Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 21: Von nun an... (2001 / 10) ------------------------------------- 21. Kapitel - 2001 (Oktober) Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen, öffnet mir mein kleiner Bruder die Tür. Wortlos tritt er zur Seite, lässt mich ein und ich gehe geradewegs ins Wohnzimmer. Ich höre Martina in der Küche herumwerkeln. Es ist Wochenende, ihre Zeit zu kochen. „Möchtest du was trinken?“, fragt Jamie mit leiser Stimme. „Wasser, bitte“, gebe ich zurück, setze mich aufs Sofa, sehe ihm kurz direkt in die Augen. Er verschwindet und ich kann ihn mit Martina leise reden hören, dann kommt er mit einem vollen Glas in der Hand wieder zurück, stellt es vor mir ab und setzt sich mir gegenüber in den Sessel. Er scheint zu spüren – oder zu wissen -, dass ich seine Nähe gerade nicht ertragen kann. Minute über Minute verstreicht, ohne dass einer von uns beiden auch nur ein einziges Wort sagt. Er schaut über meinen Kopf hinweg auf die Wand in meinem Rücken, während ich mit eiserner Mine auf den toten Fernsehbildschirm starre, in dem ich mich spiegele. „Sag was“, bittet er schließlich in einem flehenden Ton. Er ringt die Hände ineinander und kann seinen Blick kaum eine Sekunde auf einen Punkt fixieren. Scheinbar ist er um ein vielfaches nervöser als ich. Ich selbst bin tatsächlich eher von ruhiger und gesetzter Stimmung. Aber schließlich weiß ich ja auch was ich sagen werde und wie ich mich entschieden habe. Das macht es einfacher, erträglicher. Auch mir tut es weh, dieses Gespräch führen zu müssen, aber es wurden zu viele Dinge getan und gesagt, als dass ich es einfach so im Raum stehen lasen könnte. „Stimmt es, dass du mir meinen kleinen Bruder nur vorgespielt hast?“ „In der ersten Zeit, ja“, antwortet er und seine Stimme zittert. „Wie lange?“ „Ich weiß nicht genau“, denkt er kurz darüber nach. „Vielleicht die ersten sechs oder sieben Monate.“ „Hm“, ist alles was ich darauf erwidere. Ich sehe den Kinderkörper mit den strahlenden Augen vor mir, der seine Hände nach mir streckt, mich bittet, ihn hochzuheben und durch die Luft zu wirbeln. Ich sehe kleine, verschränkte Füße, die ein stummes Schuldeingeständnis zeigen. Und ich höre das fröhliche Kinderlachen. Dieses Kind habe ich all die Jahre geliebt, mich nach ihm gesehnt, mir gewünscht es bei mir zu haben, es zu beschützen, mein Leben mit ihm zu teilen und es aufwachsen zu sehen. Die Rolle des großen Bruders war meine Erfüllung vom Leben. Weder Reichtum noch Ansehen, weder das teure Einfamilienhaus noch eine Weltreise waren mir wichtig. Alles wovon ich geträumt hatte… war dieser kleine Junge gewesen. „Viel zu lange…“, murmle ich leise und sehe Jamie aus dem Augenwinkel heraus nicken. „Sieben Jahre kann man nicht einfach vergessen. Du warst einfach zu lange fort.“ „Ja“, räume ich ein. Vielleicht habe ich einfach zu viel erwartet. Ein achtjähriger Junge, allein gelassen, ohne die Liebe seiner Eltern, ohne konkrete Erinnerungen an den eigenen Bruder… wie konnte ich da nur jemals eine gleichwertige Gegenliebe erwarten? „Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich Martina jetzt schon heiraten sollte“, erzählt Jamie leise, wirft einen schnellen Blick über die Schulter in Richtung Küche. „Es tat mir weh in deinen Augen zu lesen, wie viel ich dir bedeute und immer zu wissen, dass ich es einfach nicht erwidern kann. Ich dachte, dass ich vielleicht einfach Zeit bräuchte um dich kennen zu lernen, mich wieder an dich zu erinnern. Aber egal wie oft du mir Geschichten von damals erzählt hast, ist es für mich nicht mehr als ein verschwommenes Bild gewesen. Und du selbst hast ja auch nicht mich geliebt...