Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 3: Ein Scheißhaufen namens "Leben" (1993 & 1994) -------------------------------------------------------- 3. Kapitel – 1993 & 1994 Ein schwerer Kopfschmerz ist das Erste, das mir wieder klar zu Bewusstsein kommt. Danach folgen langsam die unmittelbaren Dinge, die mich zu umgeben scheinen: das quietschende Geräusch von Schuhen auf Linoleumboden, entfernte Stimmen, das Rascheln von Papier und dann und wann das Knarzen eines Möbelstücks. Meine Augenlieder scheinen mit Blei beschwert, denn meine ersten Versuche meine Augen zu öffnen scheitern kläglich. Alles dreht sich und ich sehe selbst im Dunkeln noch bunte Lichter tanzen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir tatsächlich den Kopf gestoßen habe. Ich würde behaupten, dass es Stunden gedauert hat, bis es mir gelingt langsam aber sicher der Welt meine Aufwartung zu machen. Zunächst starre ich jedoch mit verschwommenem Gesichtsfeld an eine weiße Decke. Und mehr als das bin ich nicht in der Lage zu tun. Ich fühle mich so betäubt und schläfrig, dass ich einfach nur an diese Decke starren kann. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, wessen Decke das ist. Meine, die von Thomas, vielleicht sogar die meiner Eltern. Oder Utes. Sinnlos über den Besitzer einer weißen Decke zu sinnieren ist nicht gerade die Art von Beschäftigung die ich gewohnt bin. So konzentriere ich mich darauf wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen und zumindest den Kopf zu drehen. Daraus sollte sich schließen lassen, wo ich mich befinde. „Hey, du bist wach.“ Die sanfte Stimme an meinem Ohr erschreckt mich im ersten Moment, doch dann fokussiere ich mein Gegenüber und könnte vor Überraschung und Glück glatt noch einmal in Ohnmacht fallen. „Zack!“ Der Blondschopf lächelt mich milde an, streicht mir einige verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht und rückt mit seinem Stuhl etwas näher an mein Bett. Krankenhausbett, wie ich jetzt eindeutig identifizieren kann. Mein Zimmergenosse hängt mit einem gebrochenen Bein halb in der Luft. „Wie geht es dir?“ „Benebelt“, antworte ich gequält, versuche mich aufzurichten, doch Zacks warme Hände halten mich davon ab. „Man hat dich in eine Vollnarkose gelegt, also nicht bewegen. Außer zum pissen.“ „Vollnarkose?“ „Klar. Hast dir deine Hand ordentlich zertrümmert. Gab ein richtiges Gemetzel da drin und die Ärzte mussten jede Absplitterung rausziehen und irgendwie wieder alles zusammenpuzzeln. Die hatten bestimmt viel Spaß da drin.“ Zacks Lachen ist eine Wohltat für mich. Und ich würde gerne seine Hand halten, aber meine Eigene ist noch ein wenig taub. „Keine Panik, das Gefühl geht schnell wieder weg. Scheinbar bist du kein Freund von einer Vollnarkose, aber na ja, es gibt Schlimmeres, oder?“ Ich nicke zustimmend, sinke langsam etwas tiefer in die Kissen und bemerke tatsächlich, dass es mir allmählich leichter fällt mich zu bewegen. „Was machst du eigentlich hier?“, frage ich ihn. „Spast!“, wirft er mir entgegen. „Auf dich aufpassen, ist doch klar!“ „Und wo ist Thomas?“ „Der quatscht draußen mit seinen Eltern und dem Arzt“, gibt Zack mir Auskunft, legt die Zeitung – die er bis dato in Händen gehalten hat – auf meinen Nachttisch, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet mich eine Weile nachdenklich. „Dein Alter hat Krebs.“ „Ich weiß“, murmle ich, schaue auf meine Finger. Meine linke Hand steckt in einem festen Gips. Es fängt sogar schon an zu jucken. „Ute hat es mir gesagt.“ „Und?“ „Keine Ahnung“, gebe ich ehrlich zu und erinnere mich an das, was vor wann auch immer langer Zeit stattgefunden hat. Mein Vater hat Krebs, tatsächlich. „Ich würde gerne glauben, dass es nur eine Mitleidsmasche von ihm ist.“ „Schmink’s dir ab. Der hat so sicher Krebs wie ich einen geilen Arsch.“ Ich starre Zack einen Moment lang an, dann lachen wir beide. Das hat mir gefehlt. Diese Ungezwungenheit mit ihm. Seine Präsenz, seine warme Stimme, seine Art und Weise die Dinge zu sehen. „Dabei hab ich den Hintern hergehalten“, erwidere ich und erneut müssen wir lachen. Es kommt mir fast wie eine Ewigkeit vor, dass wir beide von meinem Vater erwischt wurden. Tatsächlich ist es nur ein Jahr her. „Was wirst du jetzt tun?