Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 8: Zu Hause ist es doch am Schönsten (2000 / 08) -------------------------------------------------------- 8. Kapitel – 2000 (August) Ich erwische Marianne gerade noch an der Tür, die sie hinter sich und den Zwillingen zuzieht. Johannes und Lars sind in eine ihrer üblichen Kabbeleien verstrickt, was ihre Mutter nur noch mit einem schwachen Einwurf kommentiert. „Hi, Jungs“, grüße ich die beiden Racker, die mich strahlend in Empfang nehmen und sogleich um mich herum rennen und ihr Spiel fortführen. „Marianne“, nicke ich der überraschten Frau zu, die mich kurz in ihre Arme zieht. „Na so was! Was treibt dich denn hierher?“ „Eine kleine Bitte“, entgegne ich. „Schieß los!“, fordert sie mich auf, greift abwesend einen ihrer Jungs am Arm und zieht ihn zu sich. „Schluss ihr beiden!“, keift sie, reicht ihren Schlüsselbund nach unten und schickt ihre Söhne zum Auto. „Kann ich mir den Wagen von deinem Mann ausleihen? Nur für heute!“ „Hm, sicher.“ Sie macht den entsprechenden Schlüssel von ihrem Bund ab, reicht ihn mir, wirft mir dabei einen ernsten Blick zu. „Mach keinen Unsinn.“ Ich komme mir ertappt vor, schüttle dann aber den Kopf. Sie ringt mir noch das Versprechen ab, auf mich aufzupassen und sie sofort anzurufen, wenn etwas nicht stimmen sollte, dann lässt sich mich in die Garage gehen. Ihr eigener Wagen steht davor und mit einem letzten Blick auf mich, fährt sie los. Das Garagentor ist offen und so betrete ich sie, schließe den Wagen auf, setze mich rein und starte den Motor. Einen Moment zögere ich noch, dann aber fahre ich an, biege auf die Straße ab, ehe ich erneut anhalte, zurückgehe und die Garage wieder verschließe. Ohne weitere darüber nachzudenken, fahre ich erneut an. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, aber ich bin mir sicher, dass ich es nie herausfinden werde, wenn ich es nicht ausprobiere. Mehr als schief gehen kann es nicht und in der Zwischenzeit konnte ich mich gegen fast alle Eventualitäten wappnen. Das Radio tönt leise im Hintergrund, es herrscht der stetige Wechsel von Musik und Nachrichten, doch auf keines achte ich besonders. Die Fahrt über die Autobahn zieht sich in die Länge, da ich mich peinlichst an alle Geschwindigkeitsvorgaben halte. Ich habe es nicht sonderlich eilig. Die nächste Ausfahrt ist meine. Danach folgt noch eine Fahrtzeit von etwa einer halben Stunde. Es rückt immer näher, wirkt dadurch nur umso bedrohlicher. Immer wieder wische ich mir die Hände an meiner Hose ab. Der Schweiß macht es mir schwer das Lenkrad zu halten. Es wird immer unerträglicher und heftiger als beabsichtigt schalte ich das Radio aus. Viel zu früh biege ich in die Straße ein, in der ich einst gewohnt habe. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des verhassten Hauses komme ich zum stehen. Der Motor erstirbt, es wird still um mich herum, auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass ich deutlich meinen Herzschlag vernehmen kann. Es ist kurz nach elf. Nichts regt sich. Sogar die Fenstervorhänge hängen starr. Während ich auf das dunkelbraune Holz der Haustür starre erinnere ich mich daran wie ich zum ersten Mal von meinem Vater ausgesperrt worden bin. Stundenlang stand ich draußen, habe gegen die Tür gehämmert und innerlich darum gebeten, dass er nur Jamie nichts antun würde. Das hätte ich mir nie verziehen. Mein Vater hatte mich in meinem Zimmer beim rauchen erwischt. Ich setze mich aufrecht hin, als ich meine Mutter herankommen sehe. Sie trägt zwei Leinenbeutel, die randvoll sind mit ihren Einkäufen. Im