Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 13: Von Bergen und Monden (2001) ---------------------------------------- 13. Kapitel - 2001 Am nächsten Morgen erwache ich mit einem mehr als nur steifen Nacken. Es fühlt sich fast steinhart an. Stöhnend drehe ich meinen Kopf vorsichtig erst in die eine, dann in die andere Richtung, bis meine Motorik zumindest wieder etwas besser funktioniert. Es ist noch recht früh wie ich dem Ziffernblatt meines Weckers entnehme, dennoch erhebe ich mich langsam aus meiner unbequemen Position. Chris liegt seelenruhig schlafend in meinem Bett, den Mund leicht geöffnet, die Haare wirr in alle Richtungen abstehend. Wie er so verzaust aussehen kann, wenn ich die ganze Nacht auf ihm gelegen habe, ist mir ein Rätsel. Lächelnd streiche ich ihm eine Strähne aus der Stirn, kämme sie mit den Fingern hinter sein Ohr, halte sie noch einen Moment, ehe ich mich vorbeuge und einen Kuss auf seine Wange platziere. Dann schwinge ich mich aus meinem Bett heraus, tapse zu dem Wäscheberg vor meinem Schrank, den ich mit mir ins Badezimmer nehme. Dort stelle ich die Waschmaschine an, ehe ich mir eine kühle Dusche gönne. Im Sommer ist es ohnehin schon sehr warm, aber dann noch zu zweit so nah beieinander zu liegen ist beinahe mörderisch. Ich bin gerade dabei mich mit Duschgel einzuschäumen, als sich die Tür öffnet und ein sehr verquollen aussehender Chris ins Bad kommt, herzhaft gähnt und sich erst einmal auf den Klodeckel fallen lässt. Als ich mich abwasche und anschließend nach dem Shampoo greife, erklingt die Türglocke und mühsam stemmt Chris sich hoch um zu öffnen. Innerlich wundere ich mich darüber wer zu einer so frühen Stunde bei mir auf der Matte steht, als ich auch schon das Gebrüll der Zwillinge vernehmen kann. Auch Mariannes Stimme ist hörbar, kommt immer näher, bis sie schließlich vor mir steht, völlig unbeeindruckt von meiner Nacktheit. „Morgen, Raphael“, grüßt sie etwas außer Atem. „Hi“, gebe ich zurück, stelle das Wasser ab und nehme das Handtuch von ihr entgegen, schlinge es mir um die Hüfte und trete aus der Kabine. „Entschuldige den Überfall, aber Bernhards Wagen springt nicht an, ich muss ihn schnell zur Arbeit fahren, will die beiden aber nicht alleine zu Hause lassen. Könntest du bis zum Mittag auf sie aufpassen?“ „Sicher“, lächle ich sie an. „Chris und ich wollten in die Stadt, wir nehmen sie einfach mit.“ „Oh, danke! Du bist meine Rettung!“ Marianne küsst mich noch links und rechts auf die Wange, ehe sie mit einem letzten mahnenden Wort an ihre Söhne wieder aus der Wohnung stürmt und die Tür mit einem leisen Knall zuzieht. Chris taucht wieder im Rahmen auf, schenkt mir einen fragenden Blick, ehe er sich dem Waschbecken zuwendet und einen prüfenden Blick in den Spiegel wirft. „Wir nehmen die Zwillinge heute mit, okay?“, frage ich ihn, trockne mir die Haare ab. „Kein Problem. Dann geh ich nur eben noch schnell duschen.“ „Lass dir Zeit“, wehre ich ab, trete hinter ihn und kann dem Impuls nicht widerstehen, seine Hüfte zu fassen und an mich zu ziehen. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel und mit einem Mal wird mir unglaublich warm. Viel heißer als jedes Fieber. Wie von Sinnen küsse ich sein Ohr, die Haut darunter, seinen Hals entlang, beiße mich dort sanft fest, fahre immer wieder mit meiner Zunge die Strecke auf und ab, dabei seinen entzückten Anblick genießend. Chris hat die Augen geschlossen, atmet schwer durch die leicht geöffneten Lippen, an die ich nun meine Finger lege. Sogleich küsst er sie, leckt darüber und mit einem Schmunzeln bemerke ich seinen Halbsteifen. Chris ist sehr empfindlich. „RAPHAEL!