Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 19: Er und ich (2001 / 10) ---------------------------------- 19. Kapitel - 2001 Mit offenen Augen starre ich blind an die Zimmerdecke. Um mich herum ist es dunkel, nicht einmal durchs Fenster kommt ein wenig Licht. Alles ist still, mit Ausnahme des ruhigen, gleichmäßigen Atems neben mir. Vor mehreren Stunden, hat Hans-Wilhelm sich verabschiedet und sein Bett aufgesucht. Sein Enkel hingegen ist wach geblieben und hat den äußerst lächerlichen Film – wie ich finde – zu Ende gesehen, ehe er schließlich unsere Tassen und die Marshmallow-Tüte weggeräumt und sich im Bad umgezogen hat. Kurz darauf lag er neben mir, wünschte mir eine gute Nacht, drehte mir den Rücken zu und war kurze Zeit später eingeschlafen. Und das alles ohne noch einmal darauf einzugehen, dass ich eigentlich mit ihm reden wollte. Dreister Kerl! Aber auch nicht dreister als ich selbst gewesen bin. Seufzend wälze ich mich einmal herum, verschränke die Arme unter dem Kopf und blicke nun in die schwarze Leere vor mir. Ich kann nichts um mich herum erkennen, was es nicht unbedingt leichter macht. So bietet es mir genug Raum um über alles Mögliche nachzudenken und mich zu fragen, wann es diesen einen Punkt in meinem Leben gab, an dem einfach alles schief gelaufen ist. Ich drehe mich auf die eine Seite, dann auf die andere, schließlich setze ich mich auf. Weder kann ich schlafen, noch aufhören zu denken, noch mich entspannen. Normalerweise macht mich Chris’ Anwesenheit immer total entspannt, aber gerade jetzt, ist es genau das Gegenteil. Er ist sauer, natürlich ist er sauer! Schließlich hat er auch alles Recht dazu. Trotzdem ist er hier. Er geht mir nicht aus dem Weg, aber wirklich auf mich zugehen tut er auch nicht. Und ich selbst weiß nicht wie ich mich verhalten soll. Der Digitalanzeige des Receivers entnehme ich, dass ich bereits seit fünf Stunden wach und äußerst unruhig herum liege und entschließe mich, dem ganzen jetzt ein Ende zu machen. Vorsichtig stehe ich auf, taste mich in der Dunkelheit zu dem kleinen Berg heran, den meine Wäsche darstellt und greife wahllos hinein. Dann krabble ich weiter vorwärts, durch die nur angelehnte Tür ins angrenzende Badezimmer. Erst hier wage ich es, Licht zu machen, blinzle kurz dagegen an, ehe ich in die Jeans und das Shirt schlüpfe, während ich mich dabei frage, wo ich meine Zigaretten gelassen habe. Ich habe schon seit einigen Wochen nicht mehr geraucht, schließlich wollte ich aufhören, allerdings kann ich das in diesem Moment nicht. Ich brauche irgendetwas, was meine Hände beschäftigt, während ich denke. Langsam, beinahe Zentimeter für Zentimeter, schiebe ich mich vorwärts, auf die Tür zu, die mich meines Wissens nach in den Flur und somit nach draußen führt. Einmal stoße ich schmerzhaft gegen einen Schrank, unterdrücke tapfer jeden Fluch, habe die Klinke schon in der Hand, als hinter mir ein Licht aufflammt. „Willst du abhauen?