ersten Moment will ich aus dem Auto springen und zu ihr eilen, doch ich halte mich zurück. Ich kann nicht vergessen, wie sie sich verhalten hat, als ich Jamie besucht habe. Diese Erinnerung schmerzt. Sie hebt den Blick nicht vom Boden, ihre ganze Haltung ist eingesunken und ihr kastanienbraunes Haar ist fast vollkommen ergraut. Innerhalb der letzten Jahre ist sie mit einem Schlag alt geworden. In einer Woche ist ihr einundfünfzigster Geburtstag. Ich beobachte sie, wie sie die Tür aufschließt und im Haus verschwindet. Eine tiefe Sehnsucht will mich in ihre Arme treiben, aber es wird nie das sein, das ich mir von ihr erhoffe. Nie wieder wird sie die Mutter sein, die ich einst abgöttisch geliebt habe. Tränen steigen in mir auf und ich halte sie nicht zurück. Die Trauer überwältigt mich und ich schluchze laut auf. Der Damm ist gebrochen, es gibt kein Halten mehr für mich. Mein ganzer Körper wird geschüttelt, immer wieder schlage ich gegen das Lenkrad, einmal treffe ich sogar die Hupe. Es ist mir vollkommen egal. Als ich mich endlich beruhigen kann, ist es weit nach ein Uhr. Ich achte nicht mehr auf die Zeit. Irgendwann lege ich eine CD ein, starre unentwegt auf mein ehemaliges Zuhause, lasse mich von meinen Erinnerungen davon treiben und erlebe die Schmerzen meiner ganz persönlichen Hölle noch einmal. Nichts ist verheilt. Als sich die Beifahrertür öffnet, rucke ich erschrocken hoch und staune nicht schlecht, als sich Zack neben mir in den Sitz fallen lässt, die Türe zuzieht und sich nach hinten lehnt. Sein Blick geht stur gerade aus. Er streckt seine Hand nach mir aus und ich ergreife sie fest, drücke sie an meine Brust, sinke ebenfalls wieder zurück an die Lehne. „Du bist schon lange hier“, sagt er leise. „Hab dich schon vor Stunden hier stehen sehen als ich vom Training gekommen bin.“ „Ich weiß gar nicht was ich hier mache“, flüstere ich, lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und hauche meinen warmen Atem dagegen, damit sie beschlägt. „Klar weißt du das“, widerspricht Zack sanft, kramt in seiner Hosentasche nach seinen Zigaretten. Er drückt eine aus der Packung heraus, klemmt sie zwischen seinen Lippen ein, fördert sein Feuerzeug zu Tage und steckt sie sich dann. Der Geruch nebelt uns augenblicklich ein. „Und warum bist du hier?“, frage ich nach einer Weile. „Aufpassen das du dir nichts antust.“ Wir schweigen längere Zeit. Mechanisch wende ich meinen Kopf, als im Haus einige Lichter angehen. Es ist das Arbeitszimmer meines Vaters. Er ist also da. Die ganze Zeit schon hing sein Schatten über diesem Ort. „Zack, warst du bei Martinas Abschlussball?“ „Ja“, lautet seine schlichte Antwort. Ich höre wie er einen weiteren Zug nimmt. Nur wenige Momente später stößt er den Rauch mit einem zischenden Laut aus. „Jamie hat mir ordentlich eine verpasst.“ „Tut mir leid.“ Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel nicken. Er kurbelt das Fenster herunter, schnippt den gerauchten Stummel nach draußen und atmetet mehrmals tief die frische Luft ein. Schließlich schließt er das Fenster wieder, tippt mit dem Fingernagel gegen die Scheibe. „Willst du rein?“ „Denke nicht.“ „Wäre vielleicht besser. Man soll ja über alles reden und so einen Scheiß.