“ Das Gebrüll von Johannes und Lars reißt uns auseinander. Chris wirkt einen Moment verwirrt, dann jedoch beschämt, während ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann. Missmutig zieht er die Augenbrauen zusammen, boxt mich in die Seiten. Dann fährt er herum, zieht sich die Boxershorts herunter und verschwindet in der Duschkabine. „Viel Spaß“, wünsche ich ihm diabolisch grinsend, was ihn ebenso verlegen wie erbost erröten lässt. „Hau doch ab!“, zischt er und ich tue ihm den Gefallen. „RAPHAEL!“, kommt es wieder von den Zwillingen, die ich im Wohnzimmer finde. „Was wollt ihr?“, brumme ich sie an, schnappe mir Lars und wirble ihn einmal herum. Die beiden sind wirklich noch viel zu kindisch für ihr Alter. Aber vielleicht liegt das daran, dass sie schon von klein auf jedermanns Liebling waren und immer bekommen haben was sie wollten. „Wir haben Hunger“, erklärt mir Johannes. Marianne und Bernhard hatten heute Morgen wohl noch nicht einmal für ein gescheites Frühstück Zeit. „Dann helft mir dabei den Tisch zu decken.“ Begeistert ziehen die beiden in die Küche los, während ich die Zeit nutze um mir im Schlafzimmer endlich etwas anzuziehen. Als ich gerade den Knopf meiner kurzen Hose schließe, höre ich ein verdächtiges Geräusch aus dem Badezimmer und trete grinsend näher heran. Tatsächlich kann ich Chris verhalten stöhnen und keuchen hören. Ich stoße die Tür ein wenig weiter auf und ermögliche mir damit einwandfreie Sicht auf seine verschwommene Silhouette, die sich gegen die geflieste Wand in seinem Rücken krümmt. Seine rechte Hand bewegt sich in der unteren Region schnell auf und ab, es wirkt beinahe brutal auf mich. Er ist scheinbar vollkommen in seinen Gefühlen gefangen. Lautlos ziehe ich mich zurück, streife mir noch ein Shirt über, doch bevor ich mein Schlafzimmer verlasse höre ich noch wie er meinen Namen mit heiserer Stimme ruft. In diesem Moment geht ein gewaltiger Stromschlag durch meinen Körper und wenn die Zwillinge nicht hier wären, dann würde ich jetzt in dieses verdammte Badezimmer stürmen und ihn gleich unter der Dusche nehmen. Seine Stimme ist einfach nur heiß. Während ich mit Johannes und Lars den Tisch für uns vier decke, frage ich mich, ob Chris’ Stimme noch heißer klingen wird, wenn ich es ihm besorge. „Hinsetzen und Füße still halten“, weise ich die Zwillinge an, stelle zuerst den Brotkorb auf den Tisch, dann die zwei Tassen, die Kaffe für mich und den Tee für Chris enthalten. Die Jungs setzen sich schweigend auf ihre Plätze, greifen gierig nach Nutella und Marmelade und lassen keinen Laut mehr von sich vernehmen. „Guten Morgen“, ertönt es hinter mir und ein frisch geduschter und angezogener Chris steht hinter mir im Türrahmen. „Jungs!“, mahne ich, als von den beiden Kleineren nichts zu hören ist. Rasch nehmen sie die Brote aus dem ohnehin noch vollen Mund und nuscheln eine Begrüßung zurück, die Chris zu einem hinreißenden Lächeln animiert. „Ich hab dir Tee gekocht.“ „Oh, danke!