“ Missmutig und verschlafen, trotzdem unglaublich niedlich sieht Chris mich unter seinen langen Haaren her an. Seine Finger umschließen noch den Schalter der kleinen Lampe, die irgendwo links von ihm steht, mit der Rechten stützt er sich ab. „Ich geh eine rauchen“, flüstere ich leise zurück. „Nicht ohne mich“, bestimmt er, rappelt sich hoch, greift sich seinen Pullover, streift ihn über und folgt mir in den Flur wo wir uns beide einfache Schuhe anziehen. Ich greife mir noch eine Jacke von Hans-Wilhelm, warte bis Chris seinen Schlüssel in all dem Wust auf der Kommode gefunden hat und gehe dann mit ihm die Stufen nach unten, öffne die Tür und trete hinaus in die äußerst frische Oktoberluft. Fröstelnd ziehe ich die Jacke enger um mich, greife nach meiner Zigarettenpackung und nehme mir eine heraus. Langsam, fast wie in Zeitlupe, schiebe ich sie mir zwischen die Lippen, zünde sie an und nehme den ersten beruhigenden Zug. „Habe ich dich geweckt?“, frage ich nach einer Weile, in der mir die Stille zu unangenehm geworden ist. Chris steht einen verletzend weiten Abstand von mir entfernt, beobachtet mich unablässig, macht aber erneut keine Anstalten den ersten Schritt zu tun. „Ich bin nie eingeschlafen“, gibt er zurück, weicht meinem fragenden Blick nicht aus. „Entschuldige. Ich war wohl zu unruhig.“ Er schweigt, sieht mir zu, wie ich zunächst die eine, dann eine zweite Zigarette aufrauche. Auch bei der Dritten hat er noch immer kein Wort zu mir gesagt. Gerade als ich diesen Stummel auf den Boden werfen will, halte ich einen Moment inne. Nur wenige Sekunden später, trete ich ihn auf dem Gehweg aus. „Woran hast du gedacht?“ „Nur daran, dass ich ein ziemliches Arschloch bin“, schmunzle ich. Erneut herrscht drei Zigaretten lang Schweigen zwischen uns. So viel habe ich schon seit einiger Zeit nicht mehr geraucht, aber irgendwie brauche ich das. Zumindest, bis ich etwas anderes gefunden habe, dass uns beiden, sowohl ihm als auch mir, als Zeitmessung dienen kann. „Du bist so still“, gebe ich ihm schließlich einen Hinweis. „Du doch auch“, kommt es allerdings ungerührt zurück und ich muss tatsächlich für einen Moment leise auflachen. Chris macht mich fertig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bevor er darauf reagieren kann, greife ich ihn an der Schulter, ziehe ihn zu mir herüber, lehne ihn an meine Seite und sehe ihm einmal tief in die Augen, ehe ich mich von ihm abwende um erneut nach meiner Packung Zigaretten zu greifen. „Es tut mir wirklich leid, was ich dir angetan habe, Chris“, spreche ich leise, aus Angst, meine Worte könnten ungehört verrauchen, wenn ich sie zu laut sage. „Manchmal… überkommen mich meine Gefühle einfach und ich weiß nicht so recht wohin mit ihnen.“ „Anstatt dich und mich mit Lungenkrebs zu verpesten“, hält er meine Hand davon ab, den Glimmstängel zu meinem Mund zu führen. „Könntest du auch einfach mal mit mir reden, findest du nicht?“ „Hm“, mache ich, zucke ratlos mit den Schultern. „Vielleicht.“ „Versuch es wenigstens“, bleibt er hartnäckig. Darüber muss ich erst nachdenken. Natürlich hat Chris mir schon vorher einmal gesagt, dass ich mit ihm reden soll, wenn ich das Bedürfnis danach habe, aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht so sicher ob ich das wirklich will. Andererseits weiß ich nur zu gut, dass es so zwischen uns nicht weitergehen kann. „Ich hatte einen Streit mit Thomas“, beginne ich zögerlich. „Bevor ich zu dir gegangen bin. Den Tag drauf hat mich dein Großvater bei sich aufgenommen und wir haben sogar ein Shooting zusammen gemacht. Als Ablenkung wie er meinte. Es hat aber nicht geholfen, ich war den ganzen Tag angespannt und ruhelos. Und als du mich angerufen hast… da… ich weiß nicht… es hat mich einfach überkommen.