“ Von dieser Aussage überrascht sehe ich zu ihm auf. „Rapha… du liebst den kleinen Bruder von vor sieben Jahren! Aber ich bin keine Acht mehr, ich bin erwachsen geworden. Ohne dich. Aber du behandelst mich noch immer so, als wäre ich ein kleines Kind, auf das du aufpassen musst.“ „Du hast mir nie gesagt, dass es dich stört!“, gebe ich heftiger als beabsichtigt zurück. „Wie sollte ich denn auch?“, faucht Jamie. „Ich hatte erst Angst um mich und dann – auch wenn du es mir nicht glaubst – wollte ich dir unter keinen Umständen wehtun. Vielleicht war es bei mir nicht so schlimm wie bei dir, aber ich kann mir in etwa ausmalen wie deine Kindheit gewesen sein muss. Ich sehe die Narben die es hinterlassen hat… ich wollte dich nicht noch mehr verletzen.“ „Hast du geglaubt es würde einfacher für mich werden, wenn du dich einfach so aus dem Staub machst?“ „Das wollte ich ja gar nicht! Gott, ich frage mich, was Thomas dir erzählt hat!“ Jamie sieht mich mit einem frustrierten Blick an. „Ich dachte, dass es für alle einfacher wäre, wenn ich ausziehe, mein eigenes Leben beginne und dir Zeit gebe, dich daran zu gewöhnen. Ab und an vorbeikommen, Zeit miteinander verbringen, ja, aber eben in einem gewissen Rahmen…“ „Du hast mich also auf die lange Bank geschoben“, resigniere ich. Ich weiß nicht was Jamie für mich empfindet, aber die Gefühle eines Bruders sind es nicht. Ich denke wohl, dass er mich mag, ich ihm vielleicht sogar auf gewisse Art und Weise wichtig bin, aber… ich war wohl nie mehr als ein Freund. „Rapha…“ „Nenn mich nicht so!“, wehre ich diesen Spitznamen ab. Jamie zuckt erschrocken zurück, seine Mine verhärtet sich und wir wissen beide, dass wir nicht ohne Streit auseinander gehen werden, wenn wir jetzt nicht aufhören. „Tu es nicht“, beschwört er mich leise, aber eindringlich. Einen Moment lang halte ich inne, schüttle dann aber den Kopf, erhebe mich und streife alles von ihm ab. Seinen Blick, seine flüchtige Berührung an meinem Arm. Ich ertrage es einfach nicht. Das Bild eines Fremden. „Ich will dich nicht mehr sehen“, presse ich mühsam hervor, will mich von ihm wegdrehen, als sein Griff fester wird. „Tu das nicht!“, bleibt er beharrlich. „Ich bitte dich, gib mir doch eine zweite Chance.“ „Nein“, wehre ich kategorisch ab, bemerke Martina, die verspannt im Küchentürrahmen steht und mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck mustert. „Raphael.“ „Ich kann nicht“, gebe ich zu. „Jetzt noch nicht. Wenn du wirklich etwas für mich empfindest, was den Gefühlen eines Bruders nahe kommt, dann lässt du mich gehen.