“ Er lässt sich auf seinem Stuhl nieder und tunkt den Teebeutel ein paar Mal unter, ehe er ihn herauszieht, ausdrückt und auf einer Ecke seines Brettchens drapiert. „Ohne den geht gar nichts“, schwärmt er genüsslich. Das Frühstück über schweigen wir uns an. Auch die Zwillinge bleiben stumm, viel zu sehr damit beschäftigt ein Brot nach dem anderen zu vernichten. Dann jedoch sind sie gefüttert, stürzen ihr jeweiliges Glas Wasser hinunter und rauschen schließlich ins Bad zum Zähneputzen ab. Ich beginne damit den Tisch abzuräumen, während Chris die letzten Schlucke seines Tees trinkt. Doch schließlich kann ich nicht mehr an mich halten, trete von hinten an Chris heran, lege meine Hände auf seine Schultern. „Wie war die Dusche?“, hauche ich ihm ins Ohr. „Du Arsch“, bekomme ich nur zurück, ehe ich ihn zu mir herumdrehe und mir einen energischen Kuss von seinen roten Lippen stehle, die einen Moment lang verkniffen bleiben, ehe sie sich mir öffnen und auf mein Spiel eingehen. Chris greift nach meinem Arm, verkrallt sich darin und mit einem Mal spüre ich all seine Sehnsucht, die er wohl schon seit langer Zeit in sich getragen hat. Es macht mir Angst, gleichzeitig bin ich aber auch gewillt ihm langsam nachzugeben. Einmal in den Genuss seiner Lippen gekommen, will ich einfach nicht mehr von ihm lassen, auch wenn ich mir selbst nur zu genau bewusst bin, dass es nicht zu schnell gehen darf. Oder ist das wieder nur diese Stimme in meinem Kopf die mir das zuruft? „Tut mir leid“, flüstere ich gegen seine Lippen, als ich von ihm ablasse. „Weswegen?“, haucht er zurück, berührt vorsichtig meinen Mund. „Ich weiß nicht, ob ich zu schnell oder zu langsam bin… ich…“, stottere ich hilflos, nur von seiner warmen Hand an meiner Wange aufrecht gehalten. „Denk an das, was ich dir gesagt habe: Hör auf dein Herz, nicht auf deinen Kopf.“ „Ich versuch’s ja, aber es ist so schwer“, gestehe ich ihm, sinke neben seinem Stuhl auf die Knie und verstecke mein Gesicht in seinem Schoß. Seine Hände vergraben sich in meinen Haaren, streicheln hindurch und vermitteln mir das Gefühl absoluter Zärtlichkeit. Ich frage mich, ob sich so Liebe anfühlt. „Ich weiß. Hab keine Angst, ich bin bei dir.“ Einen Moment noch verharren wir so, dann werden die Stimmen von Johannes und Lars, die bisher nur verhalten zu hören waren, immer lauter. Chris beginnt leise zu lachen, küsst mich aufs Haar und steht langsam auf, zieht mich mit sich hoch und schenkt mir ein so strahlendes Lächeln, dass mir das Herz dabei aufgeht und ich ihn noch einmal in einen langen Kuss ziehe. „Siehst du? Es geht doch schon ganz gut“, flüstert er, verhalten lachend. „Raphael!“, ertönt es aus dem Wohnzimmer und ich fühle mich genötigt endlich von Chris abzulassen und mich wieder den Pflichten zuzuwenden, die ich habe. „Warum seid ihr denn noch nicht angezogen, ihr Racker?“, frage ich die Zwillinge, als ich zu ihnen trete und sie aus einer Streiterei reiße. Mit knappen Worten weise ich sie an sich Schuhe und Jacken anzuziehen und dabei so leise wie eine Maus zu sein. Während dieser Prozedur geht Chris an uns vorbei, verschwindet im Schlafzimmer und taucht gerade rechtzeitig wieder auf, bevor ich ungeduldig nach ihm rufen kann. Zu viert machen wir uns endlich auf den Weg in die Stadt. --- „Wie weit ist es denn noch?“, fragt Lars genervt nach, während er sich von Chris lustlos durch die Straßen ziehen lässt. Nach einem kleinen Einkaufsbummel und anschließendem Eisessen hat Chris beschlossen, dass er mir nun endlich seine Überraschung zeigen will. „Nicht mehr weit. Siehst du das Plakat da vorne? Da müssen wir hin“, erklärt Chris geduldig, lässt Lars laufen, als dieser Johannes zu einem Wettrennen auffordert und keiner der beiden mehr zu halten ist. „Energische Jungs“, stellt er lachend fest, lässt sich auf meine Höhe zurückfallen. „Vor allem verzogene Jungs“, maule ich etwas. „Bei drei so wundervollen Brüdern wundert mich das nicht.