“ Spöttisch sehe ich ihn von der Seite her an. Er hebt nur die Schultern. Wir schweigen uns wieder eine ganze Weile an. Nichts tut sich in dem Haus, in dem ich einmal gelebt habe. Zacks Worte spuken mir im Kopf herum und ich bin hin und her gerissen zwischen meinen zerrissenen Gefühlen und meinem kühlen Verstand. Die Zeit bleibt nicht stehen, drängt unerbittlich weiter nach vorne, die Sonne verwandelt sich in einen rotglühenden Feuerball. Mit einem Blick auf Zacks Uhr erkenne ich, dass es bereits sieben Uhr ist. Langsam geht auch dieser Sommertag zur Neige. Ich hätte nicht gedacht, dass ich schon so lange hier sitze. Ich greife in meine Jackentasche, doch weder in der linken, noch in der rechten finde ich mein Handy. „Hast du dein Handy mit?“, frage ich Zack deshalb, der allerdings stumm den Kopf schüttelt. Ich schiebe meinen Sitz ein Stück weiter nach hinten, starre aus dem gegenüberliegenden Fenster. Mein Blick ist finster und ich habe die Augenbrauen fast schmerzhaft zusammen gezogen. „Hey, Rapha…“, murmelt Zack so leise, dass ich mir im ersten Moment nicht sicher bin, ob er tatsächlich etwas gesagt hat. Als Antwort gebe ich ein undefinierbares Brummen von mir. „Lass uns ficken.“ Erschrocken sehe ich zu ihm, doch sein Blick ist vollkommen ruhig. Seine Haare hängen ihm auf der linken Seite ins Gesicht. Er hat sie wachsen lassen, damit sie die hässliche Narbe verdecken, die er dort seit dem Unfall hat. Ihm fehlt das linke Auge. Ich strecke meine Hand nach seinem Gesicht aus, streiche den Vorhang beiseite und betrachte eine Weile das vernarbte Gewebe. Es ist bereits vier Jahre her. Dennoch mache ich mir dieselben Vorwürfe wie am ersten Tag. „Es tut mir leid“, flüstere ich, meine Stimme ist nur ein schwacher Hauch. „Mir auch.“ Seine Antwort ist ein stich ins Herz, auch wenn ich nicht genau sagen kann, worauf er sich bezieht. Ob er nur diesen Tag im speziellen oder unsere ganze Bekanntschaft im Allgemeinen meint. Aber alleine das er etwas mit mir bereuen muss, ist ein Schlag ins Gesicht. Ich kann nicht sagen, warum es gerade in diesem Moment ist, aber ich spüre, dass es für mich und Zack keine Zukunft geben wird. Vielleicht auch nie gegeben hat. „Zack, ich… komme nicht mit dir“, ringe ich mir schließlich ab. „Ich muss da rein.“ „Ja.“ Er senkt zum ersten Mal den Blick, er wirkt verletzt, auch wenn ein leichtes Lächelns seine Mundwinkel erreicht. „Ich liebe dich, Raphael.“ Er steigt aus. Das Zuschlagen der Autotüre ist wie der Riegel der sich nun zwischen und geschoben hat und uns davon abhält ein Wir zu bilden. Tränen steigen erneut in mir auf. Lange sehe ich Zack nach, wie er sich dem Sonnenuntergang zuwendet und darin verschwindet. Seine hoch aufragende Gestalt ist beinahe wie ein Symbol der Stärke. Er lässt den Kopf nicht hängen, die Schultern sind straff nach hinten gezogen und die Hände hat er locker in den Hosentaschen versenkt. Wie so vieles andere wusste er, dass es dazu kommen würde. Ich frage mich, warum ich es nicht gesehen habe. Von einer zaghaften Entschlossenheit beseelt, öffne ich die Tür, steige aus und schließe das Auto hinter mir ab. Ich überquere die Straße, erklimme die wenigen Stufen zur Eingangstüre und klingele. Nicht einmal regt sich in mir der Gedanke zur Umkehr. Ich höre leise Schritte, dann das zurücknehmen einer Türkette, ehe mir schließlich geöffnet wird. Das elende Abbild meiner Mutter steht vor mir, starrt mich aus getrübten Augen an. „Hallo“, sage ich leise, warte auf ihre Reaktion. „Raphael…“, haucht sie leise, wendet den Blick ab und schaut wie erschrocken über die Schulter. Es ist, als würde sie erwarten meinen Vater hinter sich zu sehen. „Was machst du hier?“ Diese Frage alleine schmerzt mehr als jeder Dolchstoß. Jede noch so kleine Hoffnung auf Mutterliebe ist in mir vernichtet und ich hänge auch den allerletzten Traum an den Nagel, wappne mich erneut gegen alles, was da kommen mag. „Ist Vater zu Hause?