“ Einen Moment lang starren wir uns schweigend an. Der große und der kleine Bruder, die keine Brüder mehr sind. Fremde, die sich in die Augen sehen und doch wegsehen, wenn es um das wahre Ich des anderen geht. Vor unserem geistigen Auge zerfällt das Bild, das wir uns von unserem Gegenüber gemacht haben, in winzig kleine Einzelteile. Es wird lange dauern sie neu zusammen zu setzen und wir werden uns das ein oder andere Mal an den Scherben schneiden. „Okay“ flüstert Jamie schließlich, löst seine Finger von meinem Arm, senkt den Blick und sieht mir nicht nach, wie ich aus seiner Wohnung aus seinem Leben verschwinde. Ob ich jemals wiederkomme, weiß keiner von uns. Es wird sich zeigen ob ich jemals die Kraft besitzen werde, ihm zu verzeihen. --- Der leckere Duft nach Braten steigt mir in die Nase als ich die Wohnungstür der Familie Vogel aufstoße. Ich höre Lars und Johannes wie sie sehr angeregt eines ihrer unzähligen Martial-Arts Kampfspiele zocken. Das Neuste stammt von irgendeiner japanischen Serie uns ist für mich unaussprechlich. Ich gehe an dem Raum vorbei, direkt in die Küche hinein wo ich Marianne am Herd vorfinde. Sie prüft gerade die Kartoffeln mit einer Gabel und erschrickt sich furchtbar, als ich sie von hinten in den Arm nehme. „Riecht lecker“, meine ich schmunzelnd. „Danke“, antwortet sie freudig. Und dann ernsthafter: „Wie war es bei Jamie?“ „Zermürbend“, gebe ich ehrlich zu, denn ich fühle mich gerade ganz matt und kraftlos. Jegliche Energie scheint aus mir gewichen zu sein und ich spüre den Verlust meines kleinen Bruders tief in mir. Ich bin froh, als mich Marianne in den Arm nimmt und ich diese mütterliche Wärme spüre, die sie immer versprüht und mit der sie nie zu sparen scheint. „Geh und hol die anderen, das Essen ist fertig“, sagt sie sanft, lächelt mir zu und hat mich in dieser Sekunde genaustens verstanden. In den letzten Tagen habe ich wirklich das Gefühl, dazu zu gehören. Ich bin nicht länger bei der Familie eines Freundes… ich bin bei meiner Familie, den Menschen die mich lieben und die ich von ganzem Herzen liebe. „Bernhard“, stecke ich meinen Kopf zum Wohnzimmer herein, doch der Hausherr ist nicht wie erwartet bei seinen jüngsten Söhnen. Die bleiben hartnäckig vor dem Fernsehbildschirm kleben, bis ich diesen schlussendlich ausschalte und die zwei zunächst Hände waschen schicke. Thomas ist in seinem Zimmer, drückt mich kurz an sich und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. Wie immer hat er auf einen Blick erkannt, was in mir vorgeht. Bernhard selbst ist nirgends zu finden und schlussendlich fällt Marianne ein, dass ihr Mann länger arbeiten muss. „Dann fangen wir schon mal an“, beschließt sie, reicht mir die Schüssel mit den Kartoffeln, die ich an Lars weitergebe. Der Reihe nach füllen wir unsere Teller, beginnen zu Essen und ich bade mich in dem glücklichen Gefühl, das in mir aufkommt, als alle durcheinander reden und die Familie ganz nah beisammen ist. Nach dem Essen spüle ich gemeinsam mit Thomas das schmutzige Geschirr ab, gönne Marianne so einen ruhigen Abend mit den Zwillingen, die, endlich einmal zur Ruhe gekommen, Spaß an einem familiären Brettspiel haben. Dabei genießen die drei ihren Nachtisch: Eis mit heißen Kirschen und Vanillesoße. Thomas reicht mir einen nassen Teller an, den ich in mein Handtuch packe und mit gleichmäßigen Bewegungen abtrockne, ehe ich ihn auf den Stapel lege. Es ist eine beruhigende Monotonie, ein Alltag, wie ich ihn nur selten habe. Mein Handy liegt auf den Küchentisch. Ohne wirklich zu wissen warum oder von wem, erwarte ich einen Anruf. „Wie geht es dir?