“ „Hm“, brumme ich undeutlich, schiebe meine Hände in die Hosentaschen und hebe etwas hilflos die Schultern. „Jamie ist mehr ein Onkel für sie. Sie mögen ihn, aber sie kennen ihn nicht lange genug und bleiben deswegen immer etwas auf Distanz.“ „Es passt trotzdem“, gibt Chris schmunzelnd zurück, drückt die Tür zu einem Laden auf und folgt den Zwillingen, die kein Halten mehr kennen und sofort losstürmen. Ich nehme mir die Zeit um zumindest das Plakat, auf das Chris vorhin hingewiesen hat, zu lesen und stelle zu meinem Erstaunen fest, dass das Geschäft den seltsamen Namen Bergwerk trägt. Da mir diese Bezeichnung nicht im Geringsten Aufschluss darüber gibt was mich im Inneren erwartet, folge ich den Drei einfach hinein. Unerwartet stehe ich nun in einer kühlen Eingangshalle, die mit einem kleinen Tresen und einigem Sitzmobiliar fertig eingerichtet ist. Nur ein paar Pflanzen stehen zusätzlich zur Auflockerung der sonst unterkühlten Atmosphäre da. An den Wänden hängen vereinzelte Portraitbilder von den unterschiedlichsten Personen verschiedenen Alters, die dennoch eines gemeinsam zu haben scheinen: Ein bezauberndes, ehrliches Lächeln, das bis in ihre Augen vordringt. Fasziniert betrachte ich das Bild einer älteren Dame, als ich eine Berührung an meinem Arm spüre. Es ist jedoch weder Chris, noch einer der Zwillinge, sondern ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen habe. „Was seht Ihr?“ „Eine alte Frau“, antworte ich verwirrt. „Und was fühlt Ihr?“, fragt er weiter, lässt mich dabei kaum eine Sekunde aus den Augen. Noch einmal betrachte ich das Bild der Dame, die mir so sanft entgegen lächelt, deren Augen mich verschmitzt von oben herab ansehen und deren Mund von vielen Lachfältchen umrandet ist. „Frieden“, antworte ich schließlich und komme mir vollkommen bescheuert dabei vor. Doch der ältere Herr neben mir nickt bedächtig mit dem Kopf, legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt sie kurz. „Eine gute Antwort“, befindet er. „Eine ehrliche.“ „Hier bist du!“, ertönt Chris’ Stimme und ich wende mich zu ihm um, erleichtert ihn zu sehen. „Ihr habt euch ja schon kennen gelernt“, stellt er überrascht fest, fällt dem Mann in die Arme und lässt sich von diesem einen langen Moment halten. „Wo sind die Zwillinge?“, frage ich ihn besorgt, als keiner der beiden hinter ihm auftaucht. „Sie schauen sich das Fotoshooting an, keine Sorge“, beschwichtigt mich Chris, deutet dann auf den älteren Herren und lächelt. „Darf ich dir meinen Großvater vorstellen? Das ist Hans-Wilhelm Berger. Und das ist…“ „Der Mondmann“, streckt mir Chris’ Großvater die Hand entgegen, die ich verwirrt ergreife und schüttle. „Raphael, ich weiß Chris, ich weiß.“ Verlegen weicht Chris meinen Blicken aus. „Komm mit, ich will es dir nun endlich zeigen.“ Er schnappt sich meine Hand und zerrt mich durch den gesamten Raum, in eine angrenzende Galerie, die gesäumt ist von den unterschiedlichsten Bildern. Aber sie alle haben einen gewissen Zauber. Jedoch lässt Chris mich Keines allzu genau ansehen, führt mich immer weiter den schier endlosen Gang entlang, bis wir kurz vor dem Ende zum stehen kommen und er auf das Bild zu seiner Linken deutet. Als ich mich umwende, bleibt mir fast die Luft weg, als ich mir selbst in einer vergrößerten Form gegenüberstehe. Es ist das Foto, das Chris von mir an Silvester gemacht hat. Ich selbst vor der Silhouette des Mondes, nachdenklich in den Himmel schauend. Es ist vergrößert worden und hat dadurch nur noch an Kraft gewonnen. „Ein unglaubliches Bild.