Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 11: Eisschmelze (2001 / 06) ----------------------------------- 11. Kapitel – 2001 (Juni) Mit einigem Unbehagen ziehe ich an der Krawatte um meinen Hals und versuche mich so vor dem nahen Erstickungstod zu bewahren. Allerdings schlagen schlanke Finger meine Hand weg und mich trifft ein missmutiger Blick aus vertrauten Augen. „Halt endlich still“, knurrt mich Thomas an, greift mich am Arm und bugsiert mich mit sanfter Gewalt zu dem kleinen Grüppchen, das hauptsächlich aus seiner und Martinas Familie besteht. Bernhard und Marianne bemühen sich redlich die Zwillinge im Zaum zu halten, während diese jeden unbeobachteten Moment ausnutzen und irgendwelchen Blödsinn veranstalten. Die Szene wird von Martinas Eltern mit Milde und Nachsicht belächelt und schließlich beendet ein Machtwort seitens Bernhards den gesamten Zirkus. „Oh, Raphael, wie schön!“, freut sich Marianne und klatscht begeistert in die Hände. „Du siehst richtig gut aus in deinem Anzug, sehr schön!“ „Danke“, gebe ich knapp zurück und werfe ihr ein gequältes Lächeln zu. Insgesamt sind wir eine Gruppe bestehend aus elf Leuten. Familie Vogel, Martinas Eltern und ihre beste Freundin sowie bester Freund, meine Wenigkeit und Chris. Letzter schießt die Fotos von der Feier und hat es doch tatsächlich geschafft sich die Bezeichnung „bester Freund“ bei meinem Bruder zu erarbeiten. Abrupt wende ich mich zu dem Braunschopf um, der in einigen Meter Entfernung an die Wand gelehnt steht und mit flinken Fingern die Einstellung seiner Digitalkamera überprüft. Seine Haare fallen ihm dabei etwas in die Stirn, verdecken seine Augen. Ich löse mich aus Thomas’ Griff und trete auf ihn zu. „Alles in Ordnung?“ Überrascht blickt er zu mir auf, lächelt dann allerdings und nickt mir zu. „Ja. Ich wollte nur sicher gehen, dass der Akku voll und der Speicher leer ist.“ „Mach dir keinen Kopf“, sage ich leise, strecke meine Hand nach ihm aus und streiche ihm durch die Haare, die mir einen Deut zu lang sind. „Du solltest zum Friseur.“ „Ich mag es so“, neckt er mich. „Ich hatte bisher leider keine Zeit.“ „Musst du viel in der Schule lernen?“ An seinem verzogenen Gesicht sehe ich, dass er vermutlich wieder viele Stunden geschwänzt hat und seine schulische Ausbildung kein Grund für graue Haare ist. Zumindest für ihn nicht. Ich hingegen schnipse ihm mahnend gegen die Stirn. „Hör auf zu schwänzen“, maule ich ihn an, was ihn allerdings nur mit den Schultern zucken lässt. „Im Studio gibt es viele interessante Aufträge, da will ich viel lieber helfen, als die Schulbank zu drücken“, rechtfertigt er sich trotzig, schüttelt meine Hand ab und will sich von mir abwenden. Im letzten Moment greife ich nach seinem Handgelenk, halte ihn zurück und ziehe ihn ein wenig näher an mich, damit ich nicht all zu laut sprechen muss. Die anderen müssen schließlich auch nicht alles wissen. „Was ist mit dir los?“, frage ich an seinem Ohr. „Du bist den ganzen Tag schon so schlecht drauf. Ist was passiert?“ „Nein“, wehrt er ab. „Und das ist es ja gerade.