Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster von Arcturus (Eine Scheibenwelt-Wichtelgeschichte für JoeyB) ================================================================================ Fred Colon, welcher sich zwar wenig elektant – oder so – aber zumindest höflich aus Mumms Büro zurückgezogen hatte, als Frau Taschenleeri eingetroffen war,(32) um dann sein Ohr von der anderen Seite an die Holztür zu pressen, war der erste ranghöhere Diensthabende, der vor Ort eintraf. Dies lag vornehmlich daran, dass er nach Detritus Auftritt in den Hintergrund gestoßen, geschubst und gedrängelt wurde, erst, um Detritus Platz zu machen, dann, weil noch mehr neugierige Wachen ein gewisses Interesse an der aktuellen Situation zu zeigen begannen. Nun jedoch wechselte das Interesse, weg von Mumms Büro, hin zu Kettils Schreien und so schob ihn die Masse – frei nach dem Motto „besser er als wir“ – einfach vor sich her. Als er den Körper, der ziemlich sicher Karotte gehörte – er kannte keinen anderen Wächter, der auch nur halb so aussah, wie der Hauptmann – und der nach wie vor im Eingangsbereich lag, erblickte, blieb er stehen. Der Zwerg, der verloren zwischen ihnen und Karotte stand, verbesserte die Situation nicht. Freds Gesichtsfarbe wechselte von vor-Anstrengung-rot zu erschüttert-blass-mit-von-der-Anstrengung-herrührenden-roten-Flecken. Das Auftauchen von Frau Taschenleeri, die beklagte, dass ihr Sohn von einem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster überrollt worden war, das war ein Zeichen gewesen. Da war er sich sicher. Und dieses Zeichen hatte ihm sagen wollen: Nimm Resturlaub. Beende jetzt deine Schicht. Geh. Und versteck dich unter deinem Bett. Er hätte es tun sollen. Spätestens, nachdem Detritus ihm beinahe zu einem neuen Leben als hässlicher Fleck an der Flurmauer verholfen hatte. Und jetzt? Jetzt war es zu spät. Aus der Nummer kam er nicht wieder raus.(33) Du packst das schon, Fred. Es ist nur Karotte. Es ist nur der bewusstlose Karotte. Kein Grund, in Panik auszubrechen. Es ist nur ein bewusstloser Karotte, der einen erschreckend großen Riss im Kettenhemd hat. Und es ist das Kettenhemd, das da eine komische, rote Flüssigkeit verliert. Ganz sicher. „Jetzt tut doch was!“, rief der Zwerg, der sich mittlerweile neben seinen Hauptmann gekniet hatte. „Ich hatte meinen Damit-du-dir-und-den-anderen-im-Falle-größeren-Übels-helfen-kannst-Kurs noch nicht!“ Dermaßen persönlich angesprochen, reagierten einige der Anwesenden reflexartig: Sie traten hastig zurück. In Fred Colon hingegen legte es einen Schalter um, der in der Regel unangetastet blieb.(34) Er straffte die Schultern und trat zwei Schritte vor. „Du und Du und Du!“, sprach er laut und deutlich und ungewöhnlich scharf, während er auf die drei stärksten Nicht-Trolle zeigte, die er gerade sehen konnte, „Ihr tragt ihn auf sein Zimmer. Du!“ Sein Finger zeigte nun auf einen Zwerg, „Holst Zeug zum Verbinden und etwas zu trinken. Nimm das stärkste, dass Du finden kannst! Und Du!“ Sein Finger wanderte auf den Zwerg im Rock daneben, „Du holst den Kommandeur. Na los!“ Zwei Dutzend Wachen blinzelten synchron. Dann setzten sie sich ebenso synchron in Bewegung.