“ Hans-Wilhelm hat sich neben mich gestellt und betrachtet mit einem sanften Schmunzeln das Werk seines Enkels. „Ich glaube, dass es Chris größter Schatz ist. Er hat viele Abzüge davon gemacht, viel experimentiert und doch ist das Original die schönste Variante gewesen. Ich fand es in der Dunkelkammer und wusste gleich, das es einen Platz in meiner Galerie verdient.“ „Großvater“, beschwert Chris sich verlegen, sieht aber mit einem strahlenden Lächeln zu mir auf. „Wie findest du es?“ „Genauso wie beim ersten Mal: wunderschön“, gebe ich gerührt zu. „So wie du eben.“ „Sei doch still“, brumme ich unbehaglich, ziehe den Kleinen allerdings an meine Seite. Nach einer Weile des Schweigens wendet sich Hans-Wilhelm wieder an mich. „Seit ich dieses Foto gesehen habe, wollte ich schon immer wissen, wie Sie mit vollem Namen heißen, Raphael.“ Forschend sieht er mir ins Gesicht und meine anfängliche Sympathie schlägt augenblicklich in Misstrauen um. Ich versteife mich, setze meine Maske auf. „Montega. Raphael Montega.“ „Stammen Sie aus Spanien?“, hakt der alte Mann weiter nach. „Nein. Meine Großeltern Väterlicherseits sind Spanier und leben auch dort. Allerdings ist der Kontakt zu ihnen abgebrochen.“ „So so… sehr interessant“, befindet er, schweigt sich dann jedoch unerwarteter Weise aus. Es macht mich nervös, denn er macht den Eindruck, als ob ihm diese Informationen etwas sagen würden, was mir selbst verborgen bleibt. „Sie haben einen jüngeren Bruder, nicht wahr?“ „Ja“, gebe ich schlicht zu, trete einen Schritt zurück, stoße dabei gegen Chris, der verwirrt zwischen mir und seinem Großvater hin und her sieht. „Hol Johannes und Lars“, weise ich Chris an, der zögerlich nickt und schließlich los geht um die beiden Zwillinge zu holen. Ich bleibe alleine mit Hans-Wilhelm Berger, den ich misstrauisch beäuge. Doch davon lässt sich der alte Mann nichts anmerken, starrt stattdessen immer noch auf mein Bild. „Eine wirklich hervorragende Haltung, haben Sie“, wechselt er abrupt das Thema, bringt mich damit für einige Sekunden aus dem Konzept. „Je länger ich das Bild betrachte, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich vor mir einen Ritter in schwarzer Rüstung sehe.“ „Nicht gerade schmeichelhaft“, gebe ich zurück. „Oh, durchaus“, beharrt Hans-Wilhelm auf seiner Meinung. „Ritter zu sein, bedeutet adlig zu sein, Privilegien zu besitzen. Und schwarze Farbe auf einer Rüstung… ist Dreck. Mit anderen Worten ist es eine Deckfarbe, die verbirgt was sich tatsächlich darunter befindet. Doch bis eine Rüstung voller Dreck ist, muss der Ritter viele Schlachten geschlagen und Niederlagen hingenommen haben. Es ist also ein Bild für einen gestandenen Mann.“ Diese Erklärung erscheint mir sehr romantisch und subjektiv, dennoch nimmt sie damit jede Kritik aus seinen vorangegangenen Worten. „Dazu dieser nachdenkliche Blick, der einen gewissen Weltschmerz in sich trägt, so als ob Sie an dem Leid der Erde Anteil nähmen. Ich frage mich ernsthaft, was Sie alles durchgemacht haben, um solch einen Blick zu erlangen.“ „Glauben Sie mir, nichts davon war freiwillig.