Nur Buchstaben von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 1: ✗✗✗ -------------- Love starts with a smile and grows with a kiss Wo genau Julien diesem Spruch zum ersten Mal begegnet war, wusste er nicht mehr: Vielleicht im Radio, in der Zeitung oder im Fernsehen. Möglicherweise hatte ihm jemand auch von ihm erzählt. Aber bei einer Sache war sich Julien sehr sicher. Dieses englische Sprüchlein war doch totaler Unsinn, das glaubte kein normaler Mensch. Höchstens diese romantisch veranlagten Mädchen aus seiner Klasse, aber er als logisch denkender 16-Jähriger nahm so etwas nicht ernst, nie im Leben. Warum hatte er sich denn noch nie in ein Mädchen verliebt, obwohl ihn sicher schon mehr als eins angelächelt hatte? Irgendetwas in dieser tollen Theorie konnte also nicht stimmen, der Erfinder davon wollte ihn sicher nur hineinlegen. Ende der Geschichte, Schluss mit dem Thema. Niemals würde das eintreten. Die lang erwartete Klassenfahrt stand vor der Tür und Julien freute sich, die nächsten Tage vor dem Grauen der Schule erlöst zu sein. Selbst wenn ihre Jugendherberge im hintersten Winkel der Welt lag oder es vier Tage lang durchregnete, konnte es nicht schlimmer als der normale Alltag sein. Noch leicht verschlafen packte Julien seine letzten Sachen – das Handy, den MP3-Player und einige T-Shirts, die sein Vater ihm in letzter Sekunde vor die Zimmertür gelegt hatte – zusammen, zog sich sein grünes T-Shirt und seine Lieblingsjeans an, räumte halbwegs die restliche Unordnung in seinem Zimmer weg und schlurfte in die Küche, wo sein Vater und seine kleine Schwester schon fleißig am Frühstücken waren und eigentlich nur darauf wartete, dass Julien sich auch endlich blicken ließ. Zwar brauchte er sich heute nicht so zu beeilen wie gewöhnlich, aber es hatte sich bei ihnen eingebürgert, immer zusammen zu essen. „Bist du fertig?“ Sein Vater hielt ihm eine Brotdose entgegn. „Im Keller müssten noch zwei Flaschen Wasser stehen, hast du genügend Batterien dabei? Du weißt, dass sie ziemlich teuer sind.“ „Ja, Papa.“ Seit seine Mutter nicht mehr da war, versuchte sein Vater krampfhaft, ein guter Ersatz für sie zu sein, nur merkte man sehr oft, dass er davon eigentlich nicht wirklich Ahnung hatte. „Keine Panik, ich hab alles dabei, was ich brauche.“ Zumindest glaubte Julien das und zur Not lieh er sich etwas von seinen Klassenkameraden, die gaben prinzipiell gerne ihre Sachen an andere. Mit etwas Bestechung erreichte man wirklich viel. Nicht besonders hungrig kaute Julien an seinem Müsli, hinderte seine Schwester Clara daran, ihm die Schokostückchen aus der Schüssel zu stehlen und überzeugte seinen Vater, dass er mit seinem Rucksack und der überfüllten Sporttasche auf keinen Fall zu Fuß zu Schule laufen konnte. „Wofür hast du eigentlich zum Geburtstag ein neues Fahrrad bekommen?“ „Zum Ansehen, Papa. Außerdem kann ich das nicht vier Tage lang an der Schule stehen lassen, sonst knackt mir einer dieser Idioten das Schloss und nimmt das Rad mit.“ Wäre nicht das erste Mal, dass an seiner Schule geschah. Nachdem er das Geschirr in die Spülmaschine geräumt und Clara beim Ranzenpacken geholfen hatte, putzte sich Julien die Zähne, verstaute sein gesamtes Waschzeug so gut er konnte in einem freien Eckchen der Tasche und wartete, dass sein Vater bereit war, ihn an den Treffpunkt zu fahren. Mit etwas Verspätung kam Julien am Zielort an, verabschiedete sich von seinem Vater, dem es sichtlich schwer fiel, seinen Sohn für vier Tage aus den Augen zu lassen, und stellte sich zu einer Gruppe Jungs, mit denen er eigentlich öfters am Wochenende etwas unternahm. Als richtige Freunde würde Julien sie nicht unbedingt bezeichnen, aber um