“ „Chris…“, beginne ich entnervt, werde aber von Thomas unterbrochen, der uns mit einem Winken zu verstehen gibt, dass die beiden Hauptpersonen endlich da sind und auch die Standesbeamtin die letzten formalen Dinge zu ihrer Zufriedenheit geregelt hat. Der Raum, in den sie uns führt, ist nicht mehr als ein größerer Büroraum, drei lange Stuhlreihen nehmen den meisten Platz ein und breite Fenster sorgen für genügend Licht und Frischluft. Ein Schreibtisch und zwei einzelne Stühle für das zu trauende Paar komplettieren die Einrichtung. Jeder findet für sich einen Platz – die Zwillinge getrennt voneinander – und nach einem kurzen Gespräch mit dem Paar beginnt die Beamtin mit ihrer Rede. Ich höre nicht wirklich hin, erhebe keinen Einspruch an der entsprechenden Stelle und bin im Großen und Ganzen damit beschäftigt Lars auf seinem Stuhl neben mir zu halten. Die Zwillinge haben heute scheinbar Flöhe in der Hose, denn sie können wirklich keine Minute still sitzen bleiben. Mit dreizehn Jahren könnte man das zwar schon von ihnen erwarten, aber in den Köpfen der beiden Jungs hat bekanntlich schon immer ein gewisses Chaos geherrscht. „Ich beglückwünsche Sie ganz herzlich“, schließt die Beamtin das Prozedere, reicht Martina und Jamie die Hand und verlässt dann schnell den Raum um der Familie ihre Zeit zu geben. Die gesamte Gruppe stürzt nach vorne, schießt eigene Fotos, nimmt das Paar abwechselnd in Beschlag und es herrscht allgemein sehr viel Aufregung. Als ich sehe wie Marianne Jamie in die Arme schließt und ihm bekundet wie stolz sie sei, bricht bei mir ein Damm. Ich spüre wie einige Tränen meine Wangen hinunterlaufen, die ich eilig fortwische. Jamie hat eine Familie. „Komm an meine Brust, Bruderherz!“, erschallt Thomas sonore Stimme und laut lachend fallen sich die beiden in die Arme, drücken sich herzlich und beginnen miteinander zu scherzen und zu albern. Und Thomas ist Jamie tatsächlich wie ein Bruder. Ganz anders als ich, der ich jetzt eigentlich da vorne stehen und Jamie beglückwünschen sollte. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht für meinen kleinen Bruder freuen, dafür bin ich zu egoistisch. Denn ich weiß genau, dass mir nicht mehr viel Zeit mit Jamie bleibt und das es nie wieder so sein wird wie in dem letzten Jahr das ich mit ihm hatte. Trotz allem werde ich an dem Leben meines Bruders kaum Anteil haben. Ich habe ihn nicht aufwachsen sehen und schneller als erwartet ist er den Kinderschuhen entschlüpft und geht nun seine eigenen Wege. Für mich ist das kein Platz mehr. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich meinen Bruder um ein Vielfaches mehr liebe, als er mich. Und es zerreißt mir das Herz, als ich mich durch den Blick in seinen Augen bestätigt sehe. Ein Ausdruck voller Hingabe, Vertrauen und Liebe. Und er gehört allein Martina. „Raphael, was sitzt du noch hier rum?“, ertönen die Stimmen der Zwillinge vor mir und zwei erwartungsvolle Gesichter schauen mich an. „Ich schmeiße mich nicht gerne ins Getümmel“, antworte ich ihnen. „Bist du traurig?“, fragt Johannes; zielsicher wie Kinder in dieser Hinsicht sind. „Nein“, wehre ich lächelnd ab, stehe langsam auf und packe die beiden an jeweils einem Arm, reiße sie hoch und halte sie an meiner Hüfte fest. Die beiden johlen vergnügt und sind dann mit einem Mal ganz Handzahm, schmiegen sich an meine Seite und halten still, als ich mich mit ihnen auf dem Arm durch die Stuhlreihen nach vorne dränge. „Martina“, spreche ich die zukünftige Frau Montega an, die sich daraufhin mit einem strahlenden Lächeln zu mir umdreht. „Schön, dass du dem Querkopf eine Chance gibst.“ „Und dabei kann ich doch froh sein, dass er mich alte Schachtel überhaupt will!“, grinst sie vergnügt, küsst mich anschließend auf die Wangen und sieht mich lange und beinahe forschend an. „Es tut mir leid, Raphael“, sagt sie schließlich. „Was denn?“ „Ich nehme dir Jamie weg.“ Ich versuche mich an einem freundlichen Lächeln, habe aber das untrügliche Gefühl, dass es mir nicht ganz gelingt und eher einer Fratze ähnlich sieht. „Lass mir einfach ein Stück von ihm übrig, ja?