“ „Natürlich nicht“, gesteht er. „Niemand wählt sein Leid aus freien Stücken. Aber auch nicht jeder kämpft dagegen an. Und im Vergleich mit diesem Bild von Ihnen, ist der Ausdruck aus Ihren echten Augen ein ganz anderer. Ein erstaunlicher Werdegang.“ Ein sanftes Lächeln ziert seine Züge, als er seinen Enkel mit den Zwillingen herannahen sieht. Er reicht mir die Hand, die ich nur zögerlich zu einem Abschiedsgruß ergreife, nickt mir noch einmal zu und verabschiedet sich mit wenigen Worten von Chris, der ihm verwirrt nachsieht. „Hat mein Großvater etwas zu dir gesagt?“, fragt er mich, als ich ihm Johannes und Lars abnehme. „Nur etwas über eine schwarze Rüstung und meine Augen“, antworte ich nachdenklich. „Oh“, macht Chris daraufhin nur und scheint mit dieser Aussage tatsächlich alles Verpasste zu verstehen. Ich hingegen verstehe nichts und lade die Zwillinge lieber auf ein weiteres Eis ein, als mich noch länger mit diesen verwirrenden Gedanken auseinander zu setzen. --- Nach einem Umweg über diverse Feldwege kommen wir vier schließlich wieder bei meiner Wohnung an, vor der Marianne schon auf uns wartet. Sie lächelt uns zu und nimmt ihre beiden Söhne in Empfang. „Ich hoffe die zwei waren halbwegs anständig“, begrüßt sie uns, schließt Chris und mich abwechselnd in die Arme. „Es war sehr schön“, gibt Chris als Antwort, lädt sie lächelnd auf Kaffe und den Kuchen, den wir in der Stadt gekauft haben, ein. Dankend nimmt sie an und schon kurz darauf sitzen wir zu dritt in meiner Küche, während die Zwillinge im Wohnzimmer mit zwei Büchern zu kämpfen haben, die Marianne ihnen gegeben hat. „Was ist denn nun an eurem Auto kaputt?“, frage ich nach, gebe mich dem Geplauder Mariannes hin, die mir von ihrem Tag erzählt, von kleineren und größeren Sorgen. Es wird ein langer Kaffeetisch und es ist weit nach sechs Uhr, als wir die Gruppe auflösen und Marianne sich mit den Zwillingen nach Hause aufmacht um endlich für ein gescheites Abendessen zu sorgen. Johannes und Lars legen großen Protest ein und beharren darauf, dass sie lieber bei mir bleiben wollen als mit ihrer Mutter mitzukommen, aber den Kampf verlieren sie gnadenlos. Während der Ferienzeit hat Marianne ihnen ein ordentliches Pensum an Büchern vorgeschrieben, damit sie flüssiger im Lesen werden. Eine Schwäche die bereits mehrere Lehrer bemängelt hatten. „Nochmals Danke ihr zwei“, verabschiedet Marianne sich nun endgültig, zieht Lars hinter sich aus der Tür und dann sind sie allesamt verschwunden. Eine Zeit lang kann man sie draußen im Flur noch hören, letztendlich ist es vollkommen still. „Rapha?“, lässt Chris sich kurz darauf vernehmen. „Hm?“ „Ich hab Hunger.“ „Du hast doch vor kurzem erst Kuchen gegessen“, werfe ich irritiert ein. „Das ist aber nichts Richtiges. Hunger!“, jammert er, lässt sich auf das Sofa fallen und macht sich darauf lang, streckt die Arme von sich und zieht eine Leidensmiene. „Schon gut, ich koch’ dir was“, gebe ich nach, verziehe mich in die Küche und entscheide mich für das einfachste Gericht überhaupt: Chili Concarne. Jamie hat noch angebratenes Hackfleisch im Kühlschrank, das ich in den Topf werfe und schon einmal in ein wenig Öl köcheln lasse, während ich die Zwiebeln klein schneide. Danach folgen Paprikastücke und Gewürze in den Topf, anschließend die Tomaten. „Isst du gerne scharf?“, rufe ich ins Wohnzimmer zurück und erhalte eine bestätigende Antwort, was mich dazu veranlasst mehr Pfeffer- und Paprikapulver in das Gemenge zu kippen. Ich lasse alles stark aufkochen, ehe ich den Herd herunter drehe, den Deckel drauf tue und es eine Weile auf kleiner Flamme stehen lasse. „Soll ich Reis dazu kochen, oder reicht dir Chili?