich Haar gesehen, dass so silbern glänzte. In seinem Nacken war es zusammengebunden, aber es fiel ihm glatt bis an die Hüfte. Für einen Moment vergaß ich bei diesem Anblick Luft zu holen, doch es wurde mir schon nach dem Bruchteil einer Sekunde wieder bewusst, so dass ich wieder einatmete. Mein atemloses Staunen schien er zwar mitbekommen zu haben, doch er reagierte nicht darauf – was ich ihm hoch anrechnete. Ich musste unbedingt wissen, wer er war. Doch gerade als ich meinen Mut zusammentrommelte, um ihn nach seinem Namen zu fragen, setzte die Gruppe sich wieder in Bewegung. Schweigend sah ich zu wie sie alle gehorsam in das Gebäude trabten. Erst als die Tür hinter dem Letzten wieder zufiel, kehrte das Leben in meinen Körper zurück. Hastig lief ich ebenfalls weiter und stolperte einen Moment rückwärts, als mein Koffer mich mit seinem ganzen Gewicht daran erinnerte, dass er auch noch an meiner Hand hing. Langsam und mühselig ging es bei mir also weiter. Bis ich die drei Stufen vor der Tür überwunden hatte, war die Gruppe im Inneren längst verschwunden. Aber das war nicht das, was noch weiter an meinen Nerven fraß – sondern die Erkenntnis, dass ich den Koffer auch noch in den ersten Stock hochtragen musste, denn ein Aufzug war weit und breit nicht zu sehen. Während ich die Treppe erklomm, verfluchte ich denjenigen, der dieses Gebäude geplant und denjenigen, der es schließlich gebaut hatte. War ein Aufzug wirklich zuviel verlangt gewesen? Eine Rolltreppe hätte es auch getan. Oben angekommen wurde ich noch vor einer weiteren Glastür begrüßt. Neugierig sah ich hindurch, aber auf dem Flur dahinter herrschte gähnende Leere. Wo waren alle nur? Ich öffnete die Tür und ging hindurch, nur um von einer gespenstischen Stille empfangen zu werden. Ein Willkommenskomitee war also auch zuviel verlangt wie es aussah. Ich widerstand der Versuchung, laut nach jemandem zu rufen, denn ein Schild verriet mir bereits, dass mein Ziel sich nur wenige Meter links von mir befand. Eine sichtbar gelangweilte Krankenschwester befand sich in dem Raum und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Fast schon tat es mir Leid, sie stören zu müssen – aber nur fast. Laut und bestimmt klopfte ich gegen den Türrahmen, da die Tür selbst weit offenstand. Die Krankenschwester zuckte zusammen und wandte mir ihren Blick zu. Die goldbraunen Augen erinnerten mich automatisch an Honig – und daran, dass ich den ganzen Morgen nicht gefrühstückt hatte. „Wie kann ich dir helfen, Liebes?“, fragte sie mit einer zuckersüßen Stimme, die mich nicht nur an ihrem Alter, sondern auch an ihrem Beruf zweifeln ließen. Von ihrer Oberweite wollte ich gar nicht erst anfangen. „Das ist doch die offene Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, oder?“, hakte ich noch einmal vorsichtshalber nach. Sie nickte schmunzelnd und wiederholte ihre Frage. Die folgenden Worte erforderten einiges an Überwindung von mir, aber nun war ich so weit gekommen, da würde ich keinen Rückzieher machen: „Ich bin Leana Vartanian – und ich habe hier einen Termin um 8 Uhr für die stationäre Aufnahme.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)