“, flüstert mein bester Freund leise, wirft mir dabei einen unsicheren Seitenblick zu. „Gut“, antworte ich mechanisch, nach jahrelang einstudiertem Muster. „Ach komm, Rapha. Lass mich nicht beim Urknall anfangen.“ „Entschuldige“, sage ich sanft. Ich weiß, dass ich es Thomas manchmal sehr schwer mache. Nicht, weil ich mich ihm nicht anvertrauen wollte, sondern einfach aus dem Grund, dass es für mich normal geworden ist, alles mit mir alleine auszumachen. Im ersten Moment weise ich immer jegliche Hilfe von mir. „Und? Was ist los?“ „Ich war bei Jamie.“ „Ach so“, ist alles was Thomas dazu einfällt. Verlegen sieht er auf seine Hände. Sie zittern. „Ich… ich war mir nie sicher, ob ich dir das wirklich sagen sollte.“ „Warum denn nicht?“ „Er hat dir einfach alles bedeutet, du warst… annähernd glücklich.“ „Denkst du, dass du einen Fehler gemacht hast?“, frage ich nach. Thomas schweigt minutenlang, reicht mir zwei Gläser, stützt sich auf den Waschenbeckenrand und starrt aus dem kleinen Fenster nach draußen. Es nieselt leicht, das Laub auf der Straße wirkt nicht mehr fröhlich-bunt sondern matschig-grau. Der Herbst hat in diesem Moment seinen ganzen Reiz eingebüßt, wirkt trist und fad. „Nein. Nein, ich denke, dass es richtig war“, gesteht Thomas mit fester Stimme. „Ich denke das auch“, gebe ich zu, lehne mich vertrauensvoll an seine Seite, sehe ebenfalls nach draußen und bringe sogar ein schwaches Lächeln zustande, das sich im Glas der Fensterscheibe spiegelt. „Trotzdem tut es weh.“ „Ja“, krächzt Thomas mit rauer Stimme. Schweigend stehen wir nebeneinander, den Blick starr nach vorne gerichtet, als ob wir vor uns die Zukunft sehen könnten, die auf uns wartet, nachdem wir beide diese Entscheidung getroffen haben. Ich weiß nicht ob Thomas vielleicht wirklich etwas wahrnimmt, ich dagegen fühle mich nur einmal mehr verloren und hilflos. Ich beginne darüber nachzudenken was schlimmer ist: Das Schicksal eines kleinen Afrikanerkindes, das einfach nichts zu beißen hat, oder das Gefühl eigentlich alles zu haben und doch nichts zu besitzen. Ich ein körperliches oder ein seelisches Martyrium vernichtender? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Leidet man nicht immer auf beide Arten? Mir ist schlecht und ich drehe mich vom Fenster weg, als könnte ich so diesen Gefühlen in mir entgehen. In Wahrheit aber lassen sie mich nicht los, weder jetzt, noch abends, als ich neben Thomas im Bett liege und - einmal mehr - schlaflos die schwarze Decke über mir anstarre. Ist das Leben für alle anderen Menschen so viel einfacher? Sind sie wirklich so glücklich wie sie auf mich wirken? Frustriert von der Düsternis um mich herum werfe ich mich auf die linke Seite, das Gesicht der Wand zugewandt, ziehe mir die Decke über die Schulter und vergieße stumme Tränen. Thomas’ Hand erschreckt mich, ich will sie abschütteln, lasse dann aber doch zu, dass er mir sanft über den Rücken streichelt. Schweigend liegen wir da, wartend, hoffend. Wessen Wunsch wohl in Erfüllung gehen wird? --- Bereits beim ersten Sonnenstrahl der ins Zimmer fällt, stehe ich auf, ziehe mich an und gönne mir nur noch eine schnelle Tasse Kaffee. Ich halte es einfach nicht aus, einfach nur wach herumzuliegen, nichts zu tun und den Gedanken in meinem Kopf hilflos ausgeliefert