“, frage ich Chris, als ich mich neben ihn aufs Sofa setze. „Chili reicht, das füllt ja auch schon mächtig den Bauch.“ „Komm her, faule Raupe“, raune ich leise, ziehe Chris näher zu mir und kuschle mich mit ihm in die Kissen, schweige, genieße die Stille und innere Ruhe. Abwesend streiche ich dem Braunhaarigen über Kopf und Bauch, stehle mich mit zwei Fingern unter sein Shirt. Chris seufzt wohlig auf, macht sich noch ein wenig länger und ist sogar dreist genug, sich sein Hemd einfach über den Kopf zu ziehen und von sich zu werfen. Damit bietet er mir nun genug Fläche und meine Hände haben gar keine Wahl mehr, als ihn direkt zu berühren. „Das ist total schön“, findet er nach einer Weile, die ich ihn nur gestreichelt habe. „Nicht aufdringlich… einfach nur schön…“, schnurrt er, dreht seinen Kopf und verbirgt sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Er kommt mir wie eine Katze vor. „Magst du Katzen?“, frage ich ihn abwesend, stelle meine Streicheleinheiten dabei nicht ein. Warum ich ihn das frage weiß ich selbst nicht so genau, aber ein wahnwitziger Gedanke macht sich in mir breit. Wenn Jamie hier auszieht, dann wäre genug Platz damit Chris hier einzieht. Was völliger Blödsinn ist, da das nun wirklich ein zu schneller Schritt wäre, aber trotzdem hat die Idee etwas für sich. „Mein Vater hatte mal eine. Die war super“, erzählt Chris leise. „Du redest nie viel über ihn“, stelle ich überrascht fest, weil es mit einem Mal so augenscheinlich ist, dass ich außer der Mutter und dem Großvater niemanden aus seiner Familie kenne. „Was soll ich auch sagen? Er und Mum haben sich getrennt als ich zehn wurde und da er immer sehr beschäftigt war, hatte ich nie einen guten Draht zu ihm, deswegen ist es mir nicht so wichtig ihn zu sehen“, erklärt er mir, was mich dazu veranlasst ihn ein wenig fester an mich zu ziehen. Er schlägt die Augen auf, lächelt mich von unten her an und berührt ganz leicht meine Wange mit seinen Fingern. „Keine Sorge, ich habe kein Problem mit meinem Vater. Wir treffen uns auch ab und an, aber er ist wirklich nur am arbeiten. Ich mag ihn, aber mehr auch nicht. Das ist okay.“ „Vermisst du nicht manchmal eine Vaterfigur?“ „Nein. Dafür habe ich ja meinen Großvater“, gibt er gelassen zurück. „Seit ich klein war, hat sich mein Großvater immer liebevoll um mich gekümmert und ich habe meinen Dad deswegen nie wirklich vermisst. Er ist immer für mich da, hört mir zu, unterstützt mich, bringt mir vieles bei und gibt mir auch mal einen Anschiss, wenn ich es zu bunt treibe“, lacht er ausgelassen und ich erkenne die große Liebe in seinen Augen. Hans-Wilhelm ist ihm scheinbar ein sehr wertvolles Familienmitglied. „Erzähl mir von ihm“, fordere ich ihn auf. „Er ist der Vater meiner Mutter und hat sie größten Teils alleine groß gezogen. Meine Oma ist wohl früh gestorben, ich glaube während eines Unfalls, aber so genau hat mir das nie jemand erzählt. Ich frage auch nicht danach, denn es macht die anderen immer traurig. Jedenfalls sind er und meine Mum die Einzigen, die wirklich eine Bindung zueinander haben. Zwischen Dad und Großvater ist es immer unterkühlt geblieben. Dads Eltern habe ich auch kennen gelernt, genau wie den Res der Verwandtschaft von dieser Seite aus, aber glaub mir, die sind allesamt sehr verzogen, schrecklich spießig und nicht gerade eine Augenweide. Allesamt Schreckschrauben.