“, bringe ich nur mühsam hervor, trete nach vorne, an ihr vorbei ins Haus hinein. Sie würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn ich es nicht täte. Ihre schwachen Einwände ignoriere ich vollkommen, steige die Treppe hinauf, wende mich nach rechts und klopfe an die schwere Türe. „Herein“, tönt es von drinnen. Beherzt greife ich nach der Klinke, drücke sie hinunter und lasse die Tür aufschwingen. In den Raum selber, trete ich nicht hinein. Noch von früher hallen die Worte meines Vaters in mir nach, dass ich sein Arbeitszimmer unter keinen Umständen zu betreten habe. Ich habe mich immer daran gehalten und spüre auch jetzt den harten Griff seiner Persönlichkeit. „Vater“, grüße ich knapp, lasse ihn keine Sekunde aus den Augen. Er sitzt in seinem Arbeitssessel hinter dem schweren Schreibtisch. Ein Rollstuhl steht daneben, der – ebenso wie sein fahles Gesicht – das Ausmaß seiner Krankheit beschreibt. Sein Haar ist merklich zurückgegangen und von der breiten Statur ist kaum noch etwas vorhanden. Er wirkt abgemagert. Sein Blick ist jedoch noch immer genauso scharf und unerbittlich wie früher. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann tu es auch. Ich hasse Verzögerungen“, murrt er laut, wirft mir einen finsteren Blick zu, ehe er in einer fließenden Bewegungen seine Unterschrift auf ein Schriftstück setzt. „Du arbeitest noch?“ „Man kann immer arbeiten“, antwortet er ohne dabei aufzusehen. Die Autorität die er auch in diesem kümmerlichen Zustand noch ausstrahlt ist überwältigend, hält mich gefangen und macht es mir beinahe unmöglich etwas zu sagen. Auch nach all diesen Jahren noch, bin ich ihm nicht gewachsen. Meine Neugier ist groß und so sehe ich mich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben in diesem Zimmer um. An allen Wänden stehen oder hängen Regale und Schränke, voll gestopft mit Büchern und Aktenordnern. Kaum ein Bild hellt die Stimmung auf. Auch Pflanzen gibt es hier nicht. Der Boden ist mit einem schweren Teppich belegt und es gibt nur eine einzige Sitzmöglichkeit, die derzeit mein Vater in Anspruch nimmt. Er zwingt seine Besucher also zum stehen. Mehr gibt es nicht. Nur noch den Schreibtisch und die sich darauf befindenden Papiere und Akten. Ansonsten ist alles so unpersönlich wie nur irgend möglich. Der raue Geschäftsmann springt einen förmlich an. Und dabei weiß ich noch nicht einmal, als was genau mein Vater eigentlich in der Firma arbeitet. „Jamie ist bei mir eingezogen.“ Etwas anderes bringe ich nicht raus. Mein Vater schweigt. „Er macht eine Ausbildung als Koch und arbeitet nebenher. Vermutlich hat er bald auch eine Freundin“, rede ich weiter, lehne mich Halt suchend an den Türrahmen. Keines meiner Worte entlockt meinem Alten eine Mimik. „Ich habe ein Konto für ihn eröffnet, also brauchst du dich nicht um seinen späteren Unterhalt zu kümmern.“ Noch immer herrscht eisiges Schweigen von seiner Seite aus. Nur mühsam zwinge ich die aufwallende Wut hinunter, reiße mich zusammen und fahre fort in meiner Schilderung wie es meinem kleinen Bruder geht. Ich zähle seine Noten auf, die Dinge die er mag und nicht mag und auch alles andere was mir einfällt, doch bei meinem Vater regt sich nichts. „Dich interessiert das gar nicht, nicht wahr?“, brause ich schließlich auf. „Was willst du?“, lautet seine Gegenfrage und ich bin versucht ihm an die Gurgel zu gehen. „Sag mir warum“, fordere ich, ziehe endlich seinen Blick auf mich. „Sag mir warum du uns so gottverdammtnochmal hasst! Warum?!