“, antworte ich nach einer Weile und bin ein wenig erleichtert darüber, dass Martina ein intelligentes, verständnisvolles Mädchen ist, das tatsächlich nicht vorhat sich mehr als nötig zwischen uns zu drängen. „Na klar.“ Ich wende mich von ihr ab, nehme die netten Worte ihrer Eltern hin, erwidere sie und schlängle mich so durch die gesamte Versammlung bis ich schließlich vor Jamie zum stehen komme, der mich breit angrinst und dann Lars und Johannes verscheucht, die prompt von mir ablassen und wie wild geworden durch den Raum fegen. „Rapha.“ „Jamie“, erwidere ich ebenso klug, verpasse meinem Bruder einen Klaps gegen die Stirn, ziehe ihn fest in meine Arme und atme seinen leicht herben Duft ein. „Mach mir keine Schande, hörst du?“, raune ich ihm ins Ohr, spüre ihn nicken. Einen Moment halten wir uns nur im Arm, schweigen uns an und genießen die Nähe zwischen uns, die uns in all den Jahren immer verbunden hat. Niemals könnte ich meinen kleinen Bruder loslassen. Er ist mein Lebensinhalt. „Dass mir keine Klagen kommen, verstanden? Bleib sauber!“ „Ich bin schon groß, weißt du?“, wehrt Jamie lachend ab, löst unsere Umarmung, schmiegt sich aber dennoch an meine Hand, als ich seine Wange streichle. „Ich weiß, ich weiß“, antworte ich, nicke ihm zu, lasse mich in Mariannes Arme fallen und tausche mit Bernhard einige Witze. Chris hopst um uns herum, schießt das ein oder andere Foto und steht dann bei Jamie, lachend und redend. Die beiden scheinen tatsächlich sehr gut miteinander aus zu kommen. „Was meinst du, Raphael, sollen wir schon mal ins Restaurant vorgehen?“, fragt Bernhard, fängt einen seiner Söhne ein und hält ihn unerbittlich fest. „Keine schlechte Idee“, antworte ich, greife mir den anderen Zwilling, lade den Rest der Gesellschaft ein uns zu begleiten und mache mich dann mit Bernhard, Marianne, Johannes, Lars und dem besten Freund von Martina auf den Weg. Der Rest geht es lieber ruhiger an und genießt die Sonnenstrahlen noch vor dem Standesamt. Auch Chris bleibt zurück, was mich einen Moment lang stört. Ich schüttle den Gedanken jedoch von mir ab und widme mich ganz den Zwillingen die nach Aufmerksamkeit und Beschäftigung schreien. „Manchmal frage ich mich, ob die beiden nicht eine Aufmerksamkeitsstörung haben“, seufzt Marianne, schüttelt über ihre Söhne den Kopf. „Wir sollten sie einfach in einen Sportverein stecken“, entgegnet Bernhard gelassen. Eine Weile unterhalten sich die beiden mit Martinas bestem Freund, während ich den Zwillingen hinterher jage und mich gemeinsam mit ihnen ein wenig austobe. Als wir an einem Spielplatz vorbeikommen sind die beiden nicht mehr zu halten, rasen die Gerüste rauf und runter und veranstalten einen Wettbewerb nach dem anderen. Aufgrund meiner Größe komme ich den beiden nicht mehr hinterher und gönne mir stattdessen eine Pause auf der Bank neben den anderen. „Raphael, nicht wahr?“ „Ja. Und dein Name war noch mal?“, frage ich zurück, ergreife die ausgestreckte Hand. „Benjamin.“ „Hi“, grüße ich kurz, lasse mich zwischen ihm und Marianne nieder, atme tief durch und verfalle dann in Schweigen. Ich weiß nichts Großartiges zu sagen, hänge lieber meinen eigenen Gedanken nach und spüre in mir die Hoffnung keimen, dass die anderen uns einholen werden. „Was machst du eigentlich beruflich?“, fragt Benjamin rechts von mir und ich bin fast geneigt die Augen zu verdrehen. Diese Frage ist wirklich nervig. „Ich bin Barbesitzer“, gebe ich dann trotzdem zu. Manchmal habe ich mich mit irgendeiner Lüge raus gewunden, weil mir die Reaktionen auf meinen Job immer schon missfallen haben. „Wirklich? Wo denn?