die Langweile tot zu schlagen, reichte es allemal. Mehr brauchte er auch eigentlich nicht. Der Bus, mit dem sie die nächsten drei Stunden zur Jugendherberge fahren sollten, kam ebenfalls nicht besonders pünktlich, weshalb Juliens verzögerte Ankunft kaum auffiel und niemanden einen Grund gab, sich darüber zu beschweren. Nachdem das Gepäck von 23 Jugendlichen und zwei Lehrern erfolgreich in den Bus verladen worden war, begann das Gezanke um die Sitzplätze, weil fast alle hinten sitzen wollten und das am liebsten gleich mit allen ihren Freunden, was überhaupt nicht möglich war. Aber das interessierte kaum jemanden. Genervt von diesem unnötigen Chaos verzog sich Julien auf einen freien Sitz im Mittelteil und versuchte abzuschätzen, wie groß die Chance war, dass er heute sein Plätzchen mit jemanden teilen würde oder ob nur sein Rucksack ihm Gesellschaft leisten durfte. Von den Mädchen kam sicher keins, die fanden ihn aus gutem Grund nicht besonders interessant, und von den anderen Jungs hatte er sich in letzter Zeit ziemlich zurückgezogen, sodass er bezweifelte, überhaupt freiwillig in ein Zimmer aufgenommen zu werden. Aber daran war er seiner Meinung nach selbst schuld. Juliens Rucksack wurde ihm vor die Füße gestellt und als er such zur Seite drehte, um festzustellen, wer das getan hatte, blickten ihn Sammys ausdruckslose Augen an. „Hoffe, dass ist okay für dich.“ „Klar.“ Und selbst wenn dem nicht so wäre hätte Sammy sich wohl kaum wegbewegt. Einmal einen Platz für sich entdeckt ließ er sich nicht so schnell wieder vertreiben. Wer zum ersten Mal mit dem Namen 'Sammy' konfrontiert wurde, vermutete dahinter einen kleinen, aufgedrehten Jungen, der in einer Tour plapperte und Blödsinn anstellte. Nur leider hielten sich Spitznamen nicht an solche Klischees, sondern waren einfach nur die Abkürzung von Samuel – in diesem Fall Samuel-Roman –, weil er seinen eigentlichen Namen nicht mochte und auf 'Sam' gar nicht reagierte. Auf Sammy dafür umso mehr, obwohl er fast 1,90 Meter groß war, so gut wie nie den Mund aufbekam und mit einem Gesichtsausdruck durch die Gegend lief, als wäre er permanent schlecht gelaunt oder zumindest stark genervt. Richtig lächeln hatte Julien Sammy noch nie gesehen, aber genauso wenig wirklich in aggressiver Stimmung. Nicht einmal, wenn ihm jemand seinen Kaffee über die Jacke verschüttete, hin umrannte, oder er eine schlechte Note schrieb. Sammy blieb immer ruhig und das verunsicherte fremde Menschen oft, weshalb sie insgeheim Angst vor ihm hatten. Dabei tat Sammy keiner Fliege etwas zuleide, das hatte Julien persönlich mitbekommen, als er ein paar verirrte Schnecken vom Radweg ins Gebüsch gerettet hatte. Leider achteten viele nur auf das äußere Erschienungsbild und stempelten Sammy von vorneherein als potentiell gewalttätigen Jugendlichen ab, nur weil seine Ruhe auf sie schon leicht bedrohlich wirkte. Seufzend suchte Julien seinen MP3-Player aus seinem Rucksack hervor und schaltete ihn an. Sammy würde sowieso mit ihm keine Konversation anfangen. Nicht, weil er ihn nicht leiden konnte, sondern weil er das nie tat, reden gehörte nicht zu seinen Fachbereichen, das überließ er anderen Menschen. Die Fahrt verlief tatsächlich schweigend zwischen ihnen, während um sie herum die Welt unterging, zumindest vom Lärm her zu urteilen. Aus undefinierbaren Gründen durfte man auf Klassenfahrten nie leiser als ein voll aufgedrehtes Radio sein, sonst wurde man verdächtigt, die Stimmung zerstören zu wollen. Endlich blieb der Bus vor einer typischen Jugendherberge stehen und alle sprangen auf, um am schnellsten draußen den Koffer ins Innere zu ziehen oder in Juliens Fall zu tragen. Bei einem Zimmer im zweiten