“ Ich bemerke, dass ich zittere. Mein ganzer Körper entzieht sich meiner Kontrolle und ich fühle mich hilflos im Angesicht des Mannes, der mich gezeugt, aber niemals geliebt hat. Und der dennoch der Mann ist, der mein ganzes Leben bestimmt. Seine Fesseln halten. „Ich hasse euch nicht.“ Sein Blick hängt fest in meinem. Seine Hände ruhen auf dem Füller, den er auf den Tisch gelegt hat. Es scheint, als würde ihn das alles gar nichts angehen. Nichts von dem was um ihn herum passiert, interessiert ihn auf irgendeine Weise. Das ganze Leben prallt an ihm ab. Entsetzt weiche ich einen Schritt zurück, muss mich abwenden um ihn nicht all zu deutlich sehen zu lassen, wie sehr mich diese Erkenntnis trifft und mitnimmt. Ich habe immer geglaubt, dass er uns alle hasst, dass er ein verbitterter Mann ist, dem irgendetwas in seinem Leben widerfahren ist, was er nicht verwunden hat. Doch die tatsächliche Wahrheit ist, dass es ihn nicht kümmert. Wir sind ihm egal, sein Leben ist ihm egal, sein Beruf ist ihm egal. Einfach alles. Alles was ein Leben ausmacht, ist ihm egal. Er ist leer. Wie eine Vase, die niemand mit Blumen schmückt. Starr und leer. „Mein Gott…“, hauche ich, sehe rasch zu ihm herüber. Er sitzt wie versteinert da und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er in den vergangenen Momenten überhaupt geblinzelt hat. „Gibt es sonst noch etwaige Nichtigkeiten, die du mir mitzuteilen gedenkst?“ Seine Stimme ich schneidend. Nicht eine einzige Emotion schwingt darin mit und dennoch fährt sie in mich wie ein Blitz. Alles setzt für einen Moment aus und ich wünschte es gäbe einen Stuhl auf den ich mich setzen könnte. Doch wahrscheinlich ist genau das der Grund, warum er keinen weiteren hat. „Du bist nicht mal wütend“, stelle ich nachträglich fest. Es erstaunt mich selbst, denn der Vater, den ich in meiner Erinnerung bewahre, ist jähzornig, launisch und cholerisch. Doch selbst davon ist nichts mehr zu sehen. „Nicht einmal mehr das.“ Ich zucke unter einer plötzlichen Berührung zusammen. Meine Mutter steht unerwartet neben mir, ihre Hand ruht auf meinem Rücken, ihr Blick ist ein stummes Flehen. Ihre Finger sind stark, nachdrücklich weisen sie mich an zu gehen. Dann spricht sie es tatsächlich aus. „Lass deinen Vater in Ruhe arbeiten. Du weißt doch, dass du ihn nicht stören darfst.“ Sie ist gefangen in einer Welt, die es schon lange nicht mehr gibt. Auch wenn der Ton ein ganz anderer ist, so stammt dieser Satz dennoch aus einer Zeit, in der sie die warmherzige, liebevolle Mutter war, die ich mir heute nur noch wünschen kann. Es ist eine schiere Ewigkeit her, dass ich vier oder fünf Jahre alt war. „Ich geh’ schon“, antworte ich ihr knapp, sehe sie zufrieden nicken und einmal mehr zerreißt es mir das Herz. Ich wende mich ein letztes Mal meinem Vater zu, der sich noch immer kein Stück weit bewegt hat. „Ich habe mich gefragt, ob ich dir jemals verzeihen könnte, wenn du mich darum bitten würdest. Ich würde es. Aber du niemals, nicht wahr?“ Seine Reaktion ist das Ergreifen seines Füllers. Mit Tränen in den Augen und einem riesigen Felsen im Herzen, drehe ich mich weg von diesem Bild, stürme die Treppe hinunter und aus dem Haus. Ich renne beinahe vor ein Auto, das mit quietschenden Reifen anhält. Ich flüchte in meinem eigenen, geliehenen, Wagen. --- Ein stetiges Pochen reißt mich aus meinem unruhigen Schlaf und völlig erschöpft blinzle ich in einen neuen Morgen hinein. Mein Nacken ist steif, meine Beine völlig taub und auch meine Finger fühlen sich nicht besser an. Ich bin im Auto eingeschlafen. Erneut klopft es, ich wende träge den Kopf und sehe direkt in das besorgte Gesicht Mariannes, die mir mit einem Wink näher bringt den Türriegel zu lösen. Ich folge dem, sie öffnet die Autotür und hockt sich neben mich auf den Boden. In ihren Händen hält sie eine dampfende Tasse Schokolade. „Geht es dir gut?