(35) *** Schmerz durchzog seinen Leib. Ausgehend von der Schulter zog sich eine gewaltige Woge blendender Hitze durch seinen Körper und erfasste jede noch so kleine Faser, jede Zelle. Sehnen und Muskel rissen mit Leichtigkeit, als sich die Zähne von der Länge seines Unterarms in ihn bohrte, doch sie töteten ihn nicht. Noch nicht zumindest. Etwas riss an ihm und wirbelte ihn herum. Ein Knacken sagte ihm, dass seine Beine gegen die Mauer, die einer Drehung um hundertachzig Grad im Weg waren, verloren. Doch er spürte es nicht. Vielleicht, weil der Schmerz in ihm eine Grenze erreicht hatte, in der man ihn nicht mehr addieren konnte. Weit entfernt hörte er seinen Sohn schreien, dann war da nur noch dieses kratzende Geräusch. Und Bewegung. *** „…wir ha … ur no … ffee … da ...“ Rauschen. „… er … mit!“ Rauschen. „… Trink … nicht selbst …“ Sein Oberkörper wurde angehoben, doch sein Kopf sackte kraftlos in den Nacken. Seine Augenlider flatterten und öffneten sich langsam, eher, weil sie es wollten, nicht weil er es wollte. Dunkelheit tanzte zu Hitze und Kälte, die übelkeitserregend durch seinen Körper pochten. Helle Lichtblitze zogen wie Sterne durch sein Blickfeld. Zwei davon waren blau und sahen ihn an. Er versuchte, zurück zu sehen, doch bevor er seinen Blick fokussieren konnte, hatten sie sich von ihm abgewendet. NICHT HEUTE. Seine Augen brannten und er kniff sie zusammen. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern und wertete es als positiv – immerhin spürte er überhaupt wieder etwas. Es fiel ihm schwer, die Augen wieder zu öffnen. Ein Echo von leuchtender Dunkelheit und finsteren Sternen schwamm über seine Netzhaut und wurde zu einem Gesicht, das menschlich hätte sein können, wäre es nicht so hässlich gewesen. „Ich glaube, er ist wach, Fred.“ „Dann geben wir ihm das Zeug, bevor es sich ändert.“ Der Blick des Gesichts richtete sich auf ihn. Irgendwie sollte es mitleidig wirken, doch es erinnerte ihn zu sehr an eine makabere Fratze. „Besser, Du schluckst, Herr.“ *** Vor seinem inneren Auge leuchteten bunte Striche und erschufen größere Formen, Strukturen, Gebilde, ein mentales Bild, das er noch nicht in seiner Gesamtheit erfasst hatte. Wohin er auch sah, es war überall. Trotzdem schob er es nach hinten, ins Gedächtnis, oder versuchte es zumindest, während er durch das Loch in seiner Tür schritt. Der Zwerg – die Zwergin, verbesserte er sich beim Anblick ihres mehrschichtigen Rockgebildes – eilte mit strammen Schritt voraus. Er hätte nicht gedacht, dass jemand mit so kurzen Beinen so verflucht schnell sein konnte. Was geschehen war, hatte er – nein, sie – in einem Satz zusammengekürzt: Der Hauptmann Karotte habe plötzlich im Eingangsbereich gelegen und er sähe nicht so aus, als sei er nur betrunken. Mumm fluchte den ganzen Weg über. Scheinbar hatte Karotte ebenfalls gefunden, wonach sie gesucht hatten. Mit durchschlagendem Erfolg. Die schaulustigen Wachen öffneten zwischen ihnen einen Gang, nur einen Spalt weit, als sie ihn kommen sahen. Vielleicht auch nur wegen Detritus, der hinter ihm ging und den Boden mit jedem Schritt beben ließ. Die Zwergin jedenfalls musste sich quetschen und verschwand schließlich aus seinem Blickfeld. Die Tür stand offen. Durch diese sah er, dass die drei Männer, die Karotte getragen haben mussten, noch im Raum standen, ebenfalls zwei Zwerge, die vielleicht das Verbandszeug geholt hatten. Karotte selbst lag in seinem Bett, Fred Colon und Nobby Nobbs an seiner Seite – der eine hielt den Ärmsten aufrecht, der andere flößte ihm so lange eine Flüssigkeit ein, bis er hustete. „Er blutet, Herr“, begrüßte Fred ihn. „Irgendwas hat sich durch sein Kettenhemd gebohrt und durch das Fleisch darunter. Es sieht nicht tödlich aus, aber wir haben es verbunden und es kommt jemand her.