Stock nicht gerade ein Traumjob, aber für ihn als Junge kein Problem. „So, jetzt müssen wir euch auf die Zimmer verteilen“, verkündete ihr Klassenlehrer wenig begeistert. Es gab wesentlich angenehmerer Tätigkeiten als störrische Jugendliche zu überreden, mit fast fremden Gleichaltrigen – man ging ja nur seit einem halben Jahrzehnt in eine Klasse – für ein paar Tage ein Zimmer zu teilen. Einer blieb immer übrig, der erst nach viel hin und her ein Platz für sich fand und später meckerte immer einer darüber. Das erste Problem tauchte natürlich bei den Mädchen auf: Fünf Stück wollten in ein Viererzimmer und keiner zeigte Nachsicht. Nach einigem Angezicke löste eine zusätzliche Matratze in diesem Zimmer die Angelegenheit und alle waren glücklich. Bis auf die sechs Mädchen, die jeweils zu zweit in das einzige Zweierzimmer ziehen wollten. Kurzerhand wurde ausgelost und die Mädchen verschwanden mehr oder weniger zufrieden schon in ihre neuen Räume, um alles einzurichten. Die Jungs meisterten die Situation wesentlich schneller; Sammy wurde zu der 'coolen' Fraktion verfrachtet, Julien zu Sebastian und Paul, mit denen er öfters herumhing, und der Rest wusste, mit wem er sich in den folgenden Tagen in einem Zimmer aufhalten sollte, ohne in einen Dauerstreit verstrickt zu werden. Ausnahmsweise gab es in den Zimmer keine Doppelbetten, sodass die qualvolle Wahl zwischen oben und unten schlafen ausfiel und nur die Frage mit dem genauen Ort geklärt werden musste. „Ich will am Fenster schlafen!“ Julien hoffte, dass sein Wunsch akzeptiert wurde, denn eigentlich schlief er immer mit Licht, aber so viel er wusste seine Zimmermitbewohner nicht, weshalb er wenigstens ein bisschen Helligkeit vor dem Einschlafen brauchte. „Kannst du gerne“, meinte Sebastian sofort und legte seine Sachen auf dem Bett an der Wand gegenüber dem Fenster ab. „Mich stört das sowieso nur.“ „Wenns sein muss.“ Man sah Paul an, dass er lieber den Platz von Julien eingenommen hätte, aber da er die speziellen Anfragen von speziellen Menschen nicht abschlug, um schnell seine Ruhe zu haben, ließ er es zu. Vier Tage würde er es überleben. Erleichtert begann Julien seine Kleidung in den Schrank zu räumen, den Waschbeutel im Bad abzustellen und die restlichen Kleinteile auf dem Tisch in der Mitte abzulegen. Auf irgendeine Weise musste man diesen tristen Räumen ein wenig Persönlichkeit geben, wenn man sich hier länger aufhielt. Sebastian und Paul sahen das ein bisschen anders, denn kaum hatten sie ihre Taschen in eine Ecke gelagert, machten sie sich auf den Weg, das Gebäude und auch die Umgebung zu erkunden. Julien vermutete eher, dass sie dringend rauchen wollten. Nach einer Stunde Erholung von der Busfahrt und dem Auspacken wurden alle Schüler zusammen gesammelt, um gemeinsam die Stadt zu erkunden, was Julien nicht sehr begeisterte. Sie blieben doch nicht einmal eine Woche, wieso sollte sie also das Drumherum so intensiv erleben? So wie er die anderen kannte, suchten die sowieso nur alles nach einem Klamottenladen oder dem nächsten Zigarettenautomaten ab. Und er selbst hielt sich wahrscheinlich die meiste Zeit nur drinnen auf. Während sie sich ihren Weg durch die unübersichtlichen Straßen suchten und die Aussicht bewunderten, fragte sich Julien, was wohl für den Nachmittag auf dem Plan stand. Sicher irgendein Museum, eine Kirche oder ein extrem professioneller Gang durch diese Stadt hier, Hauptsache Kultur, die man ungebildeten Jugendlichen mit Computersucht und Schminkvernarrtheit eintrichtern konnte. Seufzend beobachtete er die Menschen, die ihnen schiefe Blicke zuwarfen, sie aber weiter nicht beachteten und ihrem Alltag nachging. Das Leben als Schüler war wirklich nicht einfach. Egal was man tat, immer fanden Erwachsene etwas daran, worüber sie sich beschweren konnten. Dabei waren sie früher sicher genauso gewesen, darauf verwettete Julien seine Packung Batterien, die er leider zuhause vergessen hatte, so wie das Wasser. Hoffentlich merkte sein Vater das nicht, sonst rief er vielleicht noch deswegen an. „Und das hier ist ein Stein aus dem...