“ „Kennst du das BlackRaven?“ Benjamin nickt enthusiastisch. „Ich war ein oder zweimal da. Das ist ja cool.“ Wenn er mich jetzt fragt ob ich ihm einen ausgebe, dann schubs ich ihn von der Bank. „Ihr baut gerade um, oder?“ „Nein, das war schon. Wir haben eine kleine Küche eingebaut, damit die Leute auch was essen können.“ Eine Zeit lang unterhalte ich mich noch mit Benjamin über den Laden, denke dabei daran, dass ich mich bald entscheiden muss was ich möchte. Entweder ich führe alles weiter wie bisher, oder aber ich verkaufe. Noch immer bin ich unentschlossen. Irgendwann wird es Marianne zu kalt und sie drängt zum Aufbruch. Ich bin Lars dankbar, als er von hinten Anlauf nimmt und mir dann auf den Rücken springt, denn so muss ich mich nicht weiter mit Benjamin unterhalten, der mir mit jeder Sekunde unangenehmer wird. Wir schlendern langsam die Straßen entlang, reden, schweigen und genießen den anbrechenden Abend. Benjamin zückt nach einiger Zeit sein Handy, ruft Martina an und erkundigt sich wo der Rest unserer Truppe geblieben ist. Die sind wohl auch unterwegs und nur knapp zwei Querstraßen hinter uns. Wir entschließen und zu warten. „Wie lange waren wir denn auf dem Spielplatz?“, frage ich Marianne, die einen Blick auf ihre Armbanduhr wirft. „Eine gute Stunde.“ „Ist mir gar nicht so lange vorgekommen.“ Johannes fordert meine Aufmerksamkeit als er darauf besteht ebenfalls von mir getragen zu werden. Ein Streit bricht zwischen den Zwillingen aus, den Bernhard und ich zu schlichten versuchen. Über das hin und her schließen die anderen zu uns auf und schon von weitem kann man Thomas hören, der seinen Brüdern ein strafendes Wort zuruft. Als sie endlich heran gekommen sind, verpasst er den beiden Jungs einen Klaps auf den Hinterkopf und schimpft wie ein Rohrspatz. Sichtlich unbeeindruckt von der Vorstellung des großen Bruders verziehen sich die Zwillinge in erneuter stummer Eintracht. „Du verwöhnst sie zu sehr“, mault Thomas an mich gerichtet. „Kinder haben das Recht verwöhnt zu werden“, entgegne ich ungerührt, fange mir dafür eine Kopfnuss ein. „Du als großer Bruder musst doch wissen wie unerträglich diese Blagen werden können!“ „Nein… den Teil habe ich wohl verpasst“, gebe ich zurück, ernster als beabsichtig. Und auf Thomas’ besorgten Blick hin wende ich mich von ihm ab. Die Gruppe setzt sich erneut in Bewegung und lange Zeit bleibe ich für mich alleine. Martina lotst uns alle durch die Straßen bis hin zu einem nett aussehenden Restaurant, das einen sehr heimischen Zug vermittelt. Als wir eintreten werden wir nett begrüßt und zu unserem Tisch geleitet, der sich in einem separaten Eck befindet. Jacken werden ausgezogen und auf den Ständer verfrachtet, die Ersten nehmen bereits Platz, während die anderen noch mit reden Zeit vertrödeln. Marianne und Martina ziehen sich auf die Toilette zurück und Ausnahmsweise leiste ich ihnen Gesellschaft. Als ich aus der Kabine trete, treffe ich im Waschraum auf Chris, der an die Tür gelehnt steht und mich abwartend mustert. Ich wasche mir die Hände, werfe ihm dabei einen prüfenden Blick zu. „Setzt du dich neben mich?“, fragt er leise. „Bist du mir deswegen nachgelaufen?