“ Beschämt wende ich mein Gesicht von ihm ab. Ich kann spüren wie angespannt er ist. Trotzdem bleibt er bei mir stehen und schon allein diese Tatsache rechne ich ihm hoch an. „Hättest du weitergemacht?“, fragt er nach einer ganzen Weile und trifft damit einen wunden Punkt. „Wahrscheinlich“, gebe ich direkt zu. Jetzt ist nicht die Zeit ihn oder mich zu schonen. „Weißt du damals… als ich noch zu Hause gelebt habe… da war das immer die Art und Weise wie ich mich abgelenkt habe.“ „Sex, meinst du?“ „Ja.“ „Mit wem?“, horcht Chris nach. „Mit Zack“, gestehe ich. „Erzählst du mir von ihm?“ „Willst du das denn?“ „Ich habe den Namen schon ziemlich oft gehört, von Thomas oder Jamie, bei dir auch und immer war er negativ. Bei den anderen meine ich, bei dir nicht unbedingt, aber ihr alle scheint ihn nicht sonderlich zu mögen. Trotzdem taucht er immer wieder auf, deswegen frage ich mich schon was länger, was er eigentlich für eine Rolle spielt – oder gespielt hat“, erklärt Chris. „Zack kenne ich seit dem Kindergarten. Wir waren immer zusammen, beste Freunde durch dick und dünn. Als mein Vater anfing mich zu schlagen, habe ich mich danach oft bei ihm verkrochen. Gemeinsam haben wir die ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt. Ich glaube, da waren wir… zwölf oder dreizehn. Zack kannte es nicht anders. Seine Eltern leben zwar zusammen unter einem Dach, sind aber geschieden und haben alle beide laufend wechselnde Partner, nie etwas Festes. Es ist ziemlich kompliziert und verworren bei ihm in der Familie, aber ein Element das immer geblieben ist, ist der Sex. Zack hat seine Eltern dabei ziemlich oft überrascht, einfach weil sich nie jemand darum gekümmert hat, wo man gerade übereinander herfällt und wer das alles beobachten könnte. Wir waren es gewohnt und haben es irgendwann einmal zusammen ausprobiert. Ein bisexueller Liebhaber von einem seiner Elternteile hat zumindest ihn dann aufgeklärt wie das bei Männern funktioniert und kurz darauf haben er und ich es versucht. So fing das damals zwischen uns an.“ Hier mache ich eine Pause, denn ich weiß genau wie sich diese Geschichte auf andere auswirkt. Viele sind angeekelt oder schockiert, manchmal auch beides und keiner kann verstehen wie wir so aufwachsen konnten. Nicht einmal Jamie weiß genaueres darüber. Nur Thomas kennt bisher die ganze Wahrheit. Fakt ist einfach, dass Zack und ich uns unsere Eltern nicht aussuchen konnten. Wir hatten nur die Wahl zwischen meinen gewalttätigen und psychisch angeknacksten Eltern und seinen Eltern, die zwar ein ausschweifendes Sexleben hatten, sich allerdings immer recht liebevoll um uns gekümmert haben. Sie waren keine guten Eltern, aber bessere als meine, einfach weil sie uns Aufmerksamkeit schenkten und uns wirklich versorgten. „Wie waren denn seine Eltern?“, fragt Chris schlicht, nach einer geraumen Zeit. „Nett. Der Vater war streng, erklärte uns aber die ein oder andere Sache. Mit ihm reparierten wir unsere Fahrräder oder bastelten gemeinsam an seiner Maschine herum. Eigentlich war er wie ein Onkel zu uns. Er hatte aber auch so seine Launen und dann durften wir ihm nicht zu nahe kommen. Manchmal, wenn er bemerkt hat, dass wir ihn beim Sex beobachteten, hat er gelacht und uns gezeigt wie es richtig geht. Was man machen muss oder wo Frauen besonders empfindlich sind. Er hat uns sogar ermutigt, selbst mal Hand anzulegen.