Sirenenfang von Ur (Immunität ist alles) ================================================================================ Kapitel 5: Nichts ----------------- »Sie hat dich geküsst?«, fragt Leo vollkommen verdattert und starrt mich an, als hätte ich ihr eben die Apokalypse verkündet. Ich fühle mich, als hätte ich gerade eine schwere Grippe überstanden. Nur das Fieber ist scheinbar immer noch da. Jedes Mal, wenn Leo Callas Namen erwähnt, wird mir unangenehm warm und ich komme mir schon total paranoid vor, weil ich mich andauernd nach allen Seiten umdrehe, um zu sehen, ob Calla hier irgendwo mit ihrem riesigen Hund herumläuft. Leo ist zu mir an die Uni gekommen, ich habe gerade zwei Stunden frei und wir sitzen an einem Tisch in der Nähe der Caféteria und trinken heiße Schokolade. »Ja… einfach so! Erst sagt sie mir, sie wäre kein Mädchen für eine Nacht und dann rückt sie mir auf die Pelle! Ich meine, was soll das? Was will sie eigentlich von mir?«, ereifere ich mich entrüstet und rühre so heftig in meiner Schokolade, dass Sahne zu allen Seiten spritzt. Leo wischt sich geistesabwesend einen Klecks Sahne vom Unterarm. »Erinnerst du dich noch an dieses Lied?«, fragt sie nachdenklich und tunkt ihren Zeigefinger in das Sahnehäubchen auf ihrer Schokolade, dann schiebt sie sich in den Finger in den Mund und leckt ihn gedankenverloren ab. Ich muss nicht zu Steffi hinüber sehen, um mitzubekommen, dass sie sicherlich gleich anfängt zu sabbern. Meine beste Freundin ist halt eine geile Sau. »Welches Lied?«, frage ich total perplex, weil ich im Moment wirklich andere Sachen im Kopf habe. Calla zum Beispiel. »Na das Lied, das Calla gesungen hat, den Abend, als sie dich anschließend zu einer Kippe nach draußen gebeten hat«, sagt Leo und sieht mich gespannt an. Ihr Gesicht wirkt erleuchtet. Ich glaube, all diese Bücher über Allgemeinbildung, Religionen und Geschichte tun ihr nicht gut. Jetzt führt sie sich schon auf wie Buddha. »Ich hab doch nicht auf die Lieder geachtet«, sage ich stirnrunzelnd. Leo schüttelt leicht den Kopf. »Sicher, du warst abwechselnd mit deiner Asiatin und Calla beschäftigt. Hätte dir gut getan, mal zuzuhören, ich erinnere mich grad an die Textzeilen. Hat sie nicht so was gesungen wie ‚and then I turn away, keep the distance, watch your back when you don’t see it’?. Und dann irgendwie noch... warte, ich hab’s gleich... ‚close your ears and keep on going as the siren sings’. Weißt du nicht mehr, dass ich dich den Tag als Sirene betitelt habe?« Ich sehe sie an und weiß wirklich nicht, wovon sie redet. »Wie kannst du dir so was nur merken?«, frage ich verständnislos und nehme einen Schluck Schokolade. »Darum geht’s doch gar nicht!«, sagt Leo ungeduldig und wedelt mit der Hand in meine Richtung, »Glaubst du nicht, dass sie dich damit gemeint hat?« Mitten in der Bewegung halte ich inne. Steffi starrt Leo immer noch an. Ich starre Leo auch an. Mir wird plötzlich wieder sehr heiß und ich frage mich, ob ich eventuell bald eine dicke Erkältung bekomme. Schüttelfrost ist garantiert ein sicheres Zeichen dafür. »Wie? Mich? Hä?« Ich habe mich selten geistreicher angehört. Leo findet das offenbar auch, denn sie lacht. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass du so mit Calla beschäftigt bist, dass du kaum noch einen klaren Gedanken fassen kannst«, meint sie scheinheilig. Ich schnaube verächtlich. »So ein Schwachsinn! Ich denke überhaupt nicht an sie!« Aber ich weiß, dass das glatt gelogen ist. Ich denke tatsächlich an nichts anderes mehr und die Vorlesungen und Seminare gleiten an mir vorbei wie inhaltslose Wortsalate. Leo scheint zu wissen, was in mir vorgeht, denn sie seufzt wie unter einer schweren Last und sieht mich an, als sei mein Gehirn aus Glas. »Melli, ich kenne dich, seit ich drei Jahre alt bin. Wir haben eine Menge Scheiße zusammen gemacht und ich weiß sehr wohl, dass du nichts von Gefühlen hältst. Aber vielleicht darf ich dir sagen, dass es absolut nichts bringt, Gefühle zu leugnen, wenn sie denn nun einmal doch da sind. Man kann nicht durchs Leben marschieren und ernsthaft glauben, dass Gefühle an einem immer und immer wieder abprallen…« Ich sehe Leo ungehalten an und nehme einen großen Schluck heißer Schokolade. In meinem Kopf spielt wiederholt die Szene vor Callas Haustür, in der sie mich innig küsst. Es ist mir vor mir selbst peinlich, wenn ich daran denke, wie wackelig meine Beine geworden sind, als sie mich geknutscht hat. Aber ich weiß auch, dass mir vor Leo nichts peinlich sein muss. Wir kennen uns schon so lange und wir wissen alles voneinander. »Na schön«, schnaube ich und sehe meine beste Freundin missmutig an, »ich finde sie interessant. Aber mehr nicht. Von Gefühlen kann keine Rede sein!