“ „Nein. Ich musste aufs Klo“, lächelt er milde, geht an mir vorbei, drückt die Kabinentür auf, wendet sich aber doch noch einmal zu mir um. Er sieht mich an – einfach nur an. Dann dreht er sich um und verschwindet in der Kabine. --- Das Essen geht bis zum späten Abend, die Männer trinken ein Bier nach dem anderen, während sich die Frauen zu einer Klatschrunde versammelt haben. Jamie ist in eine Unterhaltung mit Benjamin vertieft, während Thomas versucht seine Brüder davon abzuhalten die offene Weinflasche zu stibitzen. Ich selbst sitze zusammen mit Chris in einvernehmlichem Schweigen am Ende des Tisches, abseits von den anderen und wundere mich augenblicklich über mich selbst. Seitdem uns die Nachspeise gebracht wurde habe ich unter der Tischplatte nach Chris’ linker Hand gegriffen und halte sie nach wie vor fest. Es hindert mich daran das Eis zu essen, das vor meinen Augen dahin schmilzt, allerdings merke ich, dass ich mich deutlich ruhiger fühle. Seit dem Silvesterabend habe ich Chris nur selten zu Gesicht bekommen. Ab und an hat er bei uns übernachtet, doch dann habe ich ihn entweder in die Schule geschleift oder aber zu Hause abgesetzt. Seine Nähe macht mich manches Mal nervös, während sich mich zu anderen Zeiten wiederum sehr beruhigt. Als ich mit Jamie darüber gesprochen habe, hat der mich nur wissend angegrinst und gemeint, dass ich dabei wäre mich in Chris zu verlieben. Zunächst habe ich diesen Gedanken abgelehnt, aber nach einiger Zeit ist mir bewusst geworden, dass ich mich tatsächlich danach sehne ihn zu sehen und um mich zu haben. Vielleicht bin ich wirklich verliebt. Oder auf dem Weg dahin. „Rapha, Mund auf“, höre ich Chris neben mir, wende mich zu ihm um und tue was er sagt. Keine Sekunde später habe ich einen Löffel im Mund und eine angenehme Kühle breitet sich durch das Eis in mir aus. Ich schlucke es hinunter, drücke seine Hand ein wenig fester. „Gibst du mir noch eine Antwort?“, frage ich leise. „Warum du schlecht drauf warst?“ Chris lässt den Kopf sinken, stochert in meinem Eis herum, ehe er sich selbst einen Löffel genehmigt. Immer wieder hebt er die Schultern, lässt sie sinken, so als ob er sich darauf einstellen müsste mir zu antworten. „Wir hatten seit Silvester kaum noch eine Minute alleine“, beginnt er dann. „Und wenn, dann warst du immer distanziert; hast mich nach Hause oder in die Schule geschickt. Meine Mum hat mich zu Hause dauernd kontrolliert. Wohin ich gehe, wann ich wieder komme, ob ich meine Hausaufgaben gemacht habe und all das. Ich bin auch kaum ins Studio zu meinem Großvater gekommen. Das hat genervt.“ Er seufzt tief, schiebt mir einen weiteren Löffel mit Eis in den Mund. „Ich dachte ja, dass ich damit fertig werden würde, aber ehrlich gesagt ätzt mich das Gymnasium tierisch an und zu Hause würde ich gerne ausziehen. Außerdem…“ „Außerdem?“, hake ich nach, als er nicht weiter spricht. „Ich hab dich vermisst“, murmelt er leise, sieht mir nicht in die Augen. „In welcher Klasse bist du jetzt?“, frage ich nach einer Weile. Ich traue mich nicht ihm auf sein Geständnis zu antworten, denn ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wenn ich ihm gestehe, dass auch ich ihn vermisst habe, wird er sich womöglich Hoffnung machen. Und derzeit bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Hoffnung wirklich erfüllen kann – und will. „Noch in der Elf. Haben gerade Sommerferien.“ „Warum bist du doch aufs Gymnasium gegangen?“ Er schnaubt unwillig. „Meine Mum hat meinem Großvater Druck gemacht. Sie meinte, wenn er nicht dafür sorgt, dass ich mein Abitur mache, dann könne er sich einen anderen Nachfolger suchen. Unter den Umständen bin ich natürlich gegangen.