zu sein. Ich denke zu viel, das wusste ich schon immer, aber momentan ist es nur noch unerträglich. Ziellos und mit knurrendem Magen streife ich durch die Straßen, überlege hin und her wo ich nun hingehen soll. Ich fühle mich wirr und wie ein Tiger in einem zu engen Käfig. Der Drang Chris anzurufen ist groß, aber da ich nicht weiß was ich ihm sagen soll und ich ihm eine Szene wie beim letzten Mal ersparen will, lasse ich es bleiben. „Gott, hilf mir“, rufe ich frustriert aus, beachte die verwunderten Passanten nicht, biege nach links ab und kämpfe mich durch die engen Gassen meiner Gegend bis ich zu dem kleinen Kinderspielplatz gelange, der heruntergekommen ruhig daliegt. Ich setze mich auf die Schaukel, nehme Schwung und lasse für einen Moment mich und meine Gedanken frei in der Luft fliegen. Nichts scheint einfacher zu sein. Als gäbe es nichts wichtigeres, als in diesem Moment genau hier zu sein, genau das zu tun. So sinnlos es auch eigentlich ist, mir gibt es ein gutes Gefühl. Wie viel Zeit ich auf dem Spielplatz verbringe, weiß ich nicht. Ich habe keine Uhr und mein Handy ist noch in meiner Tasche, die ich bei Thomas stehen gelassen habe. Da ich nicht wusste wohin ich gehen würde, habe ich sie wohlweißlich als Grund zur Rückkehr eingespannt. Ohne Geld kommt man schließlich nicht weit. Ich hocke gerade am oberen Ende der Rutsche, als ich Jamie auf mich zukommen sehe. „Hey“, grüßt er schwach, deutet in einer hilflosen Geste auf mich. „Ich… dachte mir, dass du hier sein würdest. Du hast dich früher… immer auf Spielplätzen versteckt.“ „Sag bloß das weißt du?“, frage ich, nicht ohne eine Spur von Verachtung. „Ja, ich… hör zu, Rapha…el… ich…“, stammelt er, fährt sich unsicher durch die Haare, sieht mich an, als sei er das Lamm vor dem Schlachter. „Ich könnte mich für die Lügerei entschuldigen, aber… bei all dem Verständnis das ich für dich habe, wäre es schön, wenn du dieses Verständnis ab und an auch für mich aufbringen könntest. Ich… habe versucht es sowohl dir als auch mir so leicht wie möglich zu machen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal warum Thomas dir davon erzählt hat, aber ich dachte damals, dass ich ihm vertrauen könnte… war wohl ein Irrtum und ich…“ „Hör auf“, unterbreche ich ihn grob. „Thomas hat das getan was er als seine Pflicht als mein bester Freund und Bruder erachtet hat. Ehrlichkeit ist in beiden Beziehungen sehr wichtig.“ „Ach“, stößt Jamie verächtlich aus. „Hast du dir also schon einen Ersatz für mich gesucht?“ „Wie du selbst gesagt hast, habe ich ja eh nie dich als meinen Bruder gesehen, sondern nur das kleine Kind das du damals warst. Also nein, für DICH habe ich mir keinen Ersatz gesucht. Außerdem war Thomas mein Bruder seit ich ihn kenne. Was sehr viel länger der Fall ist als wie bei dir, wie mir scheint“, gifte ich zurück. Jamie verschränkt die Arme vor der Brust, zieht sich in die Abwehr zurück, wenn er mich auch mit seinen Blicken zu erdolchen sucht. Der Angriff geht allerdings ins Leere, ich lasse mich von ihm nicht mehr beeindrucken. „Du legst es dir auch immer so aus, wie du es gerade brauchst.“ „Sagt der, der aus reinem Egoismus geschauspielert hat, dass er mein Bruder sei. Und den das noch nicht einmal mit Reue erfüllt“, wehre ich ab. „Weißt du was dein Problem ist?