“, ergreift Zack schließlich wieder das Wort, sieht mich abwartend, aber auch neugierig an. Ich weiß, dass ich mit meiner Antwort alles entscheiden könnte. Lasst mich nur bloß die Richtige finden. „Erstmal von hier verschwinden. Ich will nach Jamie sehen. Nicht das ihm dieser Bastard noch was getan hat und dann…“ Ich seufze. „Ich weiß nicht. Nach Hause fahren und einfach weiterleben. Irgendwie geht das schon.“ „Hm“, ist alles was Zack dazu äußerst. Ich wende mich zu ihm, strecke eine Hand nach ihm aus und bekomme seine Finger zu fassen, drücke sie und sehe von unten zu ihm auf. „Ich liebe dich, Zack“, flüstere ich. „Das habe ich immer. Bitte… komm mit mir mit!“ Die Sekunden die verstreichen sind die reinsten Nadelstiche auf meiner Haut. Alles schwirrt in meinem Kopf und ich will nur, dass er Ja sagt. Einfach Ja. Bitte… „Nein.“ Seine Stimme ist ruhig, gefasst und seine Augen strahlen nur noch matt zu mir herunter. Sein Lächeln ist verschwunden, er steht da wie eine Statue. Abweisend und kalt. Ich nehme beiläufig war wie sich die Zimmertüre öffnet. „Ich liebe dich, Raphael, mehr als du dir vorstellen kannst, aber ich werde einen Fehler nicht zweimal begehen. Und du warst ein Fehler. Du bist alles was ich will, aber… ich bin nicht alles was du willst. Du willst Jamie. Und das ist okay. Nur für mich ist kein Platz mehr.“ Langsam beugt er sich zu mir, flüchtig berühren sich unsere Lippen, ein Stromstoß erfasst meinen Körper, doch dann schwebt sein Gesicht schon wieder über mir, sein sanftes, wenn auch trauriges Lächeln trifft mich mitten ins Herz, und als er sich zum gehen wendet, reißt er es mir mit aller Gewalt heraus. Es ist Marianne die meine Tränen bemerkt und zu mir stürzt. Sie nimmt mich in den Arm, wiegt mich wie ein kleines Kind und streicht mir immer wieder über den Kopf. Ich rieche ihren Duft, sauge ihn ein, denn er verheißt Geborgenheit. Mutterliebe. In genau diesem Moment stürzt mein Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Ich realisiere zum aller ersten Mal, dass mir nichts mehr geblieben ist. Mein Vater hasst und missachtet mich, meine Mutter ist gefangen in ihrem eigenen Alptraum und mein Bruder muss alleine in dieser Hölle leben, aus der ich mich befreit habe. Doch die Freiheit ist nicht süß und lieblich. Sie schmeckt bitter. Ich kann sie mit niemandem teilen. Nun, da mich auch Zack abgewiesen hat, bleibt mir nichts aus meinem alten Leben. Alles ist verloren und dieser Schmerz ist so heftig, dass ich fürchte daran zu sterben. Wäre sterben denn so schlimm? Was denkt ein Mann, der todkrank ist? Denkt er an Reue, an Vergebung? Könnte ich ihm vergeben? Alles in mir schreit Ja. Ja, ich würde ihm vergeben, ich würde alles tun, wenn er mich nur lieben würde. Alles für einen sanften Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er mich sieht, ein freundliches Wort oder eine Umarmung. „Er hat Krebs…“, schluchze ich laut, kralle mich in Mariannes Bluse. Ich schreie und tobe, verfluche mich und die ganze Welt. Ich bin so außer mir, dass ein Arzt und zwei Schwestern kommen um mich zu beruhigen, doch ihre Berührungen sind mir verhasst. Ich stoße alles von mir. Alles. Bis auf die Wärme einer Mutter, die nicht meine eigene ist. --- Der Raum ist lichtdurchflutet, die hohen Decken lassen ihn riesig erscheinen, ein Gefühl von Weite. Die Wände fliehen und alles wirkt majestätisch. Unvorstellbar. „Und hier willst du wohnen?“, frage ich lieber noch einmal nach, erhalte aber nach wie vor ein kräftiges Nicken als Bestätigung. Von einem mächtigen Froschgrinsen ganz abgesehen. Ich kann es mir noch immer nicht wirklich vorstellen. Thomas ist der Inbegriff des Chaos, der jeden kleinsten Quadratzentimeter dazu nutzt um seinen Müll darauf abzuladen. Und genau dieser Kerl will in eine Bude des alten Stils mit hohen Decken und großen Fenster, so richtig schicke Scheiße. „Krass“, sage ich, drehe mich noch einmal rund herum. Wenn die Decken nicht wären, dann wäre die winzige Wohnung tatsächlich noch viel kleiner. Ein Schlafzimmer, ein Wohnraum, eine kleine Küche und ein minimalistisches Bad ist alles. Alles ist eng aneinander gequetscht und ich persönlich würde das Gefühl kriegen in einer Gummizelle zu hausen. „Ist ja deine Sache.