« Leo seufzt und fährt noch einmal mit ihrem Zeigefinger durch die Sahne auf ihrer Schokolade, als wolle sie mir mit dieser resignierten Geste mitteilen, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Den Rest des Tages lasse ich die Uni sausen. Es hat keinen Sinn mich in die Vorlesungen und Seminare zu setzen, wenn ich ohnehin nichts von dem aufnehmen kann, was die Dozenten mir erzählen. Dummerweise sind Semesterferien noch lange nicht in Sicht und so muss ich mich doch noch zu Hause hinsetzen und mich durch Texte über gotischen Baustil wühlen. Die nächsten Wochen bin ich so mit Arbeiten für die Uni beschäftigt, dass ich nicht einmal Zeit habe, am Wochenende wegzugehen. Leo beklagt sich schon bei mir, aber was soll man machen. Ich möchte meinen Durchschnitt von 1,4 gerne halten und daher lasse ich meine Freizeit ein wenig kürzer treten. Zeit für eine heiße Schokolade mit Leo ist natürlich immer drin, wir setzen uns auch – sofern das Wetter es zulässt – ab und an noch in den Park, doch jetzt geht es deutlich auf den Winter zu und schon Anfang November sind die Läden voll mit glitzernder Weihnachtsdeko und mit Schmuck beladenen Tannenbäumen. Ich mache mir nicht viel aus Weihnachten, Leo jedoch liebt all den Trubel und die Lichter und vor allem den Weihnachtsmarkt, der Ende November bei uns in der Stadt auftaucht. Meine abgegebene Hausarbeit hat eine befriedigende 1,2 bekommen, die Klausurentermine sind im Januar und ich komme mir ein wenig vor wie eine Streberin, weil ich schon Mitte November damit anfange, meine Notizen zu ordnen. An einem ziemlich stürmischen Freitag werde ich daran erinnert, dass es da irgendwo in meinem Hinterkopf noch jemanden gibt, über den ich möglichst wenig nachdenke und den ich auch schon über einen Monat nicht mehr gesehen habe. Trotzdem ist Calla nicht aus meinem Kopf und meinen Gedanken verschwunden, wie das normalerweise der Fall ist, wenn ich einmal ein Mädchen hatte. Von vielen meiner Eroberungen weiß ich noch nicht einmal den Namen. Den muss man ja auch nicht wissen, wenn man nur Sex will. Wenn ich bedenke, dass ich abgesehen von Callas Namen, ihrem Alter und ihrem Studiengang auch noch den Namen ihres elenden Riesenköters kenne, dann sollte ich mich eventuell fragen, ob mein Interesse sich noch im gesunden Rahmen bewegt. Es ist früher Abend und ich habe Leo versprochen heute Abend mal wieder mit ihr auszugehen. Sie hat mir gesagt, dass Hanna nicht mitkommen kann, weil sie mit ihren Eltern übers Wochenende zu einer Familienfeier fährt. Wir treffen uns heute schon um halb sieben, weil wir vorher noch ein bisschen quatschen wollen und ich bin pünktlich bei Leos Wohnung und werde prompt hereingelassen. Leos Haare fliegen ihr um den Kopf wie ein Kraut und Rüben. Sie hat so widerspenstige Locken, dass sie sie eigentlich immer zum Zopf trägt. Offenbar ist sie dazu noch nicht gekommen. Sie grinst mich an und ich ziehe meine Schuhe aus, bevor ich mich in ihrem Wohnzimmer aufs Sofa werfe. »Und? Hat Hanna mittlerweile ihren Eltern gesagt, dass sie eine Freundin hat?«, erkundige ich mich bei ihr und Leo seufzt leise, was mir schon Antwort genug ist. Ich verdrehe die Augen. »Also nein«, sage ich etwas säuerlich. Dieses ganze Versteckspiel macht Leo sicherlich noch irgendwann wahnsinnig, denn Hanna hat bisher nur ihrer besten Freundin erzählt, dass sie mit einem Mädchen zusammen ist. Leo sagt Hanna immer, dass sie ihr Zeit gibt und dass es nicht eilt, aber ich weiß genau, wie viel es Leo bedeuten würde, wenn sie einfach mal durch die Fußgängerzone gehen könnte und dabei Hannas Hand halten darf. Aber das geht nicht. Aus Hannas Sicht zumindest. »Erst kriegt sie es nicht gebacken, sich selbst einzugestehen, dass sie auf Frauen steht und dann stolpert sie schon in die nächste Krise. Wie kriegt dieses Mädchen überhaupt sein Leben geregelt?