“, fährt Jamie plötzlich wütend aus der Haut. „Klär mich auf.“ „Du denkst, dass es immer nur um dich und deine beschissenen Probleme geht!“, keift er, deutet anklagend mit dem Finger auf mich. „Du hattest die schreckliche Kindheit, du bist derjenige, den niemand liebt, dich versteht kein Schwein, du hast dein Leben nicht auf die Reihe gekriegt und du bist ja auch die arme Sau, die rein gar nichts dafür kann!“ „Und?“, stachle ich ihn weiter an. „Nur weil alle anderen nach deiner Pfeife tanzen heißt das nicht, dass ich das auch tue! Verdammt noch mal, du bist alt genug! Scheiß auf unsere Eltern und scheiß darauf, dass uns keiner von den beiden geliebt hat! Das ist kein Grund dauernd depri zu sein! Nimm dein Leben gefälligst selbst in die Hand und hör auf dich andauernd selbst zu bemitleiden!“ „Fertig?“ „Nein, bin ich nicht! Du hast alles was du je wolltest, nimmst es aber trotzdem nicht an! Wenn du unzufrieden bist, dann ändere was daran! Warte nicht immer darauf, dass andere die Welt für dich bewegen!“ Schweigend sehen wir uns an. Jamie atmet mehrmals heftig ein uns aus um sich wieder zu sammeln. Seine Worte hallen in mir nach, finden ein Echo, aber ich bin nicht bereit dass in diesem Moment einzugestehen. Der Fehler liegt bei ihm, nicht bei mir. „Oh, und bevor ich es vergesse“, setzt er erneut an. „Von nun an gehen wir getrennte Wege, damit du es nur weißt. Ich bin es leid, dir hinterher zu rennen um mich dann von dir abkanzeln zu lassen. Sie zu wie du zurecht kommst!“ Mit diesen allerletzten Worten dreht er sich auf dem Absatz um und verschwindet schnellen, energischen Schrittes. Ich bin überrascht, dass gebe ich zu. So hat Jamie noch nie mit mir gesprochen. Völlig fassungslos bleibe ich sitzen, starre ihm hinterher und schließlich nur noch auf die zurückgebliebene gegenüberliegende Häuserwand. --- Der Halbmond geht in meinem Rücken auf, Sterne funkeln bereits am pechschwarzen Nachthimmel und ich sitze noch immer hier, unbewegt und steif. Die Kälte ist in alle meine Glieder gekrochen und doch verspüre ich nicht den geringsten Drang in mir, mich auch nur ein bisschen zu rühren. Stärker als nie zuvor spüre ich diese zwei Seiten in mir. Auf der einen Seite ist da der kleine Junge von damals, der von einer rosigen Zukunft an der Seite seines kleinen Bruder träumt. Mit ihm gegen den Rest der Welt und bis zum Ende aller Tage. Und dann ist da dieser erwachsene Mann, der genau weiß, dass diese Zukunft nur noch aus Schutt und Asche besteht. Ein Gebäude, das noch vor seiner Fertigstellung abgebrannt ist. Ich kann mich nicht von damals trennen, aber ich weiß nur zu genau, dass Jamie Recht hat. Untätig herum zu sitzen und zu grübeln bringt mich nicht weiter. Wenn ich jemals etwas erreichen will, muss ich endlich lernen voran zu gehen. Ohne mich von anderen abhängig zu machen und trotzdem ihre Hilfe annehmen zu können. Ein letztes Mal… das schwöre ich mir in diesem Moment, in dem ich mich langsam erhebe und von der Rutsche herunter klettere, ein allerletztes Mal noch möchte ich mich selbst bemitleiden, mich trösten lassen. Mit einem schwachen Lächeln auf den eiskalten Lippen stromere ich durch die Nacht, zielstrebig auf das Haus von Chris zu. Ich habe keine Ahnung welches Fenster zu seinem Zimmer gehört und kurzentschlossen klingele ich ihn und seine Mutter wach. Letztere öffnet mir mit einem verschlafenen, mürrischen Blick die Tür. „Herr… Montega…“, besinnt sie sich auf meinen Namen. „Es tut mir leid“, lenke ich behutsam ein. „Dürfte ich diese Nacht bei Chris im Zimmer schlafen?