“ Er durchquerte den Raum und setzte sich auf den Stuhl, den der Feldwebel freiwillig räumte, nachdem er den verwundeten Karotte zurück in die Kissen hatte sinken lassen. Dann blendete Mumm alles Unwichtige aus. Eine seiner Hände legte er auf Karottes Oberarm, was diesen dazu veranlasste, träge von Nobbys Gesicht weg zu sehen und sich stattdessen ihm zuzuwenden. Er war furchtbar blass, fand Mumm, so, als sei er mit der Wunde mehrere Kilometer gerannt. Vermutlich war er das auch. Seine Pupillen waren geweitet und an seinem Kinn lief ein Rest der braunen Flüssigkeit, die Nobby ihm einzuflößen versucht hatte, hinab. Es stank nach beißendem Kaffee. „Ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, nicht wahr?“ Karotte brauchte einen Moment, um zu nicken. „Drache“, murmelte er und Mumm musste genau hinhören, um alles zu verstehen, „...aus Ton, Herr.“ „Ziemlich groß, nehme ich an?“ „Riesig.“ Zwar nickte Karotte nicht, aber Mumm tat es für ihn. Und er machte sich Sorgen. Riesig. Karotte war riesig. Er zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass er einem Großteil der Bevölkerung Ankh-Morporks auf den Kopf hätte spucken können. Für Karotte war nichts „riesig“. Eigentlich war es oftmals eher zu klein, es sei denn, es richtete sich an Trolle von Detritus' Ausmaß. Wenn Karotte etwas als riesig bezeichnete – er schluckte hart. Der Gedanke in seinem Kopf hob drohend den mentalen Pinsel. Eine Frage musste er noch stellen, bevor er seinem Kollegen die wohlverdiente Ruhe würde gönnen können: „Kannst Du mir sagen, wo es war, bevor Du ihm entkommen bist?“ Der Mann schwieg lange. Nicht im Sinne von nicht-mehr-wissen-lange sondern von füge-hier-die-nötige-Kraft-ein-lange. Und so gern Mumm auch aufgesprungen und losgestürmt wäre – irgendwer hetzte hier riesige Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster auf seine Leute! – er wusste, dass das so noch nicht ging. Darum ignorierte er auch Nobbys und Freds drängende Blicke. Schließlich sprach Karotte. Nur ein einziges Wort. „Dunkelgasse.“ Es genügte ihm. Er suchte noch einmal Karottes Blick und drückte seinen Arm kurz. „Ich kümmere mich darum.“ Alle weiteren Worte wären zu viel gewesen, das wusste er und das wusste Karotte auch. Vorsichtig stand er auf und rückte sich den Helm zurecht. „Fred, Nobby, sorgt dafür, dass Karotte den Arzt überlebt. Ich werde euch später brauchen, bis dahin bleibt hier.“ Die Angesprochenen salutierten, ohne sich zu bewegen. „Und was machst Du, Herr?“ „Ich finde das letzte Detail.“ *** Samuel Mumm hatte nicht vor, sich aufschlitzen zu lassen wie eine Dose Sardinen. Jetzt nicht nur frustriert, sondern zudem sehr, sehr wütend, stapfte er zurück ins Erdgeschoss – und kam nicht weit. Wieder wurde die Eingangstür aufgerissen und eine neue Hiobsbotschaft stürmte ins Innere, diesmal in Form des Sohns von Bringbunteslicht. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich einfach nur umdrehen und gehen sollte. Dann war der Moment, in dem er diese Entscheidung hätte treffen können, vorüber und der Bengel hing an seinem Wams. „Das Drachnich hat meinen Vater!“, plärrte er ihm entgegen und versuchte, ihn in Richtung Tür zu ziehen. „Das Drachnich hat meinen Vater!