“ „Im Ernst?“, ist Chris ziemlich geschockt, sieht mich fassungslos an und ist noch eine Spur überraschter als er bemerkt, dass ich das Ganze ziemlich entspannt sehe. Allerdings bin ich das so gewohnt und niemand hat mir gesagt, dass man seine Kinder so eigentlich auf keinen Fall großziehen sollte, aber meine Eltern waren auch nicht besser und mit Zack an meiner Seite und der Illusion von familiärer Geborgenheit und Liebe, habe ich all diese Dinge begierig angenommen. „Waren seine Eltern Hippies oder so was?“ „Glaub’ nicht. Über sie weiß ich aber auch nicht viel“, gebe ich zu. „Waren halt seine Eltern.“ „Ist ja furchtbar.“ „Heute würde ich dir zustimmen, damals aber… na ja… es war eben meine Kindheit, ich kannte es nicht anders“, erkläre ich ihm, streiche ihm kurz über den Kopf, als ich die Tränen in seinen Augen bemerke. „Zack hat sehr früh mit all diesen Sachen angefangen. Gemeinsam mit seinem Vater hat er sich sexuell ausgetobt und viel nachgemacht. Ich war dabei so gesehen sein Versuchskaninchen, auch wenn er nie wirklich etwas getan hat, das ich gar nicht wollte. Seit ich ihn kenne, hat er mir immer das Gefühl gegeben, dass ich ihm wichtig bin und das er alles mit mir und für mich macht. Deswegen habe ich mich auf ihn eingelassen. Erst mit vierzehn, als ich schon lange eine richtige Beziehung mit Zack führte, bin ich auf den Trichter gekommen, dass ich mir nichts aus Frauen mache. Ich mag sie, finde sie auch hübsch, aber erregen tun sie mich eben nicht. Allerdings war das ein Thema, bei dem ich mir zum ersten Mal eine Ohrfeige von Zacks Mutter eingefangen habe. Sie hatte einen Liebhaber gehabt, den ich unheimlich attraktiv fand und leichtsinnigerweise hatte ich sie gefragt, ob ich ihn nicht auch einmal berühren dürfte. Da ist sie ziemlich ausgerastet“, erzähle ich weiter. Als ich mir die Zigarette, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten habe, schließlich anzünde, legt Chris keinen Widerspruch ein. Schweigend hockt er neben mir auf der kleinen Steinmauer, drückt meine freie Hand fest an sich und zittert hin und wieder vor Kälte. „Na ja… irgendwann ist die Mutter abgehauen und Zack und sein Vater blieben alleine zurück, was allerdings keinen von beiden groß gekümmert hat. Die beiden waren so was wie Brüder. Haben sich sehr gut verstanden und einfach alles miteinander gemacht. Als Jamie ein entsprechendes Alter erreicht hatte, wo ich etwas mit ihm anfangen konnte, ging das mit Zack etwas in die Brüche. Er war eifersüchtig auf Jamie, weil der plötzlich mehr Aufmerksamkeit von mir bekam, als er selbst. Trotz allem ging das mit uns so lange weiter, bis ich mit Sechzehn von Zuhause abgehauen bin.“ „Zack war einmal hier, oder?“ „Ja. Sogar zweimal.“ „Zum ersten Mal haben wir uns Neunzehnhundertdreiundneunzig wieder gesehen. Damals bin ich über Weihnachten nach Hause gefahren und mit einer gebrochenen Hand im Krankenhaus gelandet. Zack kam mich besuchen, lehnte aber an, als ihn bat mit mir zu kommen.“ „Wie hast du dir die Hand gebrochen?“ „Ich hab mit voller Wucht gegen die Hauswand geschlagen“, gestehe ich leise lachend. „Ich war wütend auf meine Mum… na ja… da war sie eigentlich nur angebrochen, aber anstatt mich zu schonen, habe ich danach unser Haus auseinander genommen und dabei ist sie dann gebrochen. Ich merke es heute immer noch. Tut manchmal weh.