“ „Und deine Mutter?“, hake ich nach, weil mir die Spannungen zwischen den beiden nicht entgangen sind. „Hm…“, macht Chris nur und es braucht einen sanften Schubs von meiner Seite, damit er weiter redet. „Ich liebe meine Mum, aber manchmal geht sie mir gehörig auf den Geist. Immer will sie alles wissen und überall mitreden. Sie sieht nicht, dass ich schon so gut wie erwachsen bin und viele Dinge auch alleine kann. Nicht alle, dass gebe ich zu, aber viele. Außerdem hält sie mich manchmal sehr stark davon ab etwas mit meinem Großvater zu machen, was ich nicht ganz verstehe. Sie redet kaum mit mir… über wirklich wichtige Dinge, meine ich…“ Er verzieht sein Gesicht zu einer traurigen Grimasse, schließt die Augen und kuschelt sich noch ein bisschen näher an mich heran. Ich denke, dass ich mit meiner Einschätzung von Frau Berger gar nicht so weit daneben lag. Sie liebt ihren Sohn über alles, ist dabei aber auch ziemlich streng und vielleicht ein bisschen überfürsorglich. Ich frage mich, ob es etwas in ihrer Familiengeschichte gibt, das sie vor Chris unbedingt geheim halten will. Vielleicht den Tod der Mutter? Eine Krankheit? Da diese Grübelei zu nichts führt, scheuche ich Chris in die Küche, rühre im Topf herum, kippe noch schnell Mais und Bohnen hinzu und stelle die Teller auf den Tisch. Als ich mich wieder dem Herd zuwende, tritt Chris hinter mich, umarmt mich und hält mich mit einem Mal ganz fest. „Alles okay?“, frage ich besorgt, spüre ihn nicken. „Es freut mich nur so wahnsinnig, dass du mich das alles gefragt hast.“ „Ist doch keine Sache“, wehre ich verwundert ab. „Doch. Vorher hast du mich sonst nur wegen der Schule gefragt.“ „Hm“, mache ich hilflos, denn ich weiß absolut nichts mehr zu sagen. Während des Essens reden wir über die bevorstehende kirchliche Hochzeit meines Bruders und Chris fragt mich, ob sein Großvater vielleicht auch kommen dürfe. Er vertraue seine seinem Talent als Fotograf nicht recht um die Bilder alleine zu schießen. Ich vertröste ihn allerdings auf Jamie, denn schließlich ist das die Hochzeit meines Bruders – nicht meine eigene. Gemeinsam räumen wir ab und die Reste des Chilis fülle ich in eine Tupperdose, die ich im Kühlschrank verfrachte. Während ich in den Fächern herumräume denke ich daran, dass Jamie mir vielleicht ein paar seiner Rezepte aufschreiben sollte, damit ich nicht ganz auf sein gutes Essen verzichten muss. „Darf ich hier bleiben, Raphael?“ „Du solltest nach Hause“, gebe ich zurück, küsse ihn auf die Stirn. „Es sind schon wieder zwei Tage und nicht einmal dein Großvater weiß wo ich wohne.“ „Ist doch egal“, schmollt er. „Ruf deine Mutter an. Wenn sie dich noch eine Nacht hier schlafen lässt, dann habe ich nichts dagegen. Aber morgen gehst du nach Hause. Verstanden?“ „Ja doch“, mault er mich an, verschwindet jedoch artig ins Wohnzimmer und schnappt sich das Telefon. Das Gespräch ist lang und heftig, immer wieder wird er von seiner Mutter unterbrochen doch schließlich gibt sie nach, lässt ihn diese Nacht noch bei mir bleiben, wofür ich ihr innerlich sehr dankbar bin. Ich weiß, dass ich Chris nicht mehr so schnell wieder sehe, wenn ich ihn jetzt ziehen lasse. Dafür habe ich zu viel um die Ohren, das ich nicht verschieben kann. --- Kann man glauben, dass ich nebenbei die Filme ‚Schwester der Königin’ und ‚Du sollst nicht lieben’ geguckt habe? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)