“, fragt sie leise, reicht mir das Getränk und als sich meine Finger um das heiße Porzellan schließen, seufze ich wohlig auf. Ich nicke abwesend. Während Marianne um das Auto herumgeht und sich schließlich auf den Beifahrersitz sinken lässt, nutze ich die Gelegenheit um meine Beine unter dem Lenkrad hervorzuziehen und genüsslich auf dem Gehweg auszustrecken. „Hast mir einen schönen Schrecken eingejagt, als ich dich heute Morgen so hier habe sitzen sehen. Ich dachte du atmest nicht mehr. Warst steif wie eine Puppe“, sagt Marianne, wobei kein Vorwurf in ihrer Stimme mitschwingt. Nur ehrliche Sorge. „Tut mir leid.“ Und ich meine es tatsächlich so. „In meinem Alter sollte man sein Leben im Griff haben“, nippe ich an der Schokolade, verbrenne mir dabei prompt die Zunge. „Vorsicht, heiß!“, grinst Marianne, lehnt sich mit einem leisen Seufzen nach hinten. „Das ist Unsinn, Raphael“, sagt sie dann. Schweigend sitzen wir nebeneinander, ihre Hand ruht auf meinem Knie, streicht beinahe abwesend über den Stoff meiner Jeans, während ihre Augen einen unbekannten Punkt in der Ferne fixieren. „Alles okay?“, frage ich sie, lege einen Arm um sie und ziehe sie in ihrem Sitz zu mir herüber. Ich höre ein leises Aufschluchzen. Plötzlich bebt ihr ganzer Körper und mir schwappt ein bisschen der Schokolade über die Hand. „Was ist passiert?“, hake ich nach, stelle die Tasse nach draußen auf den Gehweg und nehme Marianne dann vollständig in den Arm. Ihre Hände krallen sich in mein T-Shirt und eine ganze Weile sitzen wir einfach nur nebeneinander und warten, dass sie sich wieder beruhigt. „Bernhard ist gestern Abend ausgezogen“, sagt sie schließlich, zieht ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischt sich damit über das nasse Gesicht. Einen Moment lang kann ich nichts sagen. Das ist eine wirklich schockierende Nachricht. So liebevoll wie die beiden immer gewirkt haben – auch in der letzten Zeit – hätte ich nie gedacht, dass es zu einer Trennung kommen würde. Ihre Ehe war perfekt. In meinen Augen. „Sag nichts“, schaltet sich Marianne in meine Gedanken. Ein schwaches Lächeln ziert ihre bebenden Lippen. „Wir wollten die Kinder nicht beunruhigen und haben ihnen nichts gesagt. Schon lange lief es nicht mehr so gut zwischen ihm und mir und wir haben uns einvernehmlich dafür entschieden, dass wir eine Trennung einlegen. Vorerst. Um zu sehen, wie es jetzt weitergehen soll.“ „Wollt ihr euch scheiden lassen?“ „Ich weiß es nicht.“ Ihr Blick wird weich, sie streicht mir über die Wange. „Ich liebe meinen Mann und ich werde alles für unsere Ehe tun was nötig ist. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass man Dinge nicht erzwingen kann. Er braucht Zeit, hat er gesagt. Und ich als seine Ehefrau werden sie ihm geben.“ „Warum hast du mir nichts gesagt? Ich wäre doch gekommen, ich…“ Ihr Zeigefinger auf meinen Lippen unterbricht mich. Sie ergreift meine Hände, drückt sie fest und schafft tatsächlich ein ehrliches Lächeln. „Raphael, ich habe dich bei den Kindern mit eingerechnet, verstehst du?“ Ich schüttle den Kopf. „Also wirklich“, seufzt sie theatralisch auf. Das Lächeln schwindet nicht eine Sekunde lang. „Bernhard und ich lieben dich wie einen unserer eigenen Söhne, die Zwillinge sehen zu dir auf und Thomas wäre ohne dich doch überhaupt nicht lebensfähig. Auch wenn du es vielleicht nicht weißt, aber du warst immer und wirst auch immer ein Teil dieser Familie sein. Hörst du?