“, versuchte der Lehrer das Interesse für Geschichte in seinen Schülern zu erwecken, nur hörte ihm keiner zu, außer vielleicht Sammy, bei dem man nie genau wusste, ob er sich auf eine Sache konzentrierte oder mit den Gedanken ganz woanders war. „Ja, und das ist ein Mülleimer der Stadtverwaltung, total wichtig“, imitierte Leo, einer der selbsternannten coolen männlichen Teilnehmer, die enthusiastische Stimme ihres Lehrers und fing sich dadurch böse Blicke der begleitenden Lehrerin ein. Natürlich sagte diese nichts dagegen, schließlich musste sie ihre Prüfung als vollwertige Lehrkraft noch ablegen und eine ihr feindlich gesinnte Klasse brachte ihr nur Nachteile. In diesem Punkt konnte Julien sie fast verstehen. Pünktlich zum Mittagessen kehrten sie in die Herberge zurück und schnell zeigte sich, dass diejenigen, die die Hälfte ihrer Tasche mit Süßigkeiten und Schokolade gefüllt hatten, eindeutig im Vorteil waren, da das Essen wie erwartet niemanden schmeckte. Außer den Lehrern, obwohl diese als Vorbild alles aßen, wie gerne behauptet wurde. Sogar Sammy schob nach einigen Bissen seinen Teller zur Seite und beschäftigte sich intensiv mit dem Inhalt seines Glases, der aussah wie Orangensaft, dafür aber wie aufgelöste Brausetabletten schmeckte. „Und für so etwas geben meine Eltern Geld aus“, fluchte Melanie und erhielt gemurmelte Zustimmung ihrer Freundinnen. „Die reinste Abzocke, ich werd denen hier was erzählen.“ „Ich will wieder nach Hause, da gibt es wenigstens was Essbares“, klagte ihre Sitznachbarin Petra und augenblicklich erstellten alle Mädchen zusammen einen Plan, wie sie es am schnellsten schafften, alle zurück nach Hause zu kommen. Am Nachmittag trat tatsächlich das ein, was Julien befürchtet hatte: Sie wurden von ihren Lehrern von einem in das nächste Museum gescheucht, betrachteten Kirchen, die sie genauso gut in ihrer Stadt hätten ansehen können, und durften nicht einmal protestieren, weil sonst mit der Kürzung ihrer Freizeit gedroht wurde. „Sind wir hier im Knast oder was?“ Wütend über diese Zumutung zündete sich Sebastian auf dem Weg vom einem zum anderen Ort eine Zigarette an und probierte, seine schlechte Laune auf seine zwei Zimmerbewohner zu übertragen. „Nur weil unsere Eltern nicht da sind, können die mit uns nicht das machen, was sie wollen.“ „Anscheinend schon.“ Paul fand das auch alles andere als gerecht ihnen gegenüber. „Wir können ja streiken oder uns alle zusaufen, sodass sie uns in Ruhe lassen müssen.“ „Das einzige, was dann passiert, ist, dass wir Ärger bekommen und nach Hause geschickt werden.“ Merkten die beiden eigentlich, wie aussichtslos ihre schönen Pläne waren? „Wenn wir uns beeilen, sind wir schneller mit dem Zeug hier fertig und können gehen.“ „Im Gegensatz zu dir, Julien, haben wir aber noch anderes zu tun.“ Auf keinen Fall wollte sich Sebastian von Julien zurechtweisen lassen, aber dieser ließ die zwei einfach stehen. Ihr kleiner Aufstand würde wirklich nichts bringen. „Mann, ich glaub, ich bin tot“, stöhnte Sebastian müde, als sie nach stundenlangem Laufen, Betrachten und noch mehr Laufen endlich in ihre Zimmer konnten. „Morgen schlaf ich aus, da können die machen, was sie wollen.