«, entrüste ich mich. Leo setzt sich neben mir aufs Sofa und sieht mich halb kläglich, halb vorwurfsvoll an. »Sie hat halt Angst, dass ihre Eltern es nicht akzeptieren und dann nicht mehr mit ihr reden oder so…«, erklärt sie. Ich verdrehe die Augen. »Wenn ihre Eltern so intolerant sind, dann sollte Hanna sich mit dem Arsch auf ihre Meinung setzen. Ihre Eltern sollten sich glücklich schätzen, dass ihre Tochter so eine tolle Freundin gefunden hat!« Leo lächelt unweigerlich und piekt mich in die Wange. »Du bist süß«, sagt sie leise. Ich brumme nur, breite die Arme aus und sie lässt sich gegen mich kippen, damit ich sie umarmen kann. »Wenn du meine Freundin wärst, dann würd’ ich es der ganzen Welt erzählen wollen«, sage ich leise und Leo kichert matt gegen meine Schulter. »Irgendwo in dir steckt eben doch eine romantische Ader«, sagt sie. Ich grummele und zur Vergeltung für diesen Satz fange ich an sie zu kitzeln. Wir betreten unsere Stammbar und Leo strahlt zufrieden. »Endlich wieder mit dir hier. Callas Band spielt heute wieder«, sagt sie und legt ihren Arm um mich. Ich gebe ein undefinierbares Geräusch von mir und frage mich, ob ich es gut oder schlecht finden soll, dass ich Calla nach ziemlich langer Zeit wieder sehe. Aber spätestens um zehn Uhr weiß ich, dass ich mich nicht freue, weil sie immer noch genauso lässig und genauso cool ist und mich immer noch genauso ignoriert wie schon am Anfang. Ich könnte kotzen. Unwillig verziehe ich mich an die Bar, als ihre Band anfängt zu spielen und genehmige zwei Tequila hintereinander. Sie spielen ‚Run’ von Snow Patrol. Ich mag das Lied. Aber die Tatsache, dass ich eine Gänsehaut von Callas Stimme bekomme, mag ich nicht. Sie klingt immer noch wie Marta von Die Happy und ich finde das überhaupt nicht witzig, dass sie sich anhört wie die Sängerin meiner Lieblingsband. Und dieser Hut, den hasse ich auch. Weil der ihr so verteufelt gut steht. Mein Magen fühlt sich an, als hätte ich eine Menge Wodka- Ahoi getrunken, als ich ihren Mund anstarre und mir wieder einfällt, wie es sich angefühlt hat, diesen Mund zu küssen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich sie gerne noch einmal küssen würde. Oder auch zweimal. »To think I might not see those eyes, makes it so hard not to cry...« Callas Stimme sei verflucht. Leo sollte mich nicht Sirene nennen. Das sind doch diese komischen Sagengestalten, die singen und Männer verführen und deren Stimmen keiner widerstehen kann. Ich kann nicht singen und Männer verführe ich auch nicht, denke ich missmutig zwischen zwei weiteren Tequila. Während ich darüber nachdenke, ob ich noch einen Schnaps möchte, tritt eine kleine Gestalt neben mich, die mir bekannt vorkommt und im nächsten Augenblick fällt mir ein, woher ich sie kenne. Es ist die kleine Asiatin, die Calla damals verscheucht hat. Sie lächelt mich leicht glasig an und ich hab ihren Namen schon wieder vergessen. »Hi«, sage ich lässig und trete ein Stück näher zu ihr. Sie wird augenblicklich rot und räuspert sich. »Hallo«, meint sie mit leicht zittriger Stimme. Leo steht irgendwo an der Bühne und hört der Musik zu. »And I can barely look at you, but every single time I do, I know we’ll make it anywhere away from here…« Kurz huschen meine Augen zur Bühne und ein Blitz fährt durch meinen Körper, als ich sehe, dass Calla mich beim Singen direkt anblickt. Das Lied ist im nächsten Augenblick zu Ende und Calla kündigt ‚There she goes’ von ‚Sixpence none the richer’ an. Ich wende den Blick hastig von ihr ab, strecke eine Hand nach der kleinen Asiatin aus und ziehe sie zu mir. Seit über einem Monat hatte ich kein Mädchen mehr. Seit Callas Kuss, um genau zu sein. Was natürlich nur daran liegt, dass ich so viel mit der Uni zu tun hatte. »Darf ich dich küssen?«, schnurre ich der Kleinen ins Ohr und sie gibt ein Geräusch von sich, das nach Zustimmung klingt, also küsse ich sie fordernd auf den Mund und spüre, wie sie in meinen Armen erzittert. »Für jemanden, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht«, höre ich Calla sagen und mir wird heiß bei dem Gedanken, dass sie mich damit meinen könnte. Aber während ich die Kleine küsse, rede ich mir krampfhaft ein, dass ich nicht, absolut gar nichts für Calla fühle und dass sie mir schon noch aus dem Kopf gehen wird, wenn ich mich nur gründlich genug mit anderen Mädchen beschäftige. »There she goes again, racin’ through my brain.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)