“ Einen Moment lang sehe ich Chris einfach nur an. Seine Mutter habe ich bisher nur ein paar wenige Male gesehen, wenn ich ihn nach Hause gebracht habe. Sie wirkte immer streng und unnachgiebig auf mich, aber auch sehr liebevoll gegenüber ihrem Sohn. „Sie will nur dein Bestes“, meine ich aufmunternd. „Bla bla bla“, gibt Chris brummig zurück. Ich lache leise, lehne den nächsten Löffel mit Eis dankend ab. „Hast du mich verstanden, Rapha?“, fragt Chris mich schließlich. Ich nicke. „Ich hab dich vermisst“, wiederholt er. „Ja. Ist angekommen.“ „Sagst du nichts dazu?“ „Ich überlege mir noch eine Antwort“, gestehe ich, schmunzle vergnügt und werfe einen raschen Blick zu den anderen, die immer noch in ihre Gespräche vertieft sind. Ich betrachte Jamie eine Weile, lasse das Gefühl der Enttäuschung allerdings nicht noch einmal in mir aufkommen. „Ich dachte immer, dass ich Jamie genauso viel bedeuten würde, wie er mir“, erzähle ich Chris, der mich mit einem fragenden Blick mustert. „Seit seiner Geburt war Jamie für mich alles. Als mein Vater sich veränderte und damit begann mich zu schlagen, habe ich das ertragen, für Jamie. Acht Jahre lang habe ich mich hingehalten, wenn mein Vater wütend wurde, denn ich hatte immer Angst, dass er irgendwann auf meinen kleinen Bruder losgehen könnte.“ Das Lachen der Männergruppe wird lauter. Als Jamie sich nach uns umsieht, winke ich ihm kurz zu und erwidere sein Lächeln. „Mit Sechzehn habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin abgehauen. Jamie musste ich zurück lassen, auch wenn ich ihm und mir geschworen habe ihn zu holen, wenn die Zeit gekommen ist. All die Zeit habe ich nur an ihn gedacht. Auch den Laden und das Geld das ich damit verdient habe, geht größtenteils an ihn. Ich wollte immer, dass er unbeschwert aufwächst und so wenig Bindung wie möglich zu unseren Eltern hat. Nachts hat er manchmal Albträume und ich war immer da um ihn aufzuwecken und zu beruhigen. Langsam aber sicher hat er sich von seiner Vergangenheit lösen können. Er ist erwachsen geworden, hat ein ganz normales Leben begonnen und sich verliebt. Bei allem habe ich ihn unterstützt und überwacht. Wenn er gefallen ist, habe ich ihn wieder aufgehoben. Die zwei kurzen Jahre die ich mit ihm alleine hatte, sind nun vorbei, dass weiß ich. Im Grunde wusste ich es schon seit er mir zum ersten Mal von Martina erzählt hat. Ich habe sehr gute Arbeit geleistet, Chris. Mein Bruder ist ein wundervoller Mensch geworden. Er braucht mich nicht. Nicht mehr. Ich habe alles für ihn getan und geopfert, damit er seine Vergangenheit vergisst, während ich selbst noch immer darin fest hänge.“ Ich atme einmal tief ein uns aus, fixiere das Gesicht meines Bruders, der mich noch immer ansieht. Sein Lächeln ist verschwunden und er blickt besorgt zu mir herüber. Müde fahre ich mir mit der freien Hand über die Augen. Chris neben mir ist ganz still. Seine Hand liegt warm in meiner und sein ruhiger Atem ist seltsam einlullend. Seine ganze Präsenz ist wie eine große Blase, die mich umschließt und abschirmt. Trotz des Gefühlschaos in mir drin, fühle ich mich sicher. „Es reißt mir das Herz heraus, das er heiratet, das er ausziehen wird, das er überhaupt nur einen anderen Menschen als mich ansieht. Aber ich weiß, dass ich dagegen nichts tun kann. Er muss seinen Weg gehen und ich muss endlich lernen von alledem Abstand zu nehmen. Trotzdem… fühle ich mich verloren.“ Eine warme Träne rinnt mir die Wange hinunter, doch noch ehe ich sie wegwischen kann, greift Chris nach mir, hält mich fest und zwingt mich dazu ihn anzusehen. „Ich liebe dich“, flüstert Chris mir zu, sieht mich unverwandt an. „Wenn ich es nicht vorher schon getan hätte, dann spätestens jetzt. Ich liebe dich, Raphael.