“ Paul antwortete ihm gar nicht mehr, er hatte sich schon auf sein Bett fallen gelassen und döste leicht vor sich hin. Zu viel Bildung auf einem Haufen für ihn, normalerweise klebte er den Großteil des Tages vor dem Fernseher oder sah den anderen beim Fußballspielen zu. Auch Julien fühlte sich nicht mehr richtig wach, obwohl er sonst zu dieser Uhrzeit nicht einmal daran dachte, schlafen zu gehen, aber nach diesem ewig langen Trip durch mindestens drei Viertel aller Museen dieser Stadt brauchte sogar er seine Ruhe. Allerdings zog er sich erst um, stellte sich kurz ins Bad und öffnete das Fenster, bevor er sich unter die Decke verkroch, die nicht ganz so weich war wie die daheim, und schneller als er es von sich gewöhnt war einschlief. Ein leises Rascheln weckte ihn aus seinem traumlosen Schlaf und langsam öffnete er die Augen. Draußen war es ziemlich dunkel, es musste noch mitten in der Nacht sein, aber draußen schlich irgendjemand oder etwas herum und hatte ihn dadurch geweckt. Außerdem hatte er Durst. Noch nicht vollkommen wach stand er auf und durchwühlte seine Tasche, bis ihm einfiel, dass er seinen Getränkevorrat dummerwiese zuhause im Keller vergessen hatte und Leitungswasser fand er schon unter normalen Bedingungen nicht trinkbar, in dieser Jugendherberge erst recht nicht. Nach kurzem Überlegen holte er seinen Geldbeutel aus seinem Koffer, den er aus Vorsicht immer dort ließ, und schlich sich auf den Flur. Irgendwo in der Nähe hatte er heute Mittag einen Getränkeautomaten gesehen, nur den genauen Standort wusste er nicht mehr. Zwar war sein Orientierungssinn nicht schlecht, aber in der Dunkelheit sah er kaum etwas und in diesem Gebäude kannte er sich noch gar nicht aus. Auf gut Glück schlug er eine Richtung ein und erreichte tatsächlich einen blinkenden Kasten, der ihm unterschiedliche Getränke zu unglaublichen Preisen anbot. Morgen früh würde er so schnell es ging im Supermarkt einkaufen, sonst verdurstete er hier innerhalb der Klassenfahrt. Gerade hatte er seine Vorhaben beendet, als er etwas entdeckte, weshalb ihm vor Schreck fast die Flasche fast aus der Hand gerutscht wäre: Gegenüber in einer Nische saß jemand. Damit hatte er am allerwenigsten gerechnet, vor allem weil es ungefähr zwei Uhr nachts sein musste. Vorsichtig bewegte sich Julien auf die Person zu und atmete erleichtert auf, als er erkannte, dass es Sammy war, der aus unbekannten Gründen dort eingeschlafen war. Entweder schlafwandelte er oder er fand die Betten noch schrecklicher als das Essen. Eigentlich hätte er ihn einfach dort lassen können, aber Julien wollte wissen, wieso sein Klassenkamerad sich um diese Zeit hier aufhielt und rüttelte ihn deswegen zuerst zögerlich wach, um die Ursache herauszufinden. „Oh, hallo“, murmelte Sammy leise und stand unsicher auf. „Was machst du denn hier? Es ist zwei Uhr nachts, hast du kein Bett oder was?“ „Naja...“ Sammy brauchte einen Augeblick, um sich an alles zu erinnern. „Ich wollte schlafen, aber die anderen haben sich volllaufen lassen und wollten nicht die Klappe halten. Deshalb habe ich versucht, dass sie endlich leise sind, aber sie haben mich sozusagen rausgeworfen.“ „Aha.“ Erstens war das das längste Gespräch, das Julien jemals mit Sammy geführt hatte, und zweitens erschien ihm diese Geschichte mehr als unrealistisch. Als ob sich Sammy nicht gegen ein paar Jungs, die für ihn wie eine Horde Gartenzwerge erscheinen musste, wehren konnte. „Und du bist nicht auf die Idee gekommen, jemanden zu fragen, ob du bei ihnen schlafen kannst, oder die Lehrer auf diese Idioten aufmerksam zu machen.“ „Es war schon ein Uhr, da wollte ich niemanden stören.“ Diese Gutmütigkeit ließ Julien fast verzweifeln. Er selbst hätte den Jungs mindestens die Meinung gesagt und dann noch den Lehrern Bescheid gegeben. So etwas ließ er nicht mit sich machen, aber Sammy war sowieso eine Kategorie für sich allein. „Und du willst jetzt weiter hier draußen schlafen?