“ Er musste nicht fragen, was ein Drachnich war – er hatte eine gewisse Ahnung. Der Gedanke setzte den mentalen Pinsel ab, trat zurück und betrachtete sein Werk. Mumm nickte dem Jungen zu. Es war nicht die Zeit, ihn in eine Zelle zu sperren und so zu tun, als hätte er es mehr verdient, als der werte Herr Vater, auch wenn er unter anderen Umständen durchaus ein gewisses Interesse daran gehabt hätte. „Wo?“ Der Junge, anscheinend verdattert davon, dass der Kommandeur der Stadtwache ihn nicht abschüttelte und auch nicht nach ihm trat, obwohl er so aussah, als würde er es gerade äußerst gerne tun, ließ los. „Wir waren auf dem Heimweg!“ „Bleib hier.“ Er drehte sich um und rannte zu seinem Büro. *** Zettel flogen durch die Luft. Ein Disorganizer flog hinterher und beschwerte sich lautstark. Dann hatte Mumm, was er suchte. Es war nur eine einfache dreiseitige Liste. Eigentlich hatte er sie schon wegwerfen wollen, aber er glaubte sich daran zu erinnern, dass ein Gedanke, der um Einlass bettelte, ihn davon abgelenkt hatte. Wäre dieser nicht so verflucht penetrant gewesen, würde er sich jetzt bedanken. Stattdessen blätterte er zwischen den einzelnen Seiten hin und her, bis er sah, was er suchte. Eilig sprang er auf, obwohl er schon stand, stolperte bei der Landung fast und verließ sein Zimmer. Er konnte das Bild sehen. Klar und deutlich, als stünde es direkt vor ihm. *** Raphaeleo drückte sich in die hinterste Ecke, die er in der Eingangshalle hatte finden können. Vielleicht war es nicht seine beste Idee gewesen, gerade hier Hilfe zu suchen. Aber sie hatten auch dem Stinktier geholfen. Gut, es wäre ihr gutes Recht gewesen, ihm nicht zu helfen, immerhin hatte er seinem Rattschu gesagt, es solle dem Stinktier mal zeigen, was es so kann. Nur wusste er nicht, wen er sonst um Hilfe hätte bitten sollen. Sicher, er wäre auch nach Hause gerannt, aber zwischen ihm und seinem Zuhause saß ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster von der Größe eines kleinen Hauses und fraß vermutlich gerade seinen Vater – oder was Drachnichs eben so taten, er selbst hatte ja nie eines gehabt und die Kämpfe, die er gesehen hatte, waren alle ziemlich schnell vorbei gewesen. Und es war ja nicht so, dass die Wache ihm nicht half – wobei er ein wenig das Gefühl hatte, dass dieser Kommandeur Mumm vor allem sich selbst half und weniger ihm, so als sei er nur ein kleines Puzzleteil eines größeren Ganzen – aber genau da lag ja das Problem, denn wie sie ihm helfen wollten, machte ihm Angst. Kurz nachdem dieser Mumm ihn einfach hatte stehen lassen, war er mit einer Liste zurückgekehrt und er hatte seltsam zufrieden gewirkt. Seitdem summte der Bau mit dem Kommandeur in der Mitte. Mehr als einmal musste sich Raphaeleo flach auf den Boden werfen, wenn er sich in der Bahn eines Trolls befand. Dann brach eine kleine Gruppe, bestehend aus Kommandeur Mumm, einem ziemlich dicken Kerl, einem ziemlich hässlichen Kerl und mehreren Trollen, auf. *** (32) Auch, weil diese weder seine Kaffeekanne noch seine Tassen zerstört hatte. (33) Weil seine Kollegen ihm den Fluchtweg in die Sicherheit der Menge abschnitten. (34) Würde dieser Schalter dauerhaft auf „an“ stehen, wäre Fred jetzt kein Feldwebel der Wache, sondern Kommandeur – es war besser für alle Beteiligten, dass er es nicht tat. (35) Bereits wenige Stunden später würden alle Beteiligten der festen Meinung sein, sie hätten nichts gesehen, nichts gehört und nichts getan, allen voran Fred Colon selbst. Es war zum Wohle aller. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)