“ Diese offene Ehrlichkeit entwaffnet sie und ohne jeglichen Einwand tritt sie zur Seite, deutet die Treppe hinauf, folgt mir nach und reicht mir schließlich ein Kopfkissen und eine Decke, die sie aus dem Schrank in ihrem Schlafzimmer entnommen hat. „Die zweite Tür rechts. Chris dürfte noch wach sein, er gibt Ihnen einen Bettbezug.“ „Haben Sie vielen Dank“, flüstere ich leise, wünsche ihr noch eine gute Nacht und betrete das von ihr benannte Zimmer. „Wer war’s denn Mum?“, kommt es ganz verschlafen aus Richtung des Bettes. Langsam dreht Chris sicht herum, blinzelt in das gedämpfte Licht seiner Nachttischlampe, reibt sich müde über die Augen und erstarrt förmlich, als er mich im Türrahmen stehen sieht. „Ach du Scheiße“, entfährt es ihm und keine Sekunde später steht er vor mir, nur in seine Pyjamahose gekleidet. „Komm rein, du bist ganz blass. Wirf’s auf den Boden und leg dich in mein Bett, da ist es warm. Ich mach dir eine Wärmflasche fertig.“ Wie ein Wirbelsturm fegt er an mir vorbei, auf den Flur hinaus und verschwindet in der gegenüberliegenden Tür, dort kramt er so lange herum bis er mit einem triumphalen Geräusch die Wärmflasche gefunden hat, mit der er sogleich die Treppe hinunter in die Küche eilt. Mit einem warmen Lächeln, schäle ich mich aus meinen Klamotten, hänge sie über den Schreibtischstuhl und schlüpfe dann unter die wirklich noch sehr warme Decke. Ich reibe mir über die Oberschenkel und die Arme, hauche mir immer wieder in die Hände und versuche allmählich wieder etwas Temperatur in meinen Körper zu bekommen. Nach einer Weile kommt Chris nicht nur mit der Wärmflasche sondern auch mit einer Thermoskanne Tee wieder ins Zimmer. Er stellt die Kanne auf den Nachttisch, setzt sich neben mich aufrecht aufs Bett, zieht die Decke ordentlich zurecht und gibt mir dann die Wärmflasche, die ich mir samt dem Handtuch, mit dem sie umwickelt ist, fest auf den Bauch presse. „Warst du die ganze Zeit draußen?“, fragt er mich schließlich. „Ja.“ „Was hast du denn so lange gemacht?“ „Nachgedacht“, bleibe ich einsilbig. „Worüber?“ Und ohne dass er viel darum kämpfen müsste, erzähle ich ihm die ganze Geschichte, weihe ihn in meine Gedanken ein, in meine Gefühle, in meine Ängste. Die ganze Zeit über hört er mir schweigend und sehr aufmerksam zu. Als mir warm genug ist, setzte ich mich auf, trinke die erste Tasse Tee, dann die zweite, dritte. Die Zeit vergeht wie im Flug, ehe ich endlich alles erzählt habe, was ich ihm erzählen wollte. „Und warum bist du hier?“, stellt er die abschließende Frage. „Weil ich noch ein allerletztes Mal schwach sein wollte“, gestehe ich, kuschle mich dann erleichtert und gelöst tiefer in die Decke, vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter und schlafe mit dem wohligen Gefühl seiner Hand auf meinem Rücken endlich ein. --- Entschuldigt die lange Wartezeit. Persönliche Dinge haben mich vom schreiben abgehalten und nicht zuletzt eine kreaTIEF-Phase. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)