“ „Muss ich, sie haben die Tür abgeschlossen.“ „Oh Mann, die bist wirklich zu freundlich.“ Und die Leute dankten es ihm, indem sie ihn als Gefahr für die Umwelt einstuften. „Weißt du was? Heute Nacht übernachtest du bei uns im Zimmer.“ „Ihr habt aber nur drei Betten“, erinnerte Sammy Julien an das Platzproblem. „Egal, wir finden schon einen Weg. Und morgen zeigst du denen gefälligst, dass sie nicht alles machen können, was ihnen Spaß macht.“ Damit stand für Julien die Sache fest und er ließ nicht locker, bis Sammy ihm in sein Zimmer folgte und sie dabei unabsichtlich Paul und Sebastian weckten, die über die Störung gar nicht glücklich waren. „Was soll das denn?“, fauchte Paul genervt und zog sich die Decke über den Kopf. „Könnt ihr nicht wann anders euch treffen und euch unterhalten?“ „Halt die Klappe und schlaf weiter.“ Im Moment war es Julien egal, wie Paul auf Sammys Auftauchen reagierte, stattdessen musste er sich überlegen, wo er seinen Gast für die nächsten Stunden unterbrachte. „Ich kann auch wieder gehen“, versuchte Sammy sich aus der Situation zu verabschieden, doch Julien wollte davon nichts hören. Zum Schluss kamen sie zu der Lösung, dass Sammy das eine Ende und Julien das andere Ende des Bettes bekam, nachdem Sammy den Vorschlag, das Bett für sich allein zu bekommen, sofort abgelehnt hatte. Zwar wussten sie beide, dass Sebastian sich darüber fürchterlich aufregen würde – er hatte aus irgendeinem Grund ein Problem damit, wenn zwei Jungs sich auch nur einen Strohhalm teilten –, aber solange er es nicht bemerkte, durfte es ihn wenig stören. „Danke, Julien.“ Zum ersten Mal lächelte Sammy ihn an. Zwar nicht sehr stark und außerdem verhinderte die Dunkelheit, dass man allzu viel erkennen konnte, aber Julien erkannte es trotzdem. Und sein Herz setzte für mindestens einen Schlag lang aus. Er konnte sich nicht mehr auf seine Umgebung konzentrieren, sie flog einfach an ihm vorbei und Julien hatte keine Ahnung, woran das lag. Seit der ersten Nacht in der Jugendherberge hatte sich irgendetwas verändert und er konnte wirklich nicht genau sagen, um was es sich handelte. Das verwirrte ihn, denn normalerweise wusste er immer, was mit ihm los war, egal was für ein Gefühl sich in ihm ausbreitete. Dieses Mal gelang es ihm nicht und das machte ihm fast schon ein wenig Angst. „Hallo, Julien, lebst du eigentlich noch?“ Paul wedelte ihm direkt vor dem Gesicht mit der Hand herum. „Oder hast du immer noch einen Schreck?“ Sebastians Theater, als er am nächsten Morgen Julien und Sammy gesehen hatte, hatte ihn wirklich etwas erschreckt, weil er nicht mit solch einer heftigen Reaktion gerechnet hatte. Die anderen hatten ihn damit natürlich aufgezogen, typisch Jungs halt, aber gleich so auszurasten, obwohl es einen selbst nicht betraf, fand Julien mehr als nur ein wenig übertrieben. Man könnte meinen, man hätte Sebastian vor der ganzen Welt als homosexuell geoutet. „Nein, hab ich nicht.“ Er wollte einfach nur denken und wissen, was mit ihm los war. Das konnte nicht sein, dieses plötzliche Gefühl, das ihn nicht mehr los ließ. Waren in dem gekauften Wasser irgendwelche Zusatzstoffe enthalten gewesen, die er nicht vertrug? Seufzend legte Julien den Kopf auf die Tischplatte und schob den Teller mit der angebissenen Scheibe Brot zur Seite. Hunger hatte er keinen und Lust auf ein Gespräch mit Paul schon gar nicht, vor allem weil dieser ihn sicher nur ärgern wollte, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Morgen früh würden sie schon wieder zurück nach Hause fahren und bis dahin wollte Julien die Sache mit sich selbst geklärt haben, nur wusste er gar nicht, wie er das tun sollte. Schließlich kannte er weder Auslöser noch die genaue Wirkung dieses Gefühls. Er wusste nur, dass es ihn seit dieser Nacht begleitete und ihn nicht mehr loslassen wollte, was auch immer er unternahm, um es zu verjagen. „Kommst du heute Abend zu den Mädchen ins Zimmer?