“ „Welche Hand war es?“ „Die Rechte“, winke ich mit der Zigarette in der Hand, an der ich kurz darauf ziehe. „Sowas krasses habe ich noch nie gehört.“ „Glaub’ ich dir“, sehe ich ihn schmunzelnd an. „Wie kannst du da noch lachen?“, empört er sich leise. „Darüber zu reden fällt mir nicht leicht, aber es ist okay. Es ist nur eine Erzählung von Dingen, die nun mehr als zehn Jahre zurück liegen. Wirklich mitnehmen tun mich die Dinge erst, wenn etwas passiert oder… ich weiß nicht… ich kann’s dir nicht erklären…“ „Schon okay“, winkt er ab. Er nagt an seinem Fingernagel, legt die Stirn in Falten und wippt unruhig mit seinen Beinen sodass seine Füße immer wieder gegen die Steinmauer klopfen. „Wie ist es mit euch weitergegangen?“ „Hm… drei Jahre später ist Zack überraschend hier aufgetaucht. Wir sind gemeinsam durch die Gegend gezogen, haben getrunken und uns amüsiert. In einer Disco wurde ich dann von einem Typen die ganze Zeit angemacht und zwischen ihm und Zack ist ein handfester Streit ausgebrochen. Letztendlich haben er und ich uns mit dem Typen und dessen Freunden geprügelt. Irgendwann hatte einer von denen eine Scherbe in der Hand, vermutlich von einem kaputten Bierglas oder so. Er hat rumgebrüllt er würde uns alle umbringen und aufschlitzen. Irgendwann ist er dann auch wirklich auf uns los und Zack hat sich zwischen ihn und mich geworfen. Das Ende der Geschichte ist, dass Zack sein linkes Auge verloren hat.“ „Oh Gott…“, raunt Chris atemlos, erstarrt mitten in der Bewegung und sieht mich schockiert an. „Ja… ehrlich gesagt sehe ich es noch heute vor mir, ich träume davon. Überall Blut, die Schreie. Die lange Operation. Und letztendlich hatte er einen Verband um den Kopf. Der Typ hat ihm direkt durchs Auge geschnitten, ziemlich eklig und blutig… frag mich nicht wie die Ärzte alles wieder zugemacht haben… aber es war schon heftig, weil der Typ mehr als nur einmal mit dem Ding durchs Zacks Gesicht gefahren ist. Heute trägt Zack meistens eine Augenklappe, aber die Narben auf der Wange und Teilen der Stirn kann man darunter trotzdem sehen. Ist alles ziemlich groß ausgefallen.“ „Habt ihr euch danach noch gesehen?“ „Nicht direkt“, gebe ich zu. „Ich glaube, dass er auf Martinas Abschlussball kurz da war, aber ich bin mir nicht sicher, weil ich ziemlich… fertig war. Wenn, dann müsste Jamie darüber was wissen.“ „Und seitdem habt ihr keinen Kontakt mehr?“ „Nein.“ „Heftig“, seufzt Chris neben mir und wir verfallen in Schweigen. Ich habe ihm soviel über mich und Zack erzählt was sonst alles nur noch Thomas weiß. Allen anderen Freunden und Bekannten verschweige ich diese Dinge, denn so was erzählt man mal nicht so eben auf der Straße. Außerdem macht es mir Angst meine Geschichte in den Augen anderer zu verfolgen. Dort sehe ich dann erst wie schrecklich all diese Dinge waren, während sie mir selbst nicht so vorkommen. Natürlich weiß ich heute, dass weder meine Eltern noch Zacks Eltern wirklich das gelbe vom Ei waren, aber… es waren die Einzigen die ich hatte. Ich bin so geboren und aufgewachsen und habe das Beste daraus gemacht. Ich habe mir Mühe gegeben etwas zu erreichen und nicht untätig in meinem Schicksal zu verharren wie Zack