“ „Oh das wird so geil, ich sag’s dir! So cool!“ Thomas strahlt über das ganze Gesicht. „Habt ihr euch entschieden?“, fragt die junge Studentin, die in diesem Augenblick wieder zu uns getreten ist. Noch ist es ihre Wohnung, aber Thomas ist bereit alles zu unterschreiben um sie zu bekommen. „Er, nicht ich“, wehre ich grimmig ab, schiebe die Hände in die Hosentaschen und ziehe ergeben die Schultern hoch. „Mach halt!“ „Oh yes, ich nehm’ sie!“ „Klasse!“ Die junge Frau strahlt über das ganze Gesicht und dann besprechen sie und Thomas wann sie sich noch einmal treffen um die letzten Formsachen abzuklären. „Dann kann ich ja packen.“ Lachend reicht sie uns beiden die Hand, verabschiedet uns und gemeinsam treten wir in den kalten Februar hinaus. Fröstelnd ziehe ich meine Jacke enger, stapfe mit großen Schritten voran und versuche Thomas’ nerviges Gesinge zu ignorieren. „Wann ziehst du Zuhause aus?“ „Wenn alles klappt, dann Mitte des Jahres“, antwortet Thomas, legt mir einen Arm um die Schulter, doch ich schüttle ihn ab. Schweigend gehen wir weiter und ich weiß was in seinem Kopf vorgeht. „Ich bin keiner von denen“, sagt er wie zur Bestätigung meiner Gedanken. Als ich mich umdrehe sehe ich das Verletzte in seinen Augen. Ich seufze. „Ich weiß“, gebe ich ihm zu verstehen. „Aber ich kann nicht anders.“ „Doch, du kannst.“ Gequält kneife ich meine Augen zusammen. Ich erinnere mich nur ungern an die Zeit zurück. Es liegen nur wenige Monate dazwischen und das ist mir eindeutig noch zu früh. „Du bist nicht wie dein Alter, Rapha.“ „Ach nein? Und wer außer meinem Vater hätte das Haus dermaßen demoliert? Wohl nur sein Sohn, oder?“ Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf, reibe mir meine linke Hand, die nie mehr so funktionieren wird wie früher. An der Hauswand zertrümmert und später am Mobiliar. „Wer kann dir das verübeln? Dein Leben ist ein Scheißhaufen!“, wirft Thomas ein, kommt auf mich zu und packt mich grob am Arm. „Du hast immer alles ertragen, so lange. Ist doch wohl normal das du mal ausrasten musstest!“ „Ich will nicht so werden wie er“, schluchze ich leise, Tränen laufen mir über die Wangen. Einmal mehr kann ich das Gefühl nicht ertragen am Leben zu sein. „Wirst du auch nicht.“ Thomas’ Umarmung ist ein sicherer Halt. Wir stehen hier mitten auf der Straßen, aneinandergeklammert, ich laut heulend, aber die Blicke der Passanten interessieren keinen von uns. „Du bist nicht allein, glaub mir. Ich bin da und Erich ist da, die Jungs auch. Und die Mädels gehen mir seit Wochen auf den Sack mit ihren Fragen. Hör auf dich zu vergraben, Rapha, komm mal wieder raus aus deinem Panzer, dann merkst du schon, dass es Einige gibt die dich vermissen.“ Langsam richte ich mich auf, wische mir die Tränen weg, straffe mich und ziehe Thomas meinerseits in eine Umarmung. Tatsächlich ist er immer da, wenn ich ihn brauche. „Danke.“ „Aber klar.“ Sein Grinsen bringt pure Erleichterung mit sich. Wir gehen weiter, bis wir vor unserem Wohnungsblock stehen. Er hält mir die Tür auf und ich trete in den kalten, dunklen Flur. Doch nur wenige Augenblicke später fällt der erste Lichtstrahl auf uns herunter, als beim ersten Treppenabsatz eine Wohnungstür geöffnet wird und Marianne im Rahmen steht. „Kommt rein ihr zwei. Ich hab’ frischen Kakao gemacht.“ Thomas nickt mir zu, verschwindet in der Wohnung, während ich unschlüssig davor stehe. Marianne sieht mich einfach nur an. So stehen wir regungslos da. Einander ansehend. Dann mache ich den ersten Schritt und ihre ausgestreckten Arme kommen mir entgegen. Als mein Gesicht an ihrer Brust ruht wird mir unerträglich warm, doch ich will mich nicht lösen. Es ist ein gutes Gefühl. Letztendlich habe ich verstanden, was es bedeutet nach Hause zu seiner Familie zu kommen. --- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)