“ wollte Paul wissen und schnippte einen Krümel seines Abendessens quer über den Tisch. „Es soll wohl so eine Art Abschlussfeier werden, obwohl ich ja nicht finde, dass wir großartig was zu feiern haben. Besonders schön war es hier schließlich nicht und auf daheim freu ich mich auch nur wegen des Essens.“ „Ich überleg es mir mal.“ Vielleicht fand er dort die Ablenkung, die er schon die ganze Zeit suchte und nicht fand. Im schlimmsten Fall funktionierte es einfach nicht und er würde zuhause sich weiter mit dem Problem befassen müssen, ob er wollte oder nicht. Zu einer typischen Abschlussfeier ohne Lehrer gehörte natürlich Alkohol, was Julien nicht begeisterte, denn er selbst ließ davon lieber die Finger, nachdem er mal zu viel davon getrunken hatte und sich am nächsten Morgen an rein gar nichts mehr erinnerte, nicht einmal an die Leute, mit denen er dort gewesen war. Ein Fehler im Leben reichte. Wie erwartet war die Stimmung der anderen ziemlich ausgelassen, immerhin war die Wahrscheinlichkeit gering, dass man sie stören würde. Die Lehrer waren sicher auch froh, endlich ihre Ruhe vor der Ansammlung chronisch genervter Jugendliche zu haben. Julien kämpfte sich durch eine Gruppe durch, die mitten im Raum stand und über die gesamte Klassenfahrt lästerte, um an den Tisch mit den Chips und anderen Essenssachen zu kommen. Nun hatte er nämlich Hunger, obwohl ihn das zur Hälfte aus Chemie bestehende Zeug wohl kaum richtig satt machen würde, aber besser als das lasche Brot, das man rund um die Uhr zum Essen vorgesetzt bekam, musste es sein. In deutlicher Entfernung von ihm lehnte Sammy an der Wand und beobachtete das Treiben um ihn herum, als ginge es ihn nichts an, dabei hätte er wieder gehen können, wenn es ihn hier tatsächlich so langweilte, wie es den Anschein erweckte. „He, Juli, willst du nicht auch mit uns Flaschendrehen spielen?“, fragte ihn plötzlich Melanie, die ihn schon gar nicht mehr so nüchtern anlächelte, und zog ihn ohne auf seine Antwort zu warten, mit sich in die Mitte des Zimmers, wo sich schon ein paar versammelt hatten, um das Spiel aller Spiele zu spielen. Unter normalen Umständen hätte es Julien sich bestimmt dreimal überleg, ob er hier wirklich teilnehmen wollte, aber man ließ ihm gar keine Wahl, denn nun wurden auch alle anderen, die sich hier aufhielt, zu ihrem Glück gezwungen und in den Kreis gelotst. Sogar vor Sammy machte man nicht Halt, obwohl viele Mädchen ihn mehr als unheimlich fanden und er laut einiger Gerüchte noch nie eine Freundin hatte. Julien zwar auch nicht, aber für ihn interessierte man ich ja sowieso nicht so besonders, daher zählte er nicht großartig. Es fing schon gleich gut an, als Sebastian Paul einen Kuss auf die Wange geben sollte, er deshalb fast randalierte und nur mit einer kleinen Umänderung von Paul zu Petra gezähmt werden konnte. Warum legte man Regeln fest, wenn sie schon beim ersten Mal umgangen wurden? Damit verlor das Spiel noch einige Niveaupunkte mehr in Juliens Auge als eigentlich zur Verfügung stand. Es folgten weitere Runden, die auf die Schnelle umgestaltet wurden, weil die Jungs sich weigerten, sich gegenseitig auch nur anzufassen, von den Mädchen aber erwarteten, sich mit keinem Wort zu beklagen, wenn sie mit ihrer besten Freundin einen Zungenkuss ausprobieren sollten. Langsam wurde