es getan hat. Obwohl ich mir nicht sicher bin ob Zack es überhaupt als schlimm erachtet. Ich weiß, dass er als Barkeeper in unserer Heimatstadt arbeitet und sich vermutlich die Nächte um die Ohren schlägt. Was aus seinem Vater geworden ist, weiß ich nicht, aber der dürfte vermutlich auch noch leben, wenn er nicht in der Zwischenzeit auf Drogen und noch mehr Alkohol umgestiegen ist. „Erzähl mir von dir“, bitte ich ihn leise. „Da gibt es nicht viel“, behauptet er. Beginnt aber trotzdem. „Aufgewachsen bin ich bei meinem Vater und meiner Mutter. Es war… na ja… schön, gut, okay… wie man auch dazu sagen will. Normal, denke ich. Zu meiner Mum hatte ich immer den besten Kontakt, auch wenn ich mich viel häufiger mit ihr gestritten habe. Als ich zehn wurde, haben sich meine Eltern getrennt und mein Dad ist ausgezogen. Jedes zweite Wochenende fahr ich zu ihm, wenn er nicht gerade arbeiten muss und dann unternehmen wir was zusammen, was immer sehr schön ist. Derzeit hat er eine neue Freundin, eine ganz Liebe, mit der ich mich super verstehe. Dads Verwandtschaft ist ziemlich schrullig und ich finde da keinen besonders nett. Na ja, meine Mum hat keine Familie mehr in dem Sinne. Sie war Einzelkind genau wie ich und meine Oma ist… na ja… tot. Sie ist bei meinem Großvater aufgewachsen und mit ihm haben wir eben sehr engen Kontakt. Eine kleine Dreiköpfige Familie. Am Anfang wollte meine Mum immer dafür Sorgen, dass ich einen Vater habe… oder eher eine Vaterfigur, aber das hat nicht geklappt und war auch unnötig. Derzeit konzentriert sie sich auf ihre Arbeit und meinen Werdegang.“ „Sie ist sehr streng, oder?“ „Schon“, gibt er zu. „Aber sie macht sich einfach nur Sorgen um mich. Unsere Zankereien sind auch meistens nie so schlimm wie es aussieht. Es gibt ein paar Dinge, die passen meiner Mum gar nicht, aber ansonsten… ich denke sie braucht einfach immer ein bisschen Zeit ehe sie auftaut.“ Wieder schweigen wir uns an, meine Packung ist mittlerweile komplett leer und mir selbst ist unheimlich schlecht. Dafür dass ich in den letzten Monaten kaum noch geraucht habe, war das heute eindeutig ein bisschen zu viel. „Du bist so blass“, mein Chris auch kurz darauf besorgt, betrachtet mein Gesicht im schwachen Schein der gegenüberstehenden Laterne. „Mir ist ziemlich übel“, gestehe ich, blicke missmutig auf den Haufen abgerauchter Zigaretten. „Selber schuld.“ „Ich weiß, Chris, Gott ich weiß“, lache ich amüsiert, ziehe den anderen näher zu mir und traue mich tatsächlich ihm einen sanften Kuss auf den weichen, verführerischen Mund zu drücken. „Ist bei uns alles gut?“ „Eigentlich nicht, nein“, wehrt er ab und ich bin ernsthaft enttäuscht und erschrocken. „Rapha, ich bin kein Heiliger, verstehst du? Ich gebe mir wirklich Mühe dir das nicht immer zu zeigen, aber… natürlich ist es für mich nicht leicht. Bei all dem Verständnis das ich für dich habe… es ist nicht einfach.“ „Ja“, gebe ich schwach zu, drücke Chris ein wenig fester an mich und streiche ihm mit einer Hand durch die vollen Haare. „Ich weiß, dass ich von dir nichts verlangen kann… das ist auch in Ordnung, damit kann ich umgehen, irgendwie… aber… eine Sache, möchte ich dann doch.“ „Und welche?