“ Ein Damm bricht in mir und nun sind es meine Tränen die fließen. Nie und nimmer hätte ich mit solchen Worten gerechnet. Ich werde in meinem Leben nie gut machen können, was diese Menschen für mich getan haben und immer noch tun, aber ich hoffe, dass ich ihnen wenigstens einen Teil zurückzahlen kann. „Und wenn ich nicht wüsste“, fährt Marianne fort. „das du und Jamie gut alleine zurecht kommt, dann hätte ich dich schon längst aus deiner Wohnung geholt und bei uns einquartiert. Ich hoffe du weißt, dass dir unsere Tür immer offen steht, Raphael.“ Ich falle ihr in die Arme, die mich sanft umfangen und mich hin und her wiegen, wie ein kleines Kind. Vielleicht bin ich auch genau das. Noch ein Kind, das im Körper eines Erwachsenen zu überleben versucht. Ihr Geruch und ihre Wärme sind Balsam für meine Seele und wir verbringen eine lange Zeit damit uns gegenseitig im Arm zu halten. Wir reden über viele kleine Alltäglichkeiten und sprechen über die Zwillinge und Thomas. Marianne erzählt mir von ihrer Schwangerschaft und wie sie Bernhard kennen gelernt hat und es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Es ist ein Moment der Eintracht. „Sieh nur wie spät es ist“, deutet sie schließlich auf ihre Armbanduhr, lacht und schüttelt den Kopf. „Wir sollten langsam mal die Jungs wecken und Frühstück machen.“ Mir gefällt dieses Wir. „Aber vorher erzählst du mir noch, warum du die Nacht in diesem furchtbar unbequemen Auto verbracht hast. Mir schmerzt schon jetzt der Rücken.“ „Ich war bei meinen Eltern“, eröffne ich ihr und sie erstarrt in der Bewegung. „Weiß nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Vater sehen und mit ihm sprechen müsste.“ „Oh Raphael!“ Marianne ist sofort wieder voll bei mir, ergreift meinen Arm und lehnt sich an mich. Ihre Sorge ist wirklich rührend und ich begreife erst jetzt, dass ich in ihr tatsächlich eine Mutter gefunden habe, die mich liebt und mich beschützt. „Es ist spät geworden und als ich hier angekommen bin wollte ich euch nicht wecken, deswegen habe ich draußen geparkt und bin wohl eingeschlafen. Ich war hundemüde.“ „Das glaub ich dir“, pflichtet sie mir bei. „Ein Grund mehr, dass wir jetzt da rein gehen und Kaffee machen.“ Gemeinsam steigen wir aus, ich schließe den Wagen ab, nehme die nun abgekühlte Tasse auf und folge Marianne in die Wohnung, die ich zum ersten Mal als mein eigentliches Zuhause betrachte. „FRÜHSTÜCK“, hallt es laut durch alle Zimmer, als Johannes und Lars wie zwei Tornados in die Küche gefegt kommen. Und keine zwei Sekunden später hört man „RAPHA!“. Die beiden Zwölfjährigen fallen mir regelrecht um den Hals, drücken sich an mich, zerren an meiner Kleidung und schubsen einander gegenseitig zur Seite. Ich ziehe sie beide in meine Arme, zerwühle ihnen ihre Frisuren und necke sie wo ich nur kann. „Jungs, hinsetzen!“, geht Marianne dazwischen, stellt zwei Gläser mit Apfelschorle auf den Tisch und verweist ihre Söhne auf ihre Plätze. Die alltägliche Kabbelei um die frischen Toasts und die Schokolade sind in vollem Gange. Ich gehe Marianne beim Kaffee zur Hand. „Hallo? Ist jemand zu Hause?“, ertönt es aus dem Flur und ich kann mir gerade noch rechtzeitig die Ohren zuhalten, ehe die Zwillinge einen gellenden Urschrei loslassen um mitzuteilen, dass niemand im Umkreis von drei Kilometern noch schlafen kann. Grinsend biegt Thomas um die Ecke, verpasst seinen kleinen Brüdern jeweils einen Klaps auf den Hinterkopf, küsst und drückt seine Mutter, ehe er mich erblickt und in seine Arme zerrt. Ich vergrabe mich in seiner Halsbeuge und atme seinen beruhigenden Duft ein. Mein bester Kumpel hat mir eindeutig gefehlt. „Hey, hey, hey… alles okay, Mann?