“ Martinas Eltern kommen an uns vorbei, lassen ein paar Worte fallen und verschwinden dann Richtung Toiletten. Als Thomas sich zu uns gesellen will winke ich ab. Einen Moment ist er überrascht, nickt dann aber und zieht sich zu Martina und Jamie zurück. Chris wartet einen Augenblick, schließlich lehnt er seinen Kopf an meine Schulter, drückt meine Hände fest an sich und atmet einmal tief durch. „Immer versuchst du ein Kopfmensch zu sein, Rapha. Dabei bist du jemand, der danach handelt wie er sich fühlt. Du bist impulsiv und auch unberechenbar, aber immer kann man sich auf dich verlassen und – was am wichtigsten ist – du bist ehrlich. Weder mir noch den anderen gaukelst du irgendetwas vor. Allerdings frisst du viel zu viel in dich rein und keiner merkt was davon, weil du dich nur ungern von wem durchschauen lässt. Immer bleibst du ein Einzelkämpfer.“ Das Ehepaar kommt von der Toilette zurück und erneut bricht großes Gelächter aus, als Martinas Vater scheinbar einen vorher gefallen Witz wieder aufgreift. „Vielleicht hängt es mit deinem Vater zusammen, keine Ahnung, aber ich finde, dass du langsam mal damit anfangen solltest die Gefühle der Menschen um dich rum anzunehmen.“ „Was meinst du?“, frage ich verwirrt, ernte ein sanftes Lächeln. „Die ganze Familie Vogel zum Beispiel. Herr und Frau Vogel lieben dich wie ihren eigenen Sohn und die drei Jungs vergöttern dich als ihren Bruder. Du bist ein Teil dieser Familie, bist es schon immer gewesen, aber wie oft schottest du dich von ihnen ab?“ Als ich unwillkürlich zusammen zucke weiß Chris, dass er einen wunden Punkt getroffen hat. Trotzdem fährt er fort. „Du glaubst das du Jamie nicht so viel bedeutest wie er dir? Hm, vielleicht ist das so. Vielleicht aber auch nicht. Wenn du dir wegen seiner Gefühle nicht sicher bist, dann solltest du ihn fragen und nicht einfach annehmen was dir gerade passt. Jeder Mensch ist anders und zeigt seine Zuneigung auf eine andere Art und Weise. Vielleicht ist sich Jamie gar nicht bewusst, dass du dich vernachlässigt fühlst. Du sagst ja nie was und tust immer so als sei alles in Ordnung.“ „Chris…“, will ich ihn unterbrechen, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen. „Alles was ich sagen will ist, dass du versuchen solltest ehrlicher zu dir selbst zu sein. Hab keine Angst vor den Menschen. Lass dir von dem Schatten deines Vaters nicht dein Glück kaputt machen.“ Eine Zeit lang sehen wir uns einfach nur an, dann zieht Chris seinen Finger zurück, lehnt sich ein wenig vor und platziert einen sanften, warmen Kuss in meine Halsbeuge. „Ich liebe dich“, haucht er leise, streicht zaghaft über meine Wange. Ich greife nach seiner Hand, ziehe sie zu mir und küsse jeden einzelnen seiner Finger. In diesem Moment fühle ich es so stark wie noch nie in mir brodeln. Einem Impuls nachgebend greife ich nach seinen Schultern, drücke ihn an mich heran. „Ich liebe dich“, wiederholt er. „Ich weiß“, flüstere ich, komme ihm noch ein bisschen näher und versiegele seine Lippen schließlich mit meinen. Er erzittert unter der Berührung, sinkt mir weiter entgegen. Seine Hände krallen sich in das Hemd, das ich heute angezogen habe und ich höre ihn leise keuchen. „Scheiße, Rapha!“, höre ich Thomas von irgendwo rufen, auch Jamie sagt etwas, aber ich verstehe es nicht mehr. Ich halte Chris in meinen Armen. Und das ist momentan das Einzige, das wichtig ist. --- Nach mehreren Versuchen habe ich es endlich geschafft. Puh! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)