“, frage ich nach, sehe ihm direkt in die Augen, bemerke das Funkeln darin, beobachte wie sich seine sündigen Lippen zu einem sanften Lächeln verziehen. „Sei ehrlich zu mir“, bittet er dann. „Über alles. Deine Gefühle, deine Gedanken, über die Dinge die dich bewegen. Ich will dich zu nichts zwingen, aber bevor du wieder wie ein Wahnsinniger über mich herfällst, wäre es mir lieber, wenn du zumindest versuchen würdest mit mir darüber zu sprechen. Einverstanden?“ „Einverstanden“, lache ich befreit auf, vollkommen glücklich mit dem Umstand, dass ich Chris nun endlich wieder ganz unbefangen in meinen Armen halten kann. Ich habe ihn vermisst. Ernsthaft und aufrichtig vermisst. Langsam, fast behutsam ziehe ich den Kleineren zu mir, stelle ihn vor mich und nehme ihn zwischen meinen Beinen ganz sanft gefangen. Vertrauensvoll schmiegt er sich an mich, vergräbt sich in meiner Halsbeuge und mogelt sich mit seinen Händen unter meine Jacke. Alles an Chris ist weich und nachgiebig, anschmiegsam und warm. Selbst jetzt im Oktober, scheint er einfach nur zu glühen. Ich lege meine Arme um ihn, halte ihn fest, atme seinen Duft ein und genieße einfach nur diesen Augenblick mit ihm. Wir haben viel gesprochen und ich fühle mich ganz erschlagen und matt von den Erinnerungen an damals, aber auch befreit und sicher. Mit Chris kann mir nichts passieren, oder? „Warum hast du dich mit Thomas gestritten?“, höre ich ihn an meiner Brust flüstern und schmunzle darüber, wie sein warmer Atem durch den Stoff meines Shirts dringt und mich sanft berührt. „Er hat schlecht über Jamie gesprochen.“ „Und deswegen bist du abgehauen?“ „Nein. Das bin ich, weil Jamie mich angelogen hat“, erkläre ich kurz. „Hat er das?“ Chris will sich aus meiner Umarmung lösen um mich anzusehen, aber ich ziehe ihn wider zu mir zurück, küsse sanft seine Stirn und schließe die Augen. Ich glaube, so fühlt sich Frieden an. „Ehrlich gesagt, kann ich es dir nicht genau erklären. Ich… denke selber noch darüber nach.“ „Aber wenn du noch drüber nachdenkst, kannst du nicht sauer auf ihn sein“, argumentiert er leise in meine Halsbeuge hinein, streift mich dort mit seinem Atem, seinen Lippen, seiner Haut. „Sauer bin auch nicht auf ihn, aber… enttäuscht und… frustriert, denke ich“, versuche ich meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Aber es ist schwierig, denn es ist so unwirklich und wenig augenscheinlich. Als ob meine Seele einfach nur ein großer Klumpen wäre, bei dem man nicht mehr ausmachen kann, woraus er besteht. „Rede mit ihm“, drängt Chris mich auf der Mauer ein Stück nach hinten, damit er zumindest den Kopf in den Nacken legen kann um mich doch anzusehen. Ich antworte ihm nicht, küsse ihn wieder sanft auf den Mund, dann sein Gesicht, schließlich verstecke ich mich an seiner Schulter. „Ich weiß nicht ob ich es morgen bereuen werde oder nicht, aber…“, beginne ich vorsichtig, wage es nicht ihn anzusehen. „…gerade denke ich mir, dass ich es sehr gerne ernsthaft mit dir versuchen würde.“ Chris Atmung setzt in diesem Moment aus, seine Finger bohren sich in meine Haut und sein ganzer Körper scheint erstarrt. Seine Verblüffung ist ehrlich und vollkommen. Noch während er regungslos dasteht und mich nur mit seinen Augen verfolgt, richte ich mich auf, streichle über seine Wange und bringe ein wirklich ernsthaftes Lächeln zustande. „Das passiert, wenn ich ehrlich bin“, necke ich ihn. --- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)