“, raunt er mir leise zu und ich nicke schwach. Sein Lachen ist eine reine Wohltat. Er klopft mir auf die Schulter, drückt mich wieder fest, ehe er sich dann von mir löst um mir einen besorgten Blick zuzuwerfen. „Wir müssen dringend quatschen. Meine Ausbildung hat mich echt lange genug von dir fern gehalten“, gesteht er verlegen ein. Dann dirigiert er mich zum Küchentisch und wir fallen beide auf unsere Stühle und beginnen zu essen. Die Unterhaltung an diesem Samstagmorgen ist einfach und gespickt mit den Dingen die im Leben nun einmal passieren. Thomas berichtet von seiner Ausbildung als Erzieher und er hat sichtlich Spaß daran. Johannes und Lars sind unverändert die Rabauken des Ganzen und stellen allerlei Unsinn an, während Marianne einfach die liebevolle Mutter ist, die sie nun einmal ist. Wir sind gerade mit abräumen beschäftigt, als es an der Tür klingelt und die Zwillinge losstürmen um sie zu öffnen. Ich reiche Marianne die Aufstriche, während Thomas die Spülmaschine einräumt. Wir alle sehen auf, als wir einen leisen Aufschrei vernehmen und plötzlich mein kleiner Bruder an meinem Hals hängt. Weinend. Eine Zeit lang schluchzt er ganz unverständliche Sachen vor sich hin und ich lasse ihn einfach gewähren. So stehen wir mitten in der Küche und lassen Marianne und Thomas um uns herum arbeiten. Johannes und Lars zeigen vollkommenes Desinteresse für Familiendramen und sind bereits wieder in ihrem Zimmer verschwunden um ihren Kleinkrieg auf eine neue Stufe zu heben. „Jetzt komm wieder runter“, meine ich nach einer Weile, schiebe Jamie von mir und sehe in sein tränennasses Gesicht. Marianne und ich werfen uns einen wissenden Blick zu. „Wir sind alle zu nah am Wasser gebaut“, kommentiert sie ruhig, schenkt eine frische Tasse Kaffee ein und stellt sie Jamie hin, der sie dankend annimmt. Als ob alle Kraft aus ihm gewichen wäre, lässt er sich auf einen der Stühle nieder. Wir anderen nehmen ebenfalls wieder Platz und ich greife nach Jamies Hand, während Thomas ihm beruhigend über den Rücken streichelt. Es dauert eine Weile, bis mein kleiner Bruder tatsächlich soweit ist um mir die erwarteten Vorwürfe zu machen. „Wenn es eins gibt, dass ich absolut nicht vertragen kann“, schaut er mich mit blitzenden Augen an. „dann ist es, wenn du einfach irgendwohin verschwindest, ohne mir zu sagen warum und wann du wiederkommen wirst.“ „Ich hab dir gesagt, dass ich heute morgen wieder da bin“, werfe ich zu meiner Verteidigung ein. „Es ist bereits MITTAG“, sagt Jamie eine Spur zu laut. Ich verfolge auf der Küchenuhr, wie sich der große Zeiger in diesem Moment auf die zwölf schiebt. Jetzt ist Mittag. „Oh, spar dir das, Rapha, wirklich!“, warnt mein Bruder, der meinem Blick gefolgt ist. „Entschuldige“, grinse ich ihn an, klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. Während ich immer wieder behutsam über Jamies Rücken streichle, unterhalte ich mich mit Marianne und Thomas. Es ist reiner Alltag, aber es auch das absolute Glücksgefühl. Ich sitze neben meinem weinenden Bruder, der vor Sorge um mich fast umgekommen wäre, unterhalte mich mit meinem besten Freund, der mich auch nach dreißig Jahren noch am besten von allen verstehen würde und dabei halte ich die Hand einer Frau und Mutter, deren Herz größer ist als dieses ganze Universum. Das alles ist mein Zuhause. Und ich freue mich auf einen weiteren Tag darin. --- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)