es Julien zu dumm und er beschloss, sobald er eine Möglichkeit fand, sich aus dem Staub zu machen. Wirkliche Ablenkung fand er hier definitiv nicht, nur Jugendliche, die unbedingt erfahren wollten, wie es sich anfühlte, eine Person des anderen Geschlechts zu küssen. Er selbst hatte das bis jetzt bei Nina und Melanie tun dürfen und es hatte ihm nichts gebracht außer einigen neidischen Blicken von der coolen Fraktion und seinen Mitbewohnern. Dabei hatte es sich wirklich nicht besonders angefühlt. „Und der nächst darf Sammy küssen“, verkündete Paul schadenfroh, da er genau wusste, dass das keiner der Anwesenden freiwillig tun würde. Gespannt beobachteten zwanzig Augenpaare, wie er die Flasche auf den Boden setzte und sie schwungvoll anstieß. Innerlich hoffte jeder, dass nicht er selbst das Opfer sein würde, da Sammy mit seiner unfreundlichen Miene auf jeden abweisend wie ein Stück Eis wirkte. Julien, der die Situation zu seinen Gunsten ausnutzen und verschwinden wollte, blieb überrascht der Mund offen stehen, als das Plastikgefäß direkt auf seinen rechten Fuß deutete und er die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog. Sebastian kollabierte fast, Sammy sah ihn wie immer an und er selbst fühlte sich auf einen Schlag seltsam. Wirklich seltsam, so etwas hatte er noch nie erlebt. Als wäre sein ganzer Körper aus Rauch, den er nicht mehr kontrollieren konnte und der deshalb zu zittern begann. Was war das bloß? Was geschah hier mit ihm? „Juli, jetzt mach endlich!“, zischte Melanie ihm zu und stieß ihm ihren Ellbogen in die Rippen. „Ich weiß, toll ist was anderes, aber mach endlich, sonst sitzen wir noch morgen früh hier.“ Zögernd nickte Julien, schluckte einmal und zwang seinen Körper, sich in Richtung Sammy zu bewegen, auch wenn es ihm furchtbar schwer fiel. Vor Nervosität wäre er fast gestürzt, aber er fing sich ab und saß nun direkt vor Sammy, nur noch wenige Zentimeter trennte sie voneinander. Und Sammy zeigte keine Reaktion, als interessierte es ihn nicht, was er gleich mit seinem Klassenkameraden machen sollte. Das war wohl das Schlimmste für Julien, das er keine Ahnung hatte, was sein Gegenüber im Augenblick empfand. Ganz langsam beugte sich Julien nach vorne und küsste Sammy auf den Mund. Es fühlte sich besser an als alles, was er bis jetzt erlebt hatte, aber er merkte, dass das wohl nur für ihn galt. Für Sammy gehörte das nur zu diesem dummen Spiel und ihm war es völlig egal, mit wem er sich hier küssen musste, solange es irgendwann aufhörte. Ruckartig löste sich Julien von ihm und ging einfach, er hielt es hier nicht länger aus. Zu viele Menschen, die ihm bei solchen intimen Tätigkeiten zusahen und zu wenige, die verstanden, was sie für ihn bedeuteten. Love starts with a smile and grows with a kiss Das war die einzige Lösung für dieses Gefühlschaos, das in ihm tobte, seit Sammy ihn so unglaublich zufrieden angelächelt hatte. Nur half ihm die schönste Lösung nichts, wenn er mit diesem Wissen alleine war, denn für Sammy galt nicht das Gleiche wie für ihn, egal wie gerne er das hätte. Unglücklich legte sich Julien in sein Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Warum musste ausgerechnet ihm so etwas passieren, obwohl er gar nichts davon hielt? Und warum noch bei einem Jungen, der niemals dasselbe für ihm fühlen konnte wie er für ihn? Love starts with a smile and grows with a kiss Gut, dass er nicht das Ende von diesem Spruch kannte, sonst verlief sein gesamtes Liebesleben nach einer Ansammlung von Worten, die sich irgendwer überlegt